10. Scheiden bringt Leiden

[100] 1.

Ich bin mein Tage so mit Schmerzen/

mit Ungedult und weichem Herzen

von iener Stat nicht abgereist.

Nu ich auff wenig wenig Tage

der süssen Gegend Abschied sage/

verwirrt sich Herze/ Muht und Geist.


2.

Ich bin ia nicht so hoch empfangen/

nicht so auff weichen Rosen gangen/

mit Gold' und Silber nicht beschenkt:[100]

daß ich mich sollte drum zu sehnen/

mich so zu Leid und Angst gewehnen.

Ein anders ist es/ das mich kränkt.


3.

Wo du es/ Fama/ nicht willst sagen/

mich durch die Mäuler nicht willst tragen/

will ich es wol vertrauen dir:

Es ist Melinde/ meine Schöne/

wornach ich mich so hefftig sehne/

diß eine/ dieses mangelt mir.


4.

Melinde/ Ach! du liebe Seele/

wie hefftig ich mich um dich queele/

so bringt es dir doch mehr Verdruß.

Ich weiß es daß viel tausend Stähnen/

viel tausend Seuffzer/ Leid und Trähnen

mein Scheiden dir erwekken muß.


5.

Was helffen mich nunmehr die Küsse/

die du/ Melinde/ mir/ du süße/

du Zukker-kind/ gegeben hast?

Nun sind es Würme/ die mich nagen/

nun sind es Pfeile die mich plagen.

Ach Lust! wie wirstu so zur Last.


6.

Wo etwas nicht mich armen Kranken/

enthielt die Freude der Gedanken/

und ich auff Hoffnung nicht gedacht.

ich hätte mein verhaßtes Leben

auch vor dem Tode Preiß gegeben

und mir den Garauß selbst gemacht.
[101]

7.

Wie hundertmahl denk' ich der Stunde/

da ich/ Melind'/ an deinem Munde/

mit halb zerteiltem Geiste lag.

Erinnerstu dich wie vor allen

nur der mir wolte wolgefallen/

wie ich ihn offt zu rühmen pflag.


8.

Warum hastu denn nicht/ Mein Leben/

mir nu dein Mündchen mit gegeben?

diß wäre mir ja noch ein Trost.

Umsonst. Ich muß es alles meiden/

der Himmel zwinget uns zu scheiden.

das Glükk ist allzusehr erboost.


9.

Ists müglich: daß es soll geschehen/

daß ich [dich] werde wieder sehen/

wie glükklich soll mir sein die Zeit.

Laß krösen den mit Golde laben

und ienen stehn durch Rom erhaben:

ich werde höher sein erfreut.


Des vierten Zehens Ende.


Quelle:
Kaspar Stieler: Die geharnschte Venus, Stuttgart 1970, S. 100-102.
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