621. Der Glasberg.

[449] Ein Bauer hatte drei Söhne: Hinnerk, Klaus und Jan, aber Jan galt für den dümmsten, wurde geneckt und verhöhnt und immer beiseite gestoßen.

Nun begab es sich eine Zeitlang, daß dem Bauern alles Stroh, welches den Tag über ausgedroschen war, am folgenden Morgen verschwunden war. Da entschloß sich Hinnerk, einmal aufzubleiben, um den Dieb zu ertappen, und stellte sich in einer Ecke auf die Wacht. Um Mitternacht wurden die beiden Scheunentüren aufgeworfen, und herein trat ein großer Riese, der band alles Stroh in ein großes Bündel und trug es fort. Hinnerk fürchtete sich sehr und wagte nicht, sich zu rühren. Als er am nächsten Morgen erzählte, was er erlebt hatte, entschloß sich Klaus, die folgende Nacht zu wachen, aber es erging ihm nicht anders; vor Furcht wagte er die Ecke, in welcher er sich verborgen, nicht zu verlassen. Da bat Jan, Wache halten zu dürfen, aber es wurde ihm abgeschlagen, »denn«, sagten sie, »was wolltest du dummer Junge da wohl ausrichten?«

Aber als alle zu Bett waren, schlich sich Jan heimlich in die Scheune und legte sich ins Stroh. Um Mitternacht kam der Riese wieder, band das Stroh zusammen und trug es fort, und Jan saß im Strohbündel. Der Riese ging in einen Wald, wo er seine Höhle hatte, und warf das Stroh nieder. Dann machte er ein großes Feuer an, und warf das Stroh nach und nach hinein. Immer kleiner wurde der Strohhaufen, und Jan war kaum noch bedeckt, da hörte der Riese auf, legte sich hin und schlief ein. Jan kroch heraus, und als er an der Wand ein Schwert hangen sah, dachte er: »Ich will das Schwert nehmen und dem Riesen den Kopf abschlagen.« Aber das Schwert war so schwer, daß er es nicht von der Stelle bewegen konnte. Da sah er eine Flasche, daran stand geschrieben:[449] »Wer aus dieser Flasche trinkt, der kann das Schwert regieren.« Jan trank, nahm das Schwert und schlug dem Riesen den Kopf ab. Dann besah er sich die Höhle näher und fand eine große Menge von Gold und kostbaren Geräten und Kleidern. Im Stalle standen drei wunderschöne Pferde, denen gab Jan die Krippen voll Hafer und ging nach Hause, erzählte seinem Vater und seinen Brüdern aber nichts.

Nun trug es sich zu, daß der König des Landes, welcher eine einzige Tochter hatte, einen gläsernen Berg bauen ließ, und auf die oberste Spitze setzte er seine Tochter und ließ verkünden, wer mit einem Pferde den Berg hinaufreite, und seiner Tochter ihren Ring nehme, der solle die Königstochter haben und nach seinem Tode das Reich erben. Da zog jedermann nach dem Glasberge, um sein Glück zu versuchen. Auch Hinnerk bestieg das beste Pferd aus seines Vaters Stalle und wollte den Berg hinanreiten, und viele Tausende waren noch am Platze, aber alle Pferde glitten von dem Berge ab. Am zweiten Tage versuchte es Klaus, aber er hatte kein besseres Glück. Nun bat Jan um die Erlaubnis, den Versuch machen zu dürfen, aber sie lachten ihn aus und wiesen ihn ab.

Als nun am dritten Tage der Bauer mit seinen beiden ältesten Söhnen sich wieder nach dem Glasberge begab, um zuzusehen eilte Jan in die Höhle, kleidete sich prächtig und bestieg eins von den Pferden. Als er zum Glasberge kam, waren aller Augen auf ihn gerichtet, aber niemand kannte ihn. Er erreichte die Hälfte des Berges, dann verschwand er mit seinem Pferde, und als sein Vater und seine Brüder wieder nach Hause kamen, war er schon da. Den ganzen Abend wurde nur von dem fremden Prinzen gesprochen, aber Jan schwieg zu allem. Am folgenden Tage hatten sich jene kaum auf den Weg gemacht, so holte sich Jan neue Kleider und das zweite Pferd, mit dem kam er schon über die Hälfte den Berg hinauf. Alles bewunderte ihn, und zu Hause wurde wieder nur von dem unbekannten Prinzen gesprochen. Am nächsten Morgen zog Jan sich die schönsten Kleider an, die in der Höhle waren, bestieg das dritte Pferd, und nun ritt er den Glasberg ganz hinan und empfing auf dem Gipfel knieend aus der Hand der Prinzessin den Ring. Damit sie ihn aber wieder erkenne, flocht ihm die Prinzessin einen Golddraht ins Haar. Jan aber brachte sein Pferd und seine Kleider wieder in die Höhle und ging nach Hause. Am andern Morgen stand Jan vor[450] dem Ofen und wärmte sich. Da fragte sein Vater: »Jan, was hast du in deinem Haar?« »Ach«, sagte Jan, »es wird wohl ein Strohhalm sein«, und wendete sich ab. Als nun der Hochzeitstag kam, bat Jan, ob er wohl zum Schlosse gehen und zusehen dürfe, aber »was willst du dummer Junge da machen?« erhielt er zur Antwort, und sein Vater ging mit Hinnerk und Klaus allein hin. Da begab Jan sich in die Höhle, legte die besten Kleider wieder an und ritt nach dem Schlosse, und die Prinzessin empfing ihn mit Freuden, denn sie erkannte ihn an dem Golddraht in seinem Haare. Als sie an der Tafel saßen, erblickte Jan seinen Vater und seine Brüder unter den Zuschauern. Er ging auf sie zu und fragte: »Kennt ihr mich wohl?« aber sie antworteten: »Nein«. Da gab er sich zu erkennen und sprach: »Seht, wenn ich so hartherzig wäre wie ihr, so würde ich euch jetzt auch nicht kennen wollen, aber ich will Böses mit Gutem vergelten.« Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zur Tafel und brachte sie zu großen Ehren. (Pakens.)

Quelle:
Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1–2, Band 2, Oldenburg 21909, S. 449-451.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg
Aberglaube Und Sagen Aus Dem Herzogtum Oldenburg (Paperback)(German) - Common
Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg: Erster Band