An die Ruhe

[58] Himmels-Tochter aus dem Paradiese,

Zu uns Sterblichen herab gesandt,

Die ich einst verklärt in Eden grüsse,

Ewig wall' ich dort an deiner Hand!

Dir lieg' ich schon hier entzückt am Busen,

Mich durchbebt des Himmels Vorgefühl;

Deinem Säuseln nahen sich die Musen,

Tönet leicht der goldnen Harfe Spiel!


Wo du weilest, wohnet stiller Friede,

Fühlt man mehr der Menschheit hohen Werth,

Wird man bald der flücht'gen Freuden müde,

Die der Weise, ach! so gern entbehrt!

Lieber wohnest du in stillen Gründen,

Mit des Friedens holdem Glück vertraut,

Unterm Blüthensäuseln duft'ger Linden,

Als in Tempeln, die die Freude baut!


Wohntest einst an jener Silberquelle

Wo Petrarcha sich unsterblich sang,

Maltest Laura's Bild in jede Welle,

Die ins stille Thal vom Felsen drang.

Heil dem Edlen, dem dein süsser Frieden

Ueberall des Lebens Freuden krönt!

Selig, wenn dem armen Lebensmüden

Sanft dein letzter Gruss entgegen tönt!
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Innigst lieb' ich dich, o theure Holde!

Meiner höchsten Wünsche Ziel bist du;

Meinen öden Lebenspfad vergolde,

Leichter wall' ich dann dem Tage zu,

Wo mein Geist, befreit von allen Mängeln,

Meinem Schutzgeist in die Arme sinkt,

Wenn er freundlich einst umringt von Engeln,

Mir zu meinen längst Geschiednen winkt;


In Gefilde, wo voll reiner Triebe

Sich Geliebter an Geliebte schliesst,

Wo im ew'gen Jubelbund der Liebe

Nur der höchsten Wonne Zähre fliesst:

Walle bald in deiner höchsten Klarheit,

Du, mein Genius! zu mir heran;

Führe mich zur Quelle, wo die Wahrheit

Strömt nach ewiger Gesetze Bahn;


Dass ich trinke aus der laut'ren Quelle,

Der mein Geist voll Wissensdurst sich naht;

Dass ich schwebe zu des Thrones Schwelle,

Auf des Himmels lichtumflossnem Pfad,

Und nach muthig hier erkämpftem Siege,

Alles Irrdischen nicht mehr bewusst,

Sonnen und Planeten überfliege,

Im Entzücken reiner Götterlust.

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 58-60.
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