17. Weiße Frauen.

[22] Mündlich.


An der Nordseite des Dorfes Mötzlich, eine Stunde von Halle, liegt ein großer Stein, von welchem ein Rain zu dem benachbarten Dorfe Tornau führt. An diesem Rain sieht man oft in der Abenddämmerung und Nachts zwischen elf und zwölf eine ganz weiß gekleidete Frau auf und ab gehen, welche im ganzen Dorfe als »die weiße Frau« und »die verwünschte Prinzessin« bekannt ist und oft die Vorübergehenden mit kläglicher Stimme angerufen hat, sie möchten sie doch erlösen. Läßt man sie ruhig gehen, so thut sie Niemand Etwas zu Leide; doch wer sie verspottet oder sonst wie erzürnt, neben dem steht sie[22] plötzlich und haucht ihn an, und dann wird er von schwerer Krankeit befallen.

Eine weiße Frau geht auch in der dölauer Heide um: nach Andern aber ist eine Prinzessin in die Heide verwünscht und zeigt sich bisweilen in schwarzem Kleide mit weißer Schürze, hoher, weiß- und schwarzgewürfelter Mütze und mit einem Schlüsselbunde am Gürtel. – In einem Gehölz bei Löbejün sieht man bei Nacht oft zwei weiße Frauen, von denen eine ein Schlüsselbund trägt, mit einander gehen, und vor ihnen her schwebt ein Licht. – Auf dem Winkel in Wettin, dem Stammschlosse der Könige von Sachsen, geht die weiße Frau noch manchmal in einem Gange auf und ab: früher erschien sie stets kurz zuvor, eh Jemand aus dem sächsischen Königshause starb; auch kam sie am Morgen und Abend zu den Mägden in den Stall und half ihnen melken.

Quelle:
Emil Sommer: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen 1. Halle 1846, S. 22-23.
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