637. Anholen winnt.

[506] Ein Jüngling bewarb sich um ein schönes Mädchen, das mit ihm in einem Dorfe wohnte, aber all sein Bemühen war fruchtlos, das Mädchen wies ihn immer wieder von neuem ab. Als er endlich zum neunundneunzigsten Male eine abschlägige Antwort erhalten hatte, zog er sich zurück und schien seine Absicht aufgegeben zu haben. Das aber war dem Mädchen keineswegs recht. Als sie daher einst erfuhr, daß der Jüngling nach einem benachbarten Orte gegangen war, und auf welchem Wege er zurückkehren werde, ging sie ihm entgegen, brach sich einen[506] Stecken ab und verknüpfte die beiden gebogenen Enden mit einem Bande, sodaß das Ganze in der Form einer Bandsäge glich. Als nun der Jüngling kam, nahm sie die Bandsäge zur Hand und begann mit derselben an einem dicken Baume hin und her zu streichen, als ob sie den Baum durchsägen wolle. Der Jüngling sah dem Tun zu und sprach: »Mit der Säge wirst du den Baum nicht durchsägen.« Aber das Mädchen erwiderte: »Anhollen dat winnt.« Da merkte der Jüngling, wie es stehe, brachte seinen oftmals gestellten Antrag nochmals vor und erhielt denn auch endlich das Jawort. Als Bräutigam und Braut gingen nun die beiden zusammen nach Hause. Als der Bräutigam unterwegs seine Braut fragte, warum sie ihn so lange zurückgewiesen habe, sprach sie: »Ich hatte mir vorgenommen, auf die hundertste Anfrage mein Jawort zu geben. Aber beinahe hätte ich mein Spiel verloren.« (Rastede.)

Quelle:
Ludwig Strackerjan: Aberglaube und Sagen aus dem Herzogtum Oldenburg 1–2, Band 2, Oldenburg 21909, S. 506-507.
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