In Protzendorf beim Bauer Strohkopf

[32] Wo aber war das Kasperle hingelaufen? Das war in Fritzles Hose und Peterles Jacke vergnügt in den Wald gerannt, froh über seine neue Freiheit. In seiner Freude vergaß der Strick alles Gute, was er im Waldhäuschen gehabt hatte, und er beschloß, in die weite Welt zu wandern. Und weil er wußte, daß auf den Straßen, die nach Schönau und Lindendorf führten, manchmal Menschen daherkamen, die das Waldhaus besuchten, rannte er den Weg nach Protzendorf entlang. Der wurde von den Bewohnern der anderen Orte gemieden, und der Ausreißer traf auch wirklich an diesem schönen, sonnigen Tag keinen Menschen darauf. Vor Freude über das Gelingen seiner Flucht begann er auf dem Wege Purzelbäume zu schlagen. Wie eine Kugel rollte er die Straße entlang, und beinahe wäre er so nach Protzendorf hineingepurzelt. Doch da lag ein großer Stein auf dem Wege; an dem stieß sich Kasperle, es krachte ordentlich, und ein Weilchen blieb der kleine Kerl erschrocken liegen. Doch der Stein sagte nichts, es kam auch niemand, da rappelte sich Kasperle auf und sah sich um. Vor ihm, ein wenig tiefer im Tale, lag Protzendorf. Stattlich und wohlhabend sah es aus, aus den Kaminen stieg Rauch empor, denn die Protzendorfer Bäuerinnen backten alle ihre Pfingstkuchen.

Kasperle reckte seine große Nase in die Luft und schnupperte. Hm, das roch fein! Und gleich fühlte es auch ein gewaltiges Rumpeln in seinem Mäglein, und es sperrte seinen übergroßen Mund auf wie ein junger Rabe seinen Schnabel. Doch es fiel keiner Protzendorfer Bäuerin ein, etwa zu kommen und dem Kasperle frischen Kuchen zu[32] bringen. Das gab es nicht. Kasperle seufzte zwar sehr, schließlich aber stand es doch auf, reckte und streckte sich und trabte dann ins Dorf hinein.

Der dicke Bauer Matthias Strohkopf, der reichste Mann von Protzendorf, hatte an diesem Tag früh Feierabend gemacht. Er tat das oft, denn er war so faul, daß selbst die Protzendorfer, die alle ein bißchen träge waren, ihn den »faulen Matthias« nannten. Der Bauer saß vor seiner Haustüre, neben sich auf einem Tisch hatte er sein Vesperbrot stehen. Er stopfte gerade ein Butterbrot in den Mund, und dazu blickte er auf einen Teller mit frischen Kuchen, die seine Frau ihm just gebracht hatte.

Da kam das Kasperle anspaziert. Es sah den dicken Bauern und die frischen Kuchen, und da besann es sich nicht lange, lief herzu und steckte, eins, zwei drei!, ein Stück in den Mund und noch eins, und ehe der Bauer Strohkopf sich von seinem Erstaunen erholt hatte, war der halbe Teller leer gegessen.

Potztausend noch mal! So etwas war dem Bauern sein Leben lang noch nicht widerfahren. »Du Frechdachs!« schrie er, hob seine dicke Hand und wollte Kasperle schlagen.[33] Doch Kasperle, nicht faul, sprang über Tisch und Bauer hinweg und blieb ein paar Schritt entfernt auf der Erde sitzen. »Ich hatt' so argen Hunger!« klagte es und schnitt dabei ein so jämmerliches, verschmitztes Gesicht, daß der »faule Matthias« trotz seinem Ärger lachen mußte. So einen wunderfitzigen, schnurrigen kleinen Kerl hatte er noch nie gesehen. »Woher kommst du denn?« schrie er ihn an.

Da rutschte Kasperle auf Fritzles Hosenboden ein Stückchen näher und klagte: »Von weit, weit, weit her! Bin ein armes, verlassenes Büble, hab' niemand mehr auf der weiten Welt.«

Und so kläglich sah dabei das schlimme Kasperle drein, daß der dicke Bauer ganz gerührt wurde. Er brummte zwar: »Das ist doch kein Grund, um anderen den Kuchen wegzufressen«, aber er winkte doch mit der Hand, Kasperle solle näher kommen.

Der kleine Strick kam auch heran. Er ließ die Nase hängen, als könnte er nie ein Wässerlein trüben. Doch wie seine kleinen schwarzen Spatzenaugen glitzerten und funkelten, das sah der Bauer Strohkopf nicht. Der sagte gnädig: »Du bist zwar vorhin sehr frech gewesen, doch will ich dir's nicht nachtragen. Ich brauche gerade einen Gänsejungen, dazu will ich dich meinetwegen anstellen. Gelt, das hättest du dir nicht träumen lassen, daß der reiche Strohkopf dich aufnimmt?«

Da sperrte Kasperle nun wirklich seinen Mund wie ein Scheunentor auf, denn was ein Gänsejunge war, das wußte es nicht. Es sagte nicht ja und nicht nein, und der dicke Bauer fragte auch nicht weiter. Der dachte, wenn einer als Gänsejunge zum Strohkopf kommt, der kann froh sein. Und weil gerade sein Großknecht Florian aus dem Hause kam, rief er ihm zu: »Florian, wir haben einen neuen Gänsejungen. Da, nimm ihn mit!«

Der gute Florian tat seinen Mund eigentlich nur zum[34] Essen auf. Er dachte auch: Mit einem Gänsejungen macht man nicht viel Umstände. Und schwipp, schwapp!, packte er Kasperle beim Genick und zerrte es zum Gänsestall, schloß diesen auf, brummte: »Da!«, schob Kasperle hinein und schloß die Türe hinter ihm zu. Die müssen sich erst kennenlernen, dachte Florian; bis zum Nachtessen haben sie Zeit dazu.

Da saß nun Kasperle im Gänsestall, und seine weißen und grauen Schützlinge umringten es schnatternd. Das gefiel dem kleinen Kerl ganz und gar nicht. In einem Gänsestall war er noch niemals gewesen, und als die Gänse ihre Schnäbel so weit auftaten und gar so arg schnatterten, begann er sich zu fürchten. Er schnitt fürchterliche Gesichter, und weil die Gänse auch noch nie ein lebendiges Kasperle gesehen hatten, kam ihnen der Gast in ihrem Stall höchst sonderbar vor. Sie schnatterten immer lauter, dem Kasperle wurde es himmelangst, und es sah sich nach Rettung um. In einer Ecke des Stalles stand ein hohes Gestell, wie ein Schrank sah es aus, und Kasperle, nicht faul, schwang sich hinauf. In den einzelnen Fächern des Gestelles aber saßen dicke, brave Gänse auf ihren Nestern und brüteten. Die erschraken nun gewaltig, als Kasperle ihren Nesterschrank erkletterte. Zischend fuhren sie von ihren Nestern auf, Kasperle erschrak und hielt sich an dem leichten Gestell fest. Das wankte, und pardauz! fiel es um. Da lag Kasperle, da lagen Nester und Eier, und zischend und schnatternd fuhren die Gänse wütend auf Kasperle los. So etwas! Sie beim Brüten zu stören, das war doch unerhört! Zwack, biß eine Kasperle ins Bein, zwick, die andere ins Ohr, zisch, hieb eine ihm mit dem Schnabel über die Nase. Kasperle brüllte, die Gänse schnatterten lauter und lauter – es war ein Höllenlärm.

»Jemine, was ist im Gänsestall los?« rief draußen auf dem Hof die Magd Karline. Sie dachte: Es ist vielleicht gar ein Marder eingebrochen, und rasch rannte sie herbei,[35] schloß die Türe auf und sah in allem Wirrwarr das schreiende Kasperle auf dem Boden sitzen. Seinen Mund hatte es ungeheuerlich weit aufgerissen, und Karline klappte erschrocken die Türe zu. »Ein Kobold, ein Kobold ist im Gänsestall!« schrie sie draußen.

Der Lärm hatte die Bäuerin herbeigelockt, Berta, die Jungmagd, kam an, Florian lief herzu, und der stürzte in den Gänsestall hinein und zerrte das schreiende Kasperle heraus.

»Herrje, was ist das?« rief die Bäuerin. Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen, und Berta kicherte in ihre Schürze hinein. »Wie der aussieht!« sagte sie.

»Ein Kobold ist's, ein Popanz!« kreischte Karline.

»Nä, unser neuer Gänsejunge ist's, und jetzt kriegt er Haue«, brummte Florian. Und klitsch, klatsch schlug er auf Kasperle ein. Ein Spaß war es nicht, wenn Florian zuschlug. Kasperle verging Hören und Sehen, es brüllte ganz mörderisch, und endlich kam auch der dicke Bauer selbst herbei und wollte wissen, was geschehen war. Da redeten seine Frau und die drei Mägde durcheinander, Kasperle kreischte, im Stall schnatterten die Gänse, Florian aber zeigte nur auf den Stall. »Nachsehen!« brummte er. Und klitsch, klatsch, klitsch, klatsch prügelte er weiter auf Kasperle los, bis die Bäuerin ihm endlich den Kleinen entriß. »Du zerschlägst ihn ja ganz!« schrie sie.

»Der hat's verdient!« knurrte Florian.

»Ja, zum Kuckuck, der hat's verdient!« schrie der Bauer Strohkopf. Er hatte inzwischen im Gänsestall gesehen, was Kasperle angerichtet hatte, und er wollte auch schon draufhauen. Doch die Bäuerin hielt mitleidig seine Hand fest, ihr tat das arme Kasperle leid. Und dem dicken Bauern erging es wieder sonderbar. Als der dem Kasperle so recht in sein betrübtes Gesicht sah, legte sich sein Ärger, ja, er mußte lachen; das Kasperle sah zu drollig aus; selbst Florian grinste.[36]

Das arme Kasperle mochte seinen Rücken noch so viel reiben und noch so betrübt seufzen, es wurde nur ausgelacht. Da mußte es an Liebetraut denken; die hätte jetzt nicht gelacht. Kasperle ließ die Nase hängen und folgte still der Bäuerin ins Haus, und als ihm drinnen ein so gutes Düftlein von frischem Kuchen entgegenkam, da wurde es gleich wieder vergnügt. Heißa, es war doch ganz fein beim reichen Bauer Strohkopf, und das Gänsehüten war gewiß auch nicht so schwer!

Beim Abendessen saß der neue Gänsejunge in der großen Wohnstube ganz unten am langen Tisch. Oben saßen der Bauer und die Bäuerin, neben ihnen Florian, dann kamen Karline und die andern Knechte und Mägde. Sie waren alle fleißig gewesen und dachten jetzt eigentlich alle nur an das Essen. Erst sah keiner den neuen Gänsejungen an, bis Berta plötzlich leise lachte. Da blickte der Paul neben ihr auf, und er sah unwillkürlich auch den neuen Gänsejungen an. Nein, so ein spaßiger Kerl, wie das war! Paul lachte ganz laut, und da blickten auch Karline und Mine auf, und alle sahen Kasperle an, wie es seinen Mund auf und zuklappte, und mit einem Male lachten alle am Tisch, am lautesten aber lachte der dicke Bauer selbst. Und kaum merkte Kasperle, daß alle seinetwegen lachten, fing es flink an, Gesichter zu schneiden. Es zappelte auf seinem Stuhl hin und her und kasperte, bis sogar der schweigsame Florian mitlachte. Die Bäuerin bekam Angst, dem Bauer könnte der Bauch platzen, so sehr lachte der. Sie mahnte ein paarmal: »Hör auf, lach dich nicht krank!« Aber dann lachte sie selbst wieder laut und lauter. Zuletzt fiel Karline unter den Tisch, und Paul purzelte mit seinem Stuhl um. Da nahm Florian Kasperle am Jackenzipfel und rief: »Jetzt ist's genug für heute, sonst platzt wirklich noch jemand!« Und Florian zog Kasperle aus der Stube, brachte es in eine kleine, kleine Kammer, die ein vergittertes Fensterlein hatte und in der gerade Platz für ein Bett war.[37] Kasperle durfte hineinkriechen; das tat es gern, und es kümmerte sich gar nicht mehr darum, daß Florian brummte: »Morgen mußt du Gänse hüten!«

»Rrrrrrrr!« Florian drehte sich erschrocken um. Was war denn das auf einmal? »Rrrrr!« klang es wieder, und nun merkte Florian: Der neue Gänsejunge war es, der so schrecklich schnarchte. »Nein! So etwas«, brummelte Florian und schüttelte den Kleinen, konnte aber soviel rütteln und schütteln, wie er wollte, Kasperle schnarchte nach Kasperleart wie eine große Säge: »Rrrrr! Rrrrr!«

»Hol ihn der Fuchs! Mit dem ist's nicht richtig«, knurrte Florian. Und er verriegelte sorgfältig die Kammer; er traute dem Kasperle nicht recht und dachte bei sich, der Bauer hätte auch einen andern Gänsejungen annehmen können.[38]

Quelle:
Herold Verlag, Fellbach, 1985, S. 32-39.
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