625. Die drei Raben.

[466] Eine arme Witwe hatte vier Kinder, drei Knaben und ein Mädchen; die Knaben waren sehr hungrige Gäste und schrien oft nach Brot, aber das Mädchen war still und fromm. Als nun einst die Knaben wieder hungrig waren und zu essen verlangten, und die Mutter nicht hatte, um die Knaben zu sättigen, rief sie aus: »Ich wollte, daß ihr alle drei schwarze Raben wäret!« In demselben Augenblick erhielten alle drei Rabengestalt und flogen davon, die Schwester aber sah ihren Brüdern traurig nach.

Als die Schwester erwachsen war, ging sie aus in die weite Welt, um ihre Brüder zu suchen. Sie kam in einen großen Wald, und als sie eine Zeitlang gewandert war, fand sie ein rundes Tischchen, darauf standen drei hölzerne Schüsseln. Das Mädchen dachte: »Wer weiß, ob hier nicht der Aufenthalt meiner Brüder ist!« kehrte die Schüsseln um und verbarg sich unter einem Laubhaufen. Nicht lange, so kamen drei Raben herbeigeflogen, und da sie sahen, daß ihre Schüsseln umgekehrt waren, sagten sie untereinander: »Wer mag hier gewesen sein, hier kommt ja sonst kein Mensch.« Sie suchten und fanden bald ihre Schwester. »Ach«, sagte diese: »Wie gern möchte ich euch liebe Brüder erlösen, wenn ich nur wüßte, wie es[466] möglich wäre!« »Ja«, antworteten die Raben, »unmöglich ist es nicht, uns zu erlösen, aber es wäre ein hartes Los für dich; würdest du in sieben Jahren kein Wort sprechen, so wären wir frei.« »Gern«, sagte das Mädchen, »nehme ich das auf mich«, und blieb im Walde bei ihren Brüdern und sprach fortan kein Wort mehr.

Eines Tages ging sie spazieren, da begegnete ihr ein vornehmer Herr, und weil sie sehr schön war, lud er sie zu sich in den Wagen, und obwohl sie kein Wort sprach, gewann er sie doch sehr lieb und nahm sie zu seiner Frau. Es war aber der Herr ein Ritter, und als er einige Monate mit seiner Frau verheiratet war, mußte er in den Krieg ziehen und ließ seine Frau bei seiner Mutter zurück. Die Frau war schwanger, und als sie von einem Sohne entbunden wurde, nahm die böse Schwiegermutter das Kind und warf es ins Wasser. Sogleich kam ein Rabe, ergriff das Kind und flog mit ihm davon. Die böse Schwiegermutter aber schrieb an ihren Sohn, seine Frau habe einen jungen Hund geboren, und dazu sei sie ein so böses und halsstarriges Ding, daß gar nicht mit ihr umzugehen sei, denn sie spreche kein Wort, und das sei lauter Eigensinn. Der Ritter schickte ihr den Befehl, den kleinen Hund gut zu pflegen, denn er wolle ihn doch gern sehen, wenn er heimkomme. Als aber der Ritter nach Hause zurückkehrte, sagte die Mutter, der Hund sei tot. Doch der Ritter blieb seiner Frau in inniger Liebe zugetan, obwohl sie kein Wort sprach und sich gegen die Anklagen ihrer Schwiegermutter nicht verteidigte. Als der Ritter eine zeitlang zu Hause gewesen war, mußte er abermals in den Krieg ziehen und seine Frau gesegnetes Leibes bei seiner Mutter zurücklassen. Als die Frau einen schönen Knaben geboren hatte, nahm ihn die böse Schwiegermutter und warf ihn ins Wasser; ein Rabe aber kam herbei, zog den Knaben heraus und flog mit ihm davon. Und an den Ritter schrieb seine Mutter, seine Frau habe abermals einen jungen Hund zur Welt gebracht, und als der Ritter von seinem Kriegszuge nach Hause kam und den kleinen Hund sehen wollte, sagte sie, derselbe sei gestorben. Der Ritter war sehr traurig, daß ihm seine Frau keine Kinder gebären solle, aber er blieb ihr auch jetzt noch freundlich gesinnt und dachte, sie könne doch noch unschuldig sein. Als er aber zum dritten Male in den Krieg gerufen wurde und seine Mutter ihm schrieb, daß seine schwangere Frau einen Hund[467] geboren habe, da wurde auch er auf seine Frau zornig, und als er nach Hause zurückkam, befahl er, seine Frau solle verbrannt werden. Es hatte aber seine Frau auch dieses mal einen Knaben geboren, und ein Rabe hatte ihn davongetragen, als die böse Schwiegermutter ihn ins Wasser geworfen hatte; aber die Frau wollte nicht reden, denn sie wollte ihre Brüder erlösen, wie sie ihnen gelobt hatte.

Der Ritter ließ einen hohen Scheiterhaufen errichten und seine Frau darauf festbinden, und als alles bereit war, befahl er, den Scheiterhaufen anzuzünden. Aber ehe noch seine Diener den Befehl vollführt hatten, sah er in der Ferne drei Ritter heransprengen, jeder hatte einen Knaben vor sich auf dem Pferde, sie winkten mit ihren Tüchern und riefen laut »Pardon!« Er gebot Halt, um zu hören, was die Herren verlangten. Als diese nun ankamen, stiegen sie vom Pferde und sagten zu den drei Knaben, die sie mitgebracht hatten: »Sehet, das sind eure Eltern, gehet hin und küsset eure Eltern«, und wiesen auf den Ritter und seine Frau. Die drei Herren waren aber die Brüder der Frau und waren erlöst, denn die sieben Jahre waren vergangen, und die Knaben waren die Kinder ihrer Schwester, die sie aus dem Wasser gerettet hatten. Und die Schwester durfte nun wieder sprechen und erzählte ihrem Manne alles, wie es sich zugetragen hatte, und alle waren voller Freude.

Die böse Schwiegermutter aber mußte nun auf den Scheiterhaufen steigen und wurde jämmerlich verbrannt. (Damme.)

Quelle:
Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1–2, Band 2, Oldenburg 21909, S. 466-468.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg
Aberglaube Und Sagen Aus Dem Herzogtum Oldenburg (Paperback)(German) - Common
Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg: Erster Band