Das Harfenmädchen

[214] Das war noch im Vaterstädtchen;

Da warst du gar zierlich und jung,

Ein süß schwarzäugiges Dirnlein,

Zur Liebe verständig genung.
[214]

Und wenn dir die Mutter zu singen

Und Harfe zu spielen gebot,

So scheutest du dich vor den Leuten

Und klagtest mir heimlich die Not.


»Wann treff ich dich wieder und wo doch?« –

»Am Schlosse, wenn's dunkel ist.«

Und abends bin ich gekommen

Und habe dich fröhlich geküßt.


Sind sieben Jahr vergangen,

Daß ich dich nicht gesehn;

Wie bleich doch sind deine Wangen,

Und waren so blühend und schön!


Wie greifst du so keck in die Saiten

Und schaust und äugelst umher!

Das sind die kindlich scheuen,

Die leuchtenden Augen nicht mehr.


Doch kann ich den Blick nicht wenden,

Du einst so reizende Maid;

Mir ist, als schaut ich hinüber

Tief, tief in vergangene Zeit.


Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 214-215.
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