Achtes Bild


[291] Ein Hain hoher Buchen in schimmernder Sonne. Eine Anhöhe hebt sich in der Mitte auf, Säule um Säule besteht auch sie der Wald. Hinter den Stämmen dehnt sich sonnenerfüllter Himmel blau. Die jubelnd klare Stimme des heiligen Erzengels Michael ertönt von den Lüften.[291]


DIE STIMME DES HEILIGEN ENGEL.

Heiliger Schild ist gesalbt, heiliges Schwert ist gefacht,

Heilige Erze

Hüllen in schimmernden Turm, hüllen in blitzenden Sturm

Himmlische Heerschar.

Sonnhoher Himmel greift an, heimliche Sonne greift ein

In die Geschicke.

Düsterter Spruch wird gebannt, sündhafter Bruch wird bekannt

Durch die Äonen.

Singendes Heil bleibt gegrüßt, heilendes Glück leicht begrüßt

Brünstige Burg uns.

Über Verwüstung der Christ, schimmernder Gütiger ist

Jahwe-Messias.


Der Sang wird still. Sogleich darauf betritt der heilige Michael zwischen den Stämmen die Anhöhe. Da der Hain Buchen nur schmal ist, erblickt man die Erscheinung deutlich in der herrlichen Silberrüstung mit dem Schilde, mit dem entblößten Schwerte, mit dem goldenen Haupthaar, das unter dem Helm dicht hervor quillt. Der heilige Engel, das Schwert griffbereit in seiner Rechten, hält und sieht in das All.


DER HEILIGE ENGEL.

O Vater, Sohn und Geist der heiligen Liebe,

Gericht zu üben habt Ihr mich gesandt.

Ich sehe tief in Tiefen die Verwüstung,

Auf heiliger Erde Blut und Rauch und Schwert.

Zersplissen dürsten einstige Altäre

Noch nach dem heiligen Blute, das sie netzte:

Dem Blut des Sohns, der Sich der Macht entblößte

Und Sich am Holze Welt zum Opfer gab.

Ich faß mein himmlisch Schwert, ich greif zum Schilde.

Der Untat Einhalt zu gebieten, wenden

Soll ich das Übel düsterster Gewalt.

Wie füg ich es zur Ehre Gottes wohl

Am leuchtesten? Soll ich den Kampf beginnen,

Erscheinend blinkend über Tempels Zinne?

In die Posaune schmetternd zum Gericht?[292]

Doch Gottes Sproß selbst zog es vor, verhüllt

Die Erde zu befreien, ohne Schwertstreich,

In eines Menschen Armut blaß und bloß.

Noch ist des Kampfes Stunde nicht. Der Heertag

Schlug noch nicht in den Himmeln. Also wie

Entledige ich meines Auftrags mich?


Stille.


In der Dreifaltigkeit seh ich die Güte,

Die sich verherrlicht durch des Niedrigsten

Beruf und Wahl. Je gänzlich einer Staub ist,

Hilflose Ohnmacht, weinendes Geschöpf,

Nur um so inniger, inbrünstiger

Neigt Christus Sich ihn gänzlich zu erfüllen.

Und weil denn Jesus selbst zum Staub vor Jahwe

Sich niederte, weil Er entblößt Sich gab

In Seiner Feinde Hand, so will auch ich

Durch Unscheinbarkeit mir den Sieg erringen

Zu größerem Triumph. Denn Christus siegt

Nur um so herrlicher, je ärmer Er

Sich ließ besiegen aus der Güte Gut.

Die Güte, die Ihn kreuzigte, hebt auf

Den Auferstandenen in ewigen Himmel,

Weil Güte nur mit Güte sich bezahlt,

Weil Güte Gott ist. – Daher neig ich mich,


Er senkt sich in das Knie.


Und eines Knaben innigen Scheitel küß ich

Durch gütigen Anhauch. So arm wie dieser ist

Nicht leicht ein andrer arm. Aus Samen Luthers,

Aus seines Abfalls blutiger Umnachtung

Steigt auf dies Kind. Er weiß nicht aus, noch ein.

Von Elternlippe kam ihm nie die reine,

Die unverfälschte Lehre ewigen Heils.

Sein Herz schlägt in der Brust sehnsüchtig wund.

Er dürstet. Hungert. Sucht. Kein Freund, kein Helfer,

Der mit Verständnis ihn zur Krippe führte,

Wo Jesus Brot ist. Er steigt zu den Menschen,

Sucht hilfeheischend wissender Augen Paar.

Abtrünnige bereden ihn mit Abfall,

Wollüstige mit Wollust, alle Welt[293]

Reicht ihm den Stein, und er wird nicht zum Brot.

Brot hofft sein Herz. Er fliegt zu allen Sternen,

Späht in der Krater Glut nach einem Bissen

Und in der Meere Tief nach einem Trunk.

Krater bleibt Stein, und Meer bleibt Wogenschwall.

Er spricht: »So sterbe ich den hungrigen Tod.«

In leerer Wüste leer dehnt er die Arme:

»O Sehnsucht meines Herzens, trogst du mich?

Was ich gesucht, wird es denn niemals Fund?

Find meinem Herzen ich nicht eine Stätte?«

Und so mit Auge, das in Inbrunst schwimmt,

Nur Herz, nur Hunger, sehnt er sich empor,

Bereit zu sterben. Wer war ärmer arm?

Drum, Jahwe, Du verstattest die Berührung.

Mit meinem heiligen Schwert


Mit einer leisen Bewegung des Schwertes in die Tiefe hin.


berühr ich dich,

O Mensch, in Christi Kreuzes heimlichem Zeichen,

Lehre selige Auffahrt, lehr himmlische Glut!

Bitt für dein Volk, das sich dem Tod verschrieben,

Bitt für das Volk, das sich dem Abfall bot!

Besiege selbst den Abfall; aus der Tiefe

Aufklimmend, leide alle Leiden mit,

Die Christus litt in Luthers grausiger Tat!

So wirst du einst ein Fürsprech gut im Himmel,

Denn Armut rühret den gewaltigen Sohn.


Er erhebt sich und schwindet.


DIE STIMME DES HEILIGEN ERZENGELS MICHAEL hoch aus der Höhe.

Ewiger Sang haftet fest, seliger Klang haftet fest

In düstrem Erdreich.

Neigt sich der früchtige Stamm tief in die süchtige Klamm,

O Jesu Wunder!


Zu der süß und mächtig anwachsenden Helle dringt.


DAS LIED VEREINIGTER HEERSCHAREN.

Heiliger Krieg ward erweckt, schmetternder Sieg bleibt gereckt,

Himmlische Inbrunst[294]

Wird über düsterster Nacht, wird über finsterster Macht

Helle Posaune.


Tönender Jubel hebt an, strömender Trubel weht an,

Hoch durch den Himmel

Hallt zu des Heilands Gericht, hallt zu des Sehers Gesicht

Heilige Stimme.


Chöre von glänzendem Gold, Chöre von blendendem Hold,

Chöre der Geister

Wirbeln im blinkenden Reihn, feiern in duftigen Weihn

Christus den Meister.


Höllischer Drache zerbirst, höllische Mache erstirb,

Höllische Gifte

Heiliger Engel erstickt, heilige Jungfrau zertritt,

Ave Maria!

Fußnoten

1 Ezechiel IX.[295]


Quelle:
Reinhard Johannes Sorge: Werke in drei Bänden. Nürnberg 1964, S. 291-296.
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