632. Vom Königssohn, der fliegen gelernt hatte.

[490] Es war einmal ein König, der hatte zwei Söhne, die jeder ein Handwerk lernen sollten. Der eine wurde ein Silberschmied, und der andere kam zu einem Schreiner, der auch was von der schwarzen Kunst verstand. Als er bei dem in der Lehre war, lehrte ihn sein Meister seine Künste eben so wohl als sein Handwerk. Als die beiden nun ausgelernt hatten und nach Hause wollten, um vor ihrem Vater ihr Meisterstück abzulegen, hatte der Silberschmied sich einen silbernen Fisch gemacht, und als der Schreiner zu ihm kam und fragte: »Nun was hast du gemacht als dein Meisterstück?« antwortete er: »Einen silbernen Fisch«, und zeigte ihm den. »Der ist ganz gut gemacht, sodaß nichts daran fehlet, aber kann er auch schwimmen?« »Wie sollte er das?« »Setze ihn einmal ins Wasser; wenn ich nun machte, daß er schwömme, wäre er dann nicht besser?« Sie setzten den Fisch aufs Wasser, und richtig, da schwamm er. »Was hast du denn gemacht?« fragte der andere. »Ach, nur ein paar hölzerne Flügel.« »Die muß ich auch einmal sehen.« Als jener sie ihm zeigte, verwunderte er sich und sprach: »Die hast du ja gar nicht schön gemacht!« »Auf die Schönheit solls auch nicht stark ankommen, sondern auf das, was darin verborgen liegt, und das sollst du sehn, wenn wir zu unserm Vater kommen.«

Als sie nun zu dem Vater kamen, zeigte der Silberschmied seinen Fisch. »Der ist ganz gut gemacht«, sagte der Vater, »das kann bestehn.« »Ja«, antwortete der Sohn, »das ist noch nicht alles, er kann auch schwimmen, wenn ich ihn ins Wasser setze.« Das taten sie, und da schwamm er hin, und der Vater wollte sich tot wundern. »Nun, was hast du denn gemacht?« fragte er den älteren. »Ach«, erwiderte Enne,[490] »nur ein paar hölzerne Flügel.« Als der Vater die zu sehen bekam, schüttelte er den Kopf. Enne, der das sah, sprach: »Sie sind wohl nicht schön gemacht, aber was darin steckt! Wer sie sich anspannt, der kann fliegen.« »Das will ich einmal sehen.« Enne machte das Fenster auf, spannte sich die Flügel an, und siehe da! Er flog damit fort.

Nun hatte der Nachbarkönig ausrufen lassen und zum Gesetze gemacht, daß alle Mädchen, welche ein Kind bekämen und keinen Mann hätten, sollten lebendig verbrannt werden. Als er das Gesetz gegeben hatte, fiel ihm ein: »Gottes Kreuz, ich habe selbst eine Tochter, wenn die das einmal überkäme! Was Rates dann?« Nun wollte er das Gesetz gern zurücknehmen, aber er durfte nicht, es mußte dabei bleiben. Aber damit seine Tochter das nicht überkomme, ließ er geschwinde ein Schloß in der See erbauen, dahin brachte er seine Tochter und gab ihr eine Magd mit, sodaß nicht Mann noch Maus zu ihr kommen konnte, so war sie wohl verwahrt.

Das hörte Enne. »Aha«, dachte er, »nun ist es Zeit für dich«, spannte seine Flügel an, steckte eine Flöte in die Tasche, und nun auf den Turm zu so grade, wie man sehen kann. Er setzte sich vor das Fenster der Stube, in welcher sie war, und blies auf seiner Flöte so über die Maßen schön, als wenn es ein Engel aus dem Himmel wäre, daß sie das Fenster öffnete und lauschte und sich nach dem Spieler umsah. Als sie ihn erblickte, erschrak sie zuerst, doch erholte sie sich bald und fragte, wer er sei. »Ich bin der Engel Gabriel, und Gott hat mich gesandt, dir die Zeit zu verkürzen«, sagte Enne. »Das sollte man fast glauben; so komm nur herein und spiele mir was vor.« Er ging durch das Fenster und spielte ihr was vor bis an den Abend. Abends mußte er wieder nach Hause, denn sein Vater wollte es nicht leiden, daß er über Nacht ausblieb. Aber als er wegflog, nötigte sie ihn mit Gewalt, den andern Tag wieder zu kommen und ihr etwas vorzuspielen. Das tat er und kam alle Tage und das so lange, bis sie ein Kind von ihm trug, während ihr Vater an nichts Schlimmes dachte.

Nun wollte der Vater auch einmal sehen, was seine Tochter mache, und fuhr nach dem Turme hin, aber wie erschrak er, als er sah, daß seine Tochter und ihre Magd nicht mehr allein waren. »Was Teufel!« sagte er, »du bist schwanger?« Sie bejahte das. »Aber wie ist das möglich?«[491] fragte der Vater, »von wem bist du denn schwanger?« »Von dem Engel Gabriel«, antwortete sie. »Was Gabriel, du sollst verbrannt werden, so gut wie die beste.« Sie mußte vom Turme wieder nach der Stadt. Dort wurde ein großer Haufen Holz und Stroh zusammengefahren, auf dem sollte sie verbrannt werden. Als nun der Tag herankam, war Enne, der von allem, wie es zugegangen war, Kunde bekommen hatte, auch auf dem Marktplatze und hatte seine Flügel verborgen bei sich. Als sie nun auf dem Scheiterhaufen saß und dieser angezündet werden sollte, trat Enne vor und sprach: »Sie ist unschuldig, ich habe sie verführt; ich bin der Mann, der verbrannt werden muß, verbrennet mich!« »Ach was, Torheit!« sagte der König, der das gehört hatte, »darüber habe ich kein Gesetz gegeben; sie soll und muß verbrannt werden.« Enne lief nach dem Scheiterhaufen und stellte sich zu ihr hin und rief: »Nun zündet nur an!« Sie mochten sagen, was sie wollten, sie konnten es Enne nicht ausreden, so daß der König sprach: »Wenn das so ist, so ist der eine auch nicht besser als die andere, zündet nur an!«

Während sie das Feuer anfachten, spannte Enne seine Flügel an, und als das Feuer stärker war und der Rauch wolkendick aufstieg, nahm Enne die Königstochter auf den Rücken und flog mit ihr im dicksten Rauche davon, daß niemand sah, wo sie blieben, und flog nach seines Vaters Hause. Der Vater war damit zufrieden, daß sein Sohn ihm eine Schwiegertochter ins Haus brachte, und als nun die Hochzeit gegeben werden sollte, schrieb Enne an den König, der sein Schwiegervater werden sollte, er möge doch auf seine Hochzeit kommen, denn er wolle heiraten. Aber der König entschuldigte sich, er sei in schwerer Trauer und könne nicht kommen. Da schrieb Enne wieder, wenn er nicht komme, so müsse er das ansehen, als suche er Streit mit ihm, und kündigte ihm den Krieg an. Der König wollte lieber hingehn als Krieg haben und entschloß sich, mit seiner Frau zur Hochzeit zu ziehen. Als sie nun auf die Hochzeit kamen, sahen sie wohl den Bräutigam, aber nicht die Braut. Das verdroß sie, und sie wünschten, auch die Braut zu sehen. Als sie ihnen nun vorgestellt wurde, frug Enne die beiden Eltern, ob sie dieselbe auch wohl kennten. Das verneinten sie und sagten: »Wenn wir nicht gewiß wüßten, daß unsere Tochter tot ist, so würden wir wohl sagen, daß es unsere Tochter sei; aber[492] darum sind wir ja grade in so schwerer Trauer, sie ist ja verbrannt.« Enne sprach: »Seht einmal recht zu, ob sie's nicht ist«, und gut und wohl, sie war es. Nun ging es an ein Küssen und Liebhaben, und Enne erzählte ihnen, wie sich das zugetragen hätte, und sie freuten sich, daß es so gegangen, und war die Hochzeit noch nicht gut gewesen, so wurde sie jetzt gut. (Scharrel.)

Quelle:
Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1–2, Band 2, Oldenburg 21909, S. 490-493.
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