Eine Frühlingsnacht

[147] Im Zimmer drinnen ist's so schwül;

Der Kranke liegt auf dem heißen Pfühl.


Im Fieber hat er die Nacht verbracht;

Sein Herz ist müde, sein Auge verwacht.


Er lauscht auf der Stunden rinnenden Sand;

Er hält die Uhr in der weißen Hand.


Er zählt die Schläge, die sie pickt,

Er forschet, wie der Weiser rückt;


Es fragt ihn, ob er noch leb' vielleicht,

Wenn der Weiser die schwarze Drei erreicht.


Die Wartfrau sitzt geduldig dabei,

Harrend, bis alles vorüber sei. –


Schon auf dem Herzen drückt ihn der Tod;

Und draußen dämmert das Morgenrot.


An die Fenster klettert der Frühlingstag.

Mädchen und Vögel werden wach.
[147]

Die Erde lacht in Liebesschein,

Pfingstglocken läuten das Brautfest ein;


Singende Bursche ziehn übers Feld

Hinein in die blühende, klingende Welt. –


Und immer stiller wird es drin;

Die Alte tritt zum Kranken hin.


Der hat die Hände gefaltet dicht;

Sie zieht ihm das Laken übers Gesicht.


Dann geht sie fort. Stumm wird's und leer;

Und drinnen wacht kein Auge mehr.


Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 147-148.
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