29. Daphne am Bach

[64] 1775.


Ich hab' ein Bächlein funden,

Vom Städtchen ziemlich weit;

Da bin ich manche Stunden

In stiller Einsamkeit.

Ich thät mir gleich erkiesen

Ein Plätzchen kühles Moos,

Da sitz' ich, und da fließen

Mir Thränen in den Schoß.


Für dich, für dich nur wallet

Mein jugendliches Blut;

Doch leise nur erschallet

Dein Nam' an dieser Flut.

Ich fürchte, daß mich täusche

Ein Lauscher aus der Stadt;

Es schreckt mich das Geräusche

Von jedem Weidenblatt.


Ich wünsche mir zurücke

Den flüchtigsten Genuß;

In jedem Augenblicke

Fühl' ich den Abschiedskuß.[64]

Es ward mir wohl und bange,

Da mich dein Arm umschloß,

Da noch auf meine Wange

Dein letztes Thränchen floß.


Von meinem Blumenhügel

Sah ich dir lange nach;

Ich wünschte mir die Flügel

Der Täubchen auf dem Dach.

Nun glaub' ich zu vergehen

Mit jedem Augenblick!

Willst du dein Liebchen sehen,

So komme bald zurück!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 64-65.
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