Wohl rief ich sanft dich an mein Herz

[123] Wohl rief ich sanft dich an mein Herz,

Doch blieben meine Arme leer;

Der Stimme Zauber, der du sonst

Nie widerstandest, galt nicht mehr.
[123]

Was jetzt dein Leben füllen wird,

Wohin du gehst, wohin du irrst,

Ich weiß es nicht; ich weiß allein,

Daß du mir nie mehr lächeln wirst.


Doch kommt erst jene stille Zeit,

Wo uns das Leben läßt allein,

Dann wird, wie in der Jugend einst,

Nur meine Liebe bei dir sein.


Dann wird, was jetzt geschehen mag,

Wie Schatten dir vorübergehn,

Und nur die Zeit, die nun dahin,

Die uns gehörte, wird bestehn.


Und wenn dein letztes Kissen einst

Beglänzt ein Abendsonnenstrahl,

Es ist die Sonne jenes Tags,

Da ich dich küßte zum erstenmal.

Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 123-124.
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