In Bulemanns Haus

[201] Es klippt auf den Gassen im Mondenschein;

Das ist die zierliche Kleine,

Die geht auf ihren Pantöffelein

Behend und mutterseelenallein

Durch die Gassen im Mondenscheine.


Sie geht in ein alt verfallenes Haus;

Im Flur ist die Tafel gedecket,

Da tanzt vor dem Monde die Maus mit der Maus,

Da setzt sich das Kind mit den Mäusen zu Schmaus,

Die Tellerlein werden gelecket.
[201]

Und leer sind die Schüsseln; die Mäuslein im Nu

Verrascheln in Mauer und Holze;

Nun läßt es dem Mägdlein auch länger nicht Ruh,

Sie schüttelt ihr Kleidchen, sie schnürt sich die Schuh,

Dann tritt sie einher mit Stolze.


Es leuchtet ein Spiegel aus goldnem Gestell,

Da schaut sie hinein mit Lachen;

Gleich schaut auch heraus ein Mägdelein hell,

Das ist ihr einziger Spielgesell;

Nun wolln sie sich lustig machen.


Sie nickt voll Huld, ihr gehört ja das Reich;

Da neigt sich das Spiegelkindlein,

Da neigt sich das Kind vor dem Spiegel zugleich,

Da neigen sich beide gar anmutreich,

Da lächeln die rosigen Mündlein.


Und wie sie lächeln, so hebt sich der Fuß,

Es rauschen die seidenen Röcklein,

Die Händchen werfen sich Kuß um Kuß,

Das Kind mit dem Kinde nun tanzen muß,

Es tanzen im Nacken die Löcklein.


Der Mond scheint voller und voller herein,

Auf dem Estrich gaukeln die Flimmer:

Im Takte schweben die Mägdelein,

Bald tauchen sie tief in die Schatten hinein,

Bald stehn sie in bläulichem Schimmer.


Nun sinken die Glieder, nun halten sie an

Und atmen aus Herzensgrunde;

Sie nahen sich schüchtern und beugen sich dann

Und knien voreinander und rühren sich an

Mit dem zarten unschuldigen Munde.
[202]

Doch müde werden die beiden allein

Von all der heimlichen Wonne;

Sehnsüchtig flüstert das Mägdelein:

»Ich mag nicht mehr tanzen im Mondenschein,

Ach, käme doch endlich die Sonne!«


Sie klettert hinunter ein Trepplein schief

Und schleicht hinab in den Garten.

Die Sonne schlief, und die Grille schlief.

»Hier will ich sitzen im Grase tief,

Und der Sonne will ich warten.«


Doch als nun morgens um Busch und Gestein

Verhuschet das Dämmergemunkel,

Da werden dem Kinde die Äugelein klein;

Sie tanzte zu lange bei Mondenschein,

Nun schläft sie bei Sonnengefunkel.


Nun liegt sie zwischen den Blumen dicht

Auf grünem, blitzendem Rasen;

Und es schauen ihr in das süße Gesicht

Die Nachtigall und das Sonnenlicht

Und die kleinen neugierigen Hasen.


Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 201-203.
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