Letzte Einkehr

[219] Noch wandert er; doch hinter ihm

Schon liegen längst die blauen Berge;

Kurz ist der Weg, der noch zu gehn,

Und tief am Ufer harrt der Ferge.
[219]

Doch blinket schon das Abendrot

Und glühet durch das Laub der Buchen;

So muß er denn auch heute noch

Wie sonst am Wege Herberg suchen.


Die liegt in grünen Ranken ganz

Und ganz von Abendschein umglommen;

Am Tore steht ein blondes Kind

Und lacht ihn an und sagt Willkommen.


Seitab am Ofen ist der Platz;

Schon kommt der Wirt mit blankem Kruge.

Das ist ein Wein! – So trank er ihn

Vor Jahren einst in vollem Zuge.


Und endlich schaut der Mond herein

Von draußen durch die dunkeln Zweige;

Es wird so still; der alte Mann

Schlürft träumerisch die letzte Neige.


Und bei des bleichen Sternes Schein

Gedenkt er ferner Sommertage,

Nur halb ein lauschend Ohr geneigt,

Ob jemand klopf' und nach ihm frage.


Quelle:
Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 41978, S. 219-220.
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