44. Die Schönheit

[87] 1776.


Wie freudig die Lerche

Schwebet entgegen

Dem rötlichen Morgen;

So schwebet in melodischem Fluge des Gesangs

Lieblichste Tochter der Natur,

Schönheit, meine dürstende Seele dir nach.


Deine heimische Laube

Blühet unter den Sternen nicht:

Aber auf Strahlen des Himmels

Schwebest oft zu Sterblichen du hinab,

Lächeltest mir oft

Von purpurnen Wangen des Morgens,

Oft vom Schimmer des Mondes,

Und vom Spiegel des Sees, den der Hain umkränzt,

Sanfte Ruh in die Seele,

Ahndungen und Himmelsgefühl.


Ach! auf Wangen des Mädchens

Sah ich dich himmlischer noch!

In sanftrollender Unschuld

Ihrer schmelzenden Augen

Sah ich dich himmlischer noch!

Hörte dich in den bebenden Melodieen

Ihrer schwebenden Stimme!

Hörte dich! sah dich, fühlte dich!

Und in Flammen der Liebe...


Wehe mir! wehe!

Was bebt meine Seele

Plötzlich in die Ebbe des Gesangs zurück!

Selinde! Selinde!

Versiegt bei deinem Namen mein Gesang?[88]

Stolberg, sei ein Mann!

Ströme wieder, Gesang!

Ström', ich beschwöre dich bei deiner Kraft!

Denn die heimische Laube

Der seligen Göttin

Blühet unter den Sternen nicht!


Himmlische Urschönheit!

Oder wie nennen die Unsterblichen dich,

Welche besser dich kennen, als Homer,

Plato, Klopstock und Ossian?

Bist du der olympischen Tugend

Schwester? oder sie selbst?


Selige Bewohner des Lichts,

Welche sich sonnen in deinem Strahl,

Und mit schwellendem Segel

Schiffen auf der Wahrheit unendlichem Oceanus!

Weise der Erde

Stehn am sandichten Ufer,

Und freun sich, wie Kinder,

Wenn die kleine Kenntnis

Zappelt an der Angel schwankendem Rohr,

Lächeln wie Kinder

Über den weißen Schaum

Und die bunte Blase,

Ehe sie am Gestade zerplatzt!


Lieber wall' ich am Ufer,

Ruhig und gedankenvoll!

So hört doch mein Ohr

Der ernsten Wogen rauschenden Fall!

Es spähet mein Blick

Die Argo, die einst

Zum reineren Golde mich führt!
[89]

Schweig indessen, Gesang!

Bis du einst der Göttin,

Wie die Donau der Sonne,

Von ihrem Glanze golden und rot,

Freudig und donnernd entgegenströmst!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 87-90.
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