633. Die Zauberflöte.

[493] Vor vielen Jahren lebte einmal ein armer Mann, der hieß Gerd, und hatte einen einzigen Sohn mit Namen Jan. Während der Vater die Hausarbeit besorgte, mußte Jan in dem nahen Walde Reisig suchen, und wie er eines Tages diesem Geschäfte nachging, begegnete ihm ein grauer Mann, der gab ihm eine Flöte und sagte, so oft er darauf blase, würden alle seine Wünsche, die er in dem Augenblick sich dächte, in Erfüllung gehen. Jan meinte, dann brauchte er keine Reiser mehr zu suchen, und ging vergnügt nach Hause. Als er aber nach Hause kam, fand er seinen Vater sehr betrübt, denn es gab im ganzen Hause keine Rinde Brot mehr. Da ging Jan in die Küche, fing an zu flöten und wünschte sich, der ganze Tisch möge sich mit Speisen decken. Alles kam so wie er es gewünscht hatte, und Jans Vater, der erst nicht recht zulangen wollte, weil es nicht mit rechten Dingen zugehe, aß zuletzt tüchtig mit, und es schmeckte ihm gut. Aber Jan war bald nicht mehr damit zufrieden, alle Tage satt und herrlich zu essen, und er wünschte sich nach und nach ein schönes Haus und Geld und Gut, und da das Wünschen immer einschlug, so galt er bald für den reichsten Mann der Gegend. Eines Tages kam Jan nach der nächsten Stadt, das war eine Seestadt und wurde von einem mächtigen Grafen beherrscht, da sah er des Grafen Tochter am Fenster stehn, und sie war so schön, daß er sich gleich in sie verliebte und sie gern zu seiner Frau gehabt hätte. Da nahm er seine Flöte und blies und wünschte, des Grafen Tochter möge von Stund an schwanger sein und zu ihrer Zeit einen Sohn gebären. Als der Graf den Zustand seiner Tochter wahrnahm, ward er sehr zornig, und umsomehr, als ihm seine Tochter den Täter nicht angeben konnte. Der Graf rief die Weisen seines Reiches zusammen und begehrte von ihnen zu wissen, von wem seine Tochter schwanger sei. Die Räte[493] sprachen, er solle alle Leute weit und breit zusammenrufen und eine weiße Taube loslassen, und auf wessen Haupt die Taube sich setzen würde, der sei der Schuldige. Darnach verfuhr der Graf, und die Taube ließ sich auf Jans Haupte nieder. Jan wurde sofort ergriffen und mit des Grafen Tochter auf ein Schiff gebracht, und zwischen beiden ward eine Scheidewand errichtet. Das Schiff aber wurde den Wellen übergeben, ohne Mast und Segel, ohne Steuer und Ruder und ohne Speise und Trank, damit die beiden durch Hunger und Durst oder im Wasser jämmerlich zugrunde gehen sollten. Aber Jan hatte seine Zauberflöte bei sich und blies und wünschte zuerst die Scheidewand weg, dann wünschte er herrliches Essen und Trinken an Bord, und endlich ließ er das Schiff wieder zu Lande stoßen. Hier wünschte er sich ein großes Schloß, viele Diener und zahlreiche Krieger. Als der Graf hörte, daß in seiner Nähe ein reicher Mann mit einem großen Heere angelangt sei, glaubte er, es sei ein mächtiger Fürst und gekommen, um ihn zu bekriegen, und ging zu ihm und bat ihn um Gnade; er erkannte Jan aber nicht wieder. Jan wollte sich erst auf nichts einlassen und schalt den Grafen, daß er so grausam gegen seine Tochter gewesen sei. Doch als er sah, daß der Graf seine Grausamkeit bereute, gab er sich zu erkennen, und es war große Freude. Jan wurde des Grafen Minister, und als der Graf gestorben war, wurde er selbst Graf und lebte lange und glücklich. (Saterland.)

Quelle:
Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1–2, Band 2, Oldenburg 21909, S. 493-494.
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