Die Näscherinnen und das mäßige Kind.

[110] Louise naschte gern. Nichts war vor ihr sicher und alle Warnungen und Strafen der Mutter waren vergeblich. Einst fand sie einen Teller, in welchem sich etwas Flüssiges befand. Sie war sogleich bereit zu[110] untersuchen, ob es nicht süß und für ihr Leckermäulchen tauglich sei. In der That war auch der Geschmack des Wassers sehr angenehm, und sie leerte fast den ganzen Teller aus. Nach einer kleinen Weile bekam sie Uebelkeiten, einen starken Schwindel, und ein heftiges Erbrechen. Die erschrockenen Eltern sandten zum Arzte, welcher fand, daß sie etwas giftiges zu sich genommen haben müsse. Sie bekannte sogleich ihr Vergehen, und es fand sich, daß auf dem Teller Fliegengift befindlich war, das, um die Fliegen herbeizulocken sehr gesüsset worden. Mit Mühe entkam Louise noch dem Tode, behielt aber für ihre ganze Lebenszeit einen geschwächten, siechen Körper. – Eine andere Kleine, ihr Name war Marie, hatte ebenfalls diese sehr böse Gewohnheit an sich. Dadurch ward sie aber kränklich und bleich, denn da ihr Magen immer mit allerlei Süssigkeiten und Leckereien angefüllt war, konnte er, dadurch geschwächt, nicht gehörig das Geschäft der Verdauung verrichten. Sie bekam Würmer, schlechte Zähne, eine üble Gesichtsfarbe. Mit einem Worte, die Strafe, die dem Laster so wie der üblen Gewohnheit immer nachfolgt, blieb bei ihr nicht aus. Desto frischer blühte ihre Schwester Elise, die mäßig und ordentlich lebte. Wenn sie gefrühstückt hatte, fiel es ihr nicht ein etwas zu naschen[111] oder zu essen und so sich den Appetit zum Mittagsessen zu verderben. Bei Tische aß sie sich satt, ohne sich eine Speise auszuwählen, und dachte nicht daran gleich Marien, bis zum Abendbrod immer etwas eßbares haben zu müssen. Darum war sie auch gesund, munter, lustig, und Marie träge, verdrüßlich, übelgelaunt. Welches von diesen drei Mädchen handelte wohl am weisesten?

Quelle:
Karoline Stahl: Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Nürnberg 21821, S. 110-112.
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