16. Die Schönheit wird durch die Liebe entthront

[34] Wir lernen oft Frauen kennen, die unsre Geliebte an Schönheit übertreffen. Sie können dem Ideal der Schönheit[34] nahe stehen, und doch ziehen wir ihnen die Geliebte vor. Ist das denn wunderlich? Die Geliebte verspricht uns ja hundertmal mehr Glück. Selbst kleine Mängel, wie eine Blatternarbe im Gesicht, haben auf einen liebenden Mann eine rührende Wirkung und versenken ihn tief in Träumereien, schon wenn er jenes Zeichen an einer fremden Frau bemerkt. Wie erst an der Geliebten selbst? Hat er doch tausend Empfindungen angesichts dieser kleinen Narbe durchlebt. Es waren zumeist herrliche Empfindungen und immer von höchster Bedeutung für ihn. Sie treten mit schier unglaublicher Lebendigkeit von neuem auf, sobald er jenes Merkmal wiedererblickt, sei es auch nur im Gesicht eines fremden Weibes.

Wenn man so selbst die Häßlichkeit vorzieht und liebt, wird in solchen Fällen eben Häßlichkeit zur Schönheit. Die Schönheit ist nur ein Versprechen des Glückes. Das Glück eines Hellenen war grundverschieden von dem eines modernen Menschen. Das lehrt uns schon der Vergleich zwischen den Augen der Mediceischen Venus und denen der Magdalena von Pordenone (in der Villa Sommariva).

Jemand liebte leidenschaftlich eine sehr magere Frau mit einer Blatternarbe. Der Tod entriß sie ihm. Drei Jahre später machte er in Rom die Bekanntschaft zweier Damen, von denen die eine bildschön, die andere mager und blatternarbig, also recht häßlich war. Ich beobachtete, wie er nach Verlauf von acht Tagen die Häßliche liebte. In Erinnerung an seine frühere Geliebte übersah er ihre Häßlichkeit. Und in leicht verzeihlicher Gefallsucht brachte es die Häßliche zuwege, ihm das Blut ein wenig in Wallung zu bringen, was in solchen Fällen recht vorteilhaft ist. (Wenn nämlich jemand der Liebe einer Frau sicher ist, fängt er an, Betrachtungen anzustellen,[35] ob sie hübsch ist oder nicht. Solange er über ihre Gegenliebe noch im Zweifel ist, hat er keine Zeit, an ihre äußere Schönheit zu denken.)

Ein anderer lernt eine Frau kennen, durch deren Häßlichkeit er anfangs abgeschreckt wird. Nach und nach läßt ihn ihre Bescheidenheit und der Ausdruck ihrer Züge die Fehler ihres Gesichts vergessen. Er findet sie liebenswert und gibt die Möglichkeit zu, sie lieben zu können. Acht Tage später hofft er, sie zu gewinnen; nach weiteren acht Tagen zerstört sie ihm diese Hoffnung, und wieder acht Tage darauf ist er in sie vernarrt.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 34-36.
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