Das Lied vom falschen Grafen

[167] Ich bring' Euch wieder ein altes Lied

Von schwerem Liebesleid:

Es liebte der Däne Walafried

Eine Norwegs-Fischermaid,

Am Kreidegeklipp, wo sich bäumt die Flut

In schäumender Ungeduld,

Da küßt' er sie oft mit falschem Mut

Und schwur ihr ewige Huld.


Er schwur bei seines Schwertes Griff,

Bei seines Mantels Kreuz,

Bei dem Sturm, der die heulende See durchpfiff,

Bei der Dirne eigenem Reiz.

Er schwur ihr bei dem heiligen Meer,

Bei seines Vaters Bart,

Bei Rittertreu' und Ritterehr'

Nach falscher Ritter Art:


»Eh' schlinge mich ein der Woge Wut,

Eh' meine Treu zertaut!«

Es hörte den Schwur die Meeresflut,

Sie brüllte wild und laut.

Der Fant die Maid in die Arme schloß,

Fort ritt er mit leichtem Sinn,

Er ritt hinan auf das Felsenschloß,

Zu der jungen Königin.


Es ruhe mein Lied an dieser Stell',

Die doch ein jeder weiß.

Der Markgraf war ein junger Gesell,

Der König war ein Greis! –

»Auf der hohen See, in den Wind hinaus,

Da liegt mein Schiff zur Wacht;

In Jütland in meines Vaters Haus,

Da schlafen wir morgen Nacht.«
[168]

Es senkt auf die Wasser König Schlaf

Sein Zepter schwer und matt,

Mit der Fürstin fährt der Dänengraf

In das brausende Kattegat.

Eine Fischerdirn' mit braunem Gesicht,

Die rudert den Kahn mit Macht;

Der falsche Ritter kennt sie nicht,

Zu finster ist die Nacht.


Sie sieht nicht auf ihn, nicht auf die Dam',

Sie rudert für und für,

Sie stiert mit Blicken wundersam

Auf das Kreidegeklipp vor ihr.

Und näher rückt die Felsengestalt,

Wie ein Norwegs-Gletschergeist.

Des Dänen Arm mit süßer Gewalt

Sein königlich Lieb umkreist:


»Sei ruhig, mein Lieb, dort liegt mein Schiff,

Sei ruhig, bald ist's getan!«

Und näher kam das Felsenriff,

Und rascher schoß der Kahn.

Zwei Ruderschläge mit wilder Eil',

Die tat die braune Dirn',

Da stürmte der Nachen wie ein Pfeil

Nach der weißen Felsenstirn.


»Eh' schlinge mich ein der Woge Wut,

Eh' meine Treue zertaut!«

Es hörte den Schwur die rächende Flut,

Sie brüllte höhnisch laut.

Ein Ruderschlag, und es borst der Kahn

Mit wildem Gekrach entzwei. –

Die Woge, sie zog die alte Bahn,

Und drunter lagen die Drei!

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 167-169.
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