49. Bei Homers Bilde

[98] 1776.


Du guter, alter, blinder Mann,

Wie ist mein Herz dir zugethan!

Nimm dieses Herzens heißen Dank

Für deinen göttlichen Gesang.


O hätt' ich deiner Lieder Macht!

Ich rief' dir durch der Gräber Nacht,

Du kämst, in Morgenrot gehüllt,

So hehr und freundlich, wie dein Bild;


Und reichtest mir die Strahlenhand;

Ich aber küßte dein Gewand;

Doch bald ermannte mich dein Gruß

Zu Handschlag und zu Lippenkuß.


Auch spräch' ich: was ich hab', ist dein!

Trink, alter Halbgott, diesen Wein!

Er rötet sich im Morgenland,

Am allerfernsten Mohrenstrand.
[98]

Nun tränkst du des Olympos Lust

Mit langen Zügen in die Brust.

Ich läs' auf deinem Angesicht:

Den neuen Nektar kannt' ich nicht!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 98-99.
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