55. Das Manifest des Zaren

[398] Eines schönen Augusttages saß ich in der Gartengloriette und wartete der Ankunft der Post. Der Meine pflegte selber zum Postmeister zu gehen, die eingelaufenen Briefe und Zeitungen zu holen. Das war mir immer die interessanteste Stunde des Tages.

Diesmal kam er beflügelten Schrittes, mit leuchtenden Mienen daher, und von weitem rief er schon:

»Das Großartigste, das Ueberraschendste bringe ich heute ...«

»Was ist's – haben wir einen Haupttreffer gemacht?«

»Fast so – – hör an, was einer im gestrigen Abendblatt schreibt.« Er setzte sich und las:

»›Die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens und eine Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen, welche auf allen Nationen lasten –‹«

»Das sagen wir ja immer,« warf ich dazwischen.

»›– stellen sich in der gegenwärtigen Lage der ganzen Welt als ein Ideal dar, auf das die Bemühungen aller Regierungen gerichtet sein müßten –‹«

»Sein müßten, aber nicht sind –«

»›Der gegenwärtige Augenblick wäre äußerst günstig, auf dem Wege internationaler Beratung die wirksamsten Mittel zu suchen, um allen Völkern die Wohltaten eines wirklichen und dauernden Friedens zu sichern –‹«

»Der Artikel dürfte von Passy oder sonst einem der Unseren sein.«

»Wie scharfsinnig! – – ›und vor allem der fortschreitenden Entwicklung der Rüstungen ein Ziel zu setzen.‹«

»Na freilich –«

»›Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren infolge irgendeiner neuen Entdeckung auf diesem Gebiet.‹«

»Das ist nichts Neues.«[398]

»›– Die nationale Kultur, der wirtschaftliche Fortschritt, die Erzeugung von Werten sehen sich in ihrer Entwicklung gelähmt und irregeführt. Die wirtschaftlichen Krisen sind zum großen Teil durch das System der Rüstungen bis aufs Aeußerste hervorgerufen, und die ständige Gefahr, welche in dieser Kriegsstoffansammlung liegt, machen die Armeen zu einer erdrückenden Last, welche die Völker mehr und mehr nur mit Mühe tragen können.‹«

»Den Artikel hat offenbar ein Sozialdemokrat geschrieben.«

»Immer scharfsinniger! – – ›Es ist deshalb klar, daß, wenn diese Lage sich noch weiter so hinzieht, sie in verhängnisvoller Weise zu eben der Katastrophe führen würde, welche man zu vermeiden wünscht und deren Schrecken jeden Menschen schon beim bloßen Gedanken schaudern macht.‹«

»Nicht jeden Menschen –«

»›Dem Unheil vorzubeugen, das die Welt bedroht, das ist die höchste Pflicht, welche sich heute allen Staaten aufzwingt!‹« –

»Ja, wenn die Staatenlenker so dächten!«

»Nun, lies selbst – und freue dich!«

Er reichte mir das Blatt – und was sah ich? Das war kein Aufsatz aus sozialistischen oder pazifistischen Kreisen – – das war ein offizielles Dokument, im Namen eines obersten Kriegsherrn an alle Regierungen gerichtet, mit der Aufforderung zum Zusammentritt einer Konferenz, welche sich mit dieser »ernsten Frage« zu beschäftigen hätte – eine Konferenz, welche – ich zitiere noch immer – »in einem mächtigen Bunde die Bestrebungen aller Staaten vereinigen würde, die aufrichtig darum bemüht sind, den großen Gedanken des Weltfriedens triumphieren zu lassen.« –

War das nicht wie ein Traum, wie ein Märchen?

Ich erinnere mich, die Stunde, die wir, der Meine und ich, nach Eintreffen dieser Botschaft (eine wahre »Frohbotschaft«, wie die Ueberschrift des Kapitels in »Schach der Qual« lautete) miteinander verbrachten, das wunderbare Ereignis nach allen Seiten kommentierend, war eine der schönsten Stunden unseres Lebens. Es war wirklich wie das Nachzählen eines eben ausbezahlten, unverhofften Haupttreffers.

Meine Ansichten über das Ereignis schrieb ich in das Septemberheft meiner Monatsschrift mit folgenden Worten nieder:

»Die Nachricht, die an der Spitze dieses Heftes steht, die Botschaft des Zaren, ist das größte Ereignis, das bisher die Friedensbewegung aufzuweisen hat. Uns alle erfüllte sie mit Jubel, denn das Uebergroße und dabei so Unerwartete überwältigt. Die übrige[399] Welt erfüllte die Nachricht mit Staunen, ja manche (die Kriegsfreunde nämlich) mit Bangen.

Aus den Worten des jungen Herrschers spricht tiefe Empfindung. Das Geleise der gewohnten diplomatischen Phrasen, welche nichts sagen, ist ein für allemal verlassen. Die Friedensbewegung ist also jetzt – so haben wir es dennoch erlebt! – in die Sphäre der Vollbringer eingegangen.

Aber noch ist damit die Raison d'être unserer Vereine nicht aufgehoben. Nur aus dem aus der letzten Zeit so stark beeinflußten öffentlichen Geist ist die Zarentat hervorgegangen, und der Unterstützung des öffentlichen Geistes, der organisierten Kundgebung des Völkerwillens bedarf es, um die von oben aus in Gang gebrachte Aktion zu unterstützen, um die gegnerischen Machenschaften abzuwehren, die sich ihr sicher noch in den Weg legen werden. Im ganzen – von unserem Standpunkt –: Nicht hoch genug kann das Ereignis angeschlagen werden. Der Mächtigsten einer bekennt sich zum Friedensideal, tritt als Gegner des Militarismus auf; von nun ab ist die Bewegung um Unberechenbares dem Ziele näher, neue Bahnen stehen ihr offen und auf neuer Operationsbasis ist sie weiterzuführen.«27

Und im nächsten Hefte:

»– – Für andere Blätter mag der Gegenstand schon einigermaßen an Aktualität verloren haben und erst wieder aufgenommen werden, bis die einberufene Konferenz zustande kommt; für uns aber handelt es sich da nicht um ein Tagesereignis, sondern um den – bisher bedeutendsten Markstein unserer Geschichte.

Eine der wichtigsten und schwersten Aufgaben der Friedensvereine – das Bekanntmachen ihrer Ziele – ist mit einem Ruck von ihren Schultern gehoben worden, denn von nun ab ist die Kenntnis davon nicht allein in die Massen gedrungen, sondern auch der Aufmerksamkeit jedes Politikers aufgezwungen worden.

In dieser Hinsicht ist also die Arbeit vollbracht; nun kommt aber die ebenso schwierige Aufgabe, nach Kräften dazu beizutragen, daß der Erfolg der Konferenz, für deren Zustandekommen so lange gepredigt und votiert worden, auch gesichert werde.

Es haben sich jetzt schon von allen Seiten Schwarzseher und Zweifel und hämische Insinuationen erhoben. ›Wie in stillschweigender Verabredung hat sich ein großer Teil der Tagespresse zur Vernichtung eines Planes konstituiert, der die teuersten Hoffnungen der Menschheit umfaßt.‹ (Concord.) Die großen Massen stehen dem Reskript geradeso[400] ratlos und verständnislos gegenüber wie bisher den Bestrebungen der Friedensbewegung, deren ganzes Programm ja auch kondensiert darin enthalten ist.

Eines vergißt man bei diesem Bestreiten und Bezweifeln: immer soll darüber Rechenschaft gegeben werden, was bei der Konferenz herauskommen soll, und die wunderbare Tatsache verliert man dabei aus dem Auge, daß die Einberufung selber – von solcher Stelle und mit solcher Motivierung – an sich schon ein Triumph der Sache ist – an sich schon die hundert Einwände umwirft, die stets, unter Berufung auf die Unmöglichkeit, daß Autokraten und oberste Kriegsherren auf die wachsenden Rüstungen je verzichten könnten, gegen unsere Bestrebungen vorgebracht worden sind.

Die Aufpflanzung des Zieles ist schon das Große und das Beglückende an dem Ereignis; die Erwägung der Mittel und Wege kann man getrost den aufrichtigen Zielbewußten überlassen. Das fühlen unsere Feinde, darum wollen sie wenigstens das »aufrichtig« in Zweifel setzen. Als ob man mit solchen Worten lügen könnte! Von allen Diplomatenkrummfloskeln hat das Reskript wahrlich nichts an sich – und als ob man nicht in erster Linie etwas Gesagtes erst auf das hin prüfen und für das annehmen sollte, was gesagt wird. Das ist das erste Recht jeder Enunziation, jedes – noch nicht der Schufterei überführten – einfachsten Menschen.«28

In den Tagen nach der Veröffentlichung des Reskripts kamen mir unzählige Briefe und Telegramme mit Glückwünschen zugeflogen. Ebenso hatte ich an die Gesinnungsgenossen Gratulationen geschickt. Auch Egidy erhielt von vielen Seiten Zeichen der Mitfreude. Er erzählte mir später, daß eine Freundin das Zeitungsblatt mit dem Reskript in ein Kuvert getan und mit der Aufschrift »Geburtstagsgeschenk« (zufällig fiel an diesem Tage Egidys Wiegenfest) auf seinen Schreibtisch gelegt.

Hier ein Bruchteil der mir zugekommenen Briefe:


Ischl, 29. August.


Hochgeehrte gnädige Frau!


Aus gerührtem Herzen Ihnen und Ihrem Herrn Gemahl warme und verehrungsvollste Glückwünsche! Was müssen Sie empfinden, welches edelstes aller Glücksgefühle!

Daß ich diesen Tag erlebt habe, betrachte ich als die unbegreiflichste und überraschendste Freude meines schmerzensreichen und hoffnungsarmen Lebens.[401]

Dieses merkwürdigste »Ex oriente lux« konnte ich im Traume nicht ahnen, als ich in »Wenn ich Kaiser oder König wäre« Wilhelm I. den Lorbeer dieses Tages um die Schläfe zu legen versuchte, oder als ich im »Strike« einen weisen Fürsten den unreifen Völkern gegenüber sein Herz ausschütten ließ. Nun ist der Traum Wahrheit geworden, und möge diese endlich träumende Völker und schläfrige Gewissen mit Posaunenschall emporrütteln! Goethe hat's getroffen:


Die Geisterwelt ist nicht verschlossen,

Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot,

Auf! Bade, Schüler, unverdrossen

Die ird'sche Brust im Morgenrot.


Ihre Freude teilen zu dürfen, schätzt sich glücklich Ihr verehrungsvollst ergebener

Moritz Adler.


Porto Rose bei Pirano, 31. August.


Meine innigsten Glückwünsche, daß Ihre jahrelangen, rastlosen Bestrebungen im Interesse des Weltfriedens durch ein Wort an der Newa urplötzlich einen so überraschenden und glänzenden Sieg in beseligende Aussicht stellen.

Mit Herz und Hand

Dr. Karl v. Scherzer,

Bevollmächtigter Minister a. D.


München, 30. August.


– – – Der Zar hat etwas Großartiges getan. Was auch daraus werde – von heute ab schwirrt die Luft von Friedensgedanken – selbst da, wo sie gestern nie hingekommen wären. Das bringt große unerwartete Folgen. Jetzt wird der englisch-amerikanische Vertrag zustande kommen – und schließlich alle Germanen einigen, – in einer solchen Luft kann alles gedeihen. Sehen Sie, es nützt, zu predigen, zu glauben, zu verkündigen – nachdrücklich und unaufhörlich!

Björnstjerne Björnson.


Wien, 30. August.


Aus der Tiefe des Herzens Glückwunsch! »Lasse Viktoria schießen!« Ob sie uns noch immer verhöhnen werden, die großen Sozialpolitiker!

Balduin Groller.


Sondja, Oktober 1898.


– – Ich weiß aus einer sehr vertrauenswürdigen Quelle, daß der Kaiser dieses Dokument verfaßt hat, nachdem er »Die[402] Waffen nieder« gelesen.29 Folglich ist dieses glückliche Ereignis einzig Ihrem Einflusse zuzuschreiben. Ich habe von dem Erlaß, der allen Freunden des Friedens eine so große Freude bereitet hat, ganz unerwartet durch die Zeitungen erfahren, da ich in den letzten Jahren nur wenig in Petersburg mich aufhielt. Ich beteilige mich nicht an den politischen Aktionen, da ich mich den Interessen des »Semstwo« gewidmet, welche gegenwärtig eine große Summe von Arbeit erfordern und immer mehr und mehr die intellektuellen Kräfte des Landes in Anspruch nehmen. Zwar habe ich vor einigen Jahren den Versuch gemacht, eine russische Friedensgesellschaft zu organisieren. Dieser Versuch scheiterte; sei es, daß ein günstiger Boden für einen solchen Verein bei uns zu wenig vorbereitet war, sei es, daß mir selber die nötigen Fähigkeiten zur Propaganda fehlten.

Was die öffentliche Meinung aus der Provinz betrifft, so kann ich aus persönlicher Kompetenz versichern, daß der vorgeschrittenste Teil der Gesellschaft den Plan der Friedenskonferenz von demselben Standpunkt betrachtet wie der Leitartikel des beiliegenden Journals – günstig und hoffnungsvoll. Wie dies immer der Fall ist, während eine öffentliche Meinung sich heranbildet, spaltet sich diese in zwei extreme Lager: die Utopisten und Skeptiker – die letzteren leider in der Ueberzahl. Ich bin trotzdem überzeugt, daß unser junger Herrscher aus[403] dem Schoße der russischen Gesellschaft dieselben Kräfte schöpfen wird, die vor 36 Jahren seinem Großvater Alexander II. geholfen haben, eine andere feierliche Tat – die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft – zu vollbringen, obgleich auch damals sich viele skeptische und sogar der Reform feindlich gesinnte Leute fanden. Die Arbeit und die Tätigkeit in der Frage, die uns interessiert, fällt in der gegenwärtigen Stunde sowohl in Europa als in Amerika den parlamentarischen Kräften zu, deren Pflicht es jetzt ist, ihre Regierungen zu drängen, sich aufrichtig und ohne Hintergedanken gegenüber der vom Grafen Murawjew vorgeschlagenen Konferenz auszusprechen.

Durch eine seltsame Ironie des Schicksals erfuhr ich von der kaiserlichen Kundgebung, als ich mich eben in meiner Eigenschaft als Reserveoffizier bei den Manövern befand. Die Offiziere betrachteten die Frage mit Ruhe, obschon die besten unter ihnen nicht anders können, als die Richtigkeit der im Reskript enthaltenen Ideen zuzugeben. Die anderen waren der Meinung, daß alle die Friedensprojekte sie gar wenig angingen, und der Militärdienst, zu welchem sie aufgezogen worden, ihre Existenz noch lange ausfüllen würde.

Unsere Gesellschaft war tief bewegt und ergriffen durch den Tod Ihrer Monarchin. Welch trauriges Unverständnis spricht doch aus solchen Taten, und wie ist die Menschheit zu bedauern, wenn außer dem Kampf gegen den Krieg man auch noch mitten im Frieden an die Friedfertigung der Klassen denken muß.

Empfangen Sie u.s.w.

Fürst Peter Dolgorukow.


Soras bei Eperies, 30. August.


Ein Sturm des Entzückens durchbraust die Welt angesichts des gewaltigen Nordlichtes, das von Petersburg leuchtet. Was der Erfolg auch sei, das gewaltige Wort eines der Gewaltigsten kann nicht ungesprochen gemacht werden.

Der Herr segne Ihr Wirken!

Vizeadmiral Semsey.


Velden, 30. August.


Glückauf zur Morgenröte im Osten!

Hedwig Pötting.


Budapest, 29. August.


Ist's auch möglich, wahr? Nun heißt es diesen Sieg richtig ausnützen! Etwas muß und wird geschehen. Nun ist's ein Stolz und Glück, Friedensfreund zu sein!

Gratuliere uns allen, in erster Reihe Ihnen. Das wird viele aufrütteln!

Kemény,

Sekretär der ungarischen Friedensgesellschaft.[404]


Beckenhorn, 12. September.


– – – Was ich von dem Manifeste denke? Tausend Dinge. Ich war am Vierwaldstätter See. Nach einem köstlichen Spaziergang nahm ich abends nach dem Diner die »Indépendance« zur Hand. Ich gestehe, daß ich es fast widerwillig tat ... die Politik ist eine gar so unsaubere Küche! ... Man wollte darauf vergessen, wenn man sich dem Genusse der schönen Natur hingibt, wenn man sich von den menschlichen Miseren in der ungetrübten Reinheit der hohen Gipfel ausruht. Und stellen Sie sich meine Betroffenheit vor: statt der diplomatischen Alltäglichkeiten das Manifest des Kaisers! Das hat mich aufs heftigste erschüttert!

Aber was ich davon denke? Erstens, daß wir alle, die wir mit dem Geiste des Manifestes eines Sinnes sind, Nikolaus II. mit aller Kraft unterstützen sollen; nicht nur gegen seine Gegner, sondern auch gegen seine eigene Person. Das Unternehmen ist von großer Schwierigkeit. Er könnte vor den Hindernissen den Mut verlieren. Dann wird es nötig sein, daß die liberale Meinung Europas und besonders die Friedensvereine ihm eine unermüdliche, nimmerwankende Mitarbeit leisten.

Zweitens, selbst wenn das Manifest keine unmittelbare Folge hätte, so wird es zweifellos mittelbare haben von riesiger Tragweite. Es stellt einen Wendepunkt in der Geschichte Europas dar. Das kann nicht mehr verändert werden.

Kommen Sie nach Turin? Dort wird es sein, wo wir einen ganzen Feldzugsplan entwerfen können. Was mich betrifft, so werde ich, obwohl ich nicht dem Bureau angehöre, jedenfalls hingehen. Wenn ich nicht das Glück habe, Sie in Turin zu sehen, so werde ich auf meiner Rückkehr Ihnen meinen Besuch in Harmannsdorf abstatten.

Genehmigen Sie u.s.w.

J. Novicow.


Heiden, 21. September.


– – – Lassen Sie mich meine Glückwünsche aussprechen zu dem großen Schritt, den der Zar auf dem Wege gemacht, dem Ihr eifrigstes Apostolat geweiht ist. Es ist dies ein riesengroßer Schritt, und was immer geschehe, die Welt wird nicht »Utopie!« schreien; die Geringschätzung unserer Ideen ist ihr versagt; und wenn die Verwirklichung auch dem Kongreß, der sicher stattfinden wird, nicht augenblicklich folgt, so ist sie doch jedenfalls in Gang gebracht. Diese Initiative bleibt auf immer als Präzedenzfall bestehen.

Der Tod der Kaiserin Elisabeth hat mich tief betrübt – – – ach, wären unsere Ideen zehn Jahre früher verwirklicht worden, so gäbe es keine Anarchisten mehr!

Genehmigen Sie u.s.w.

Henri Dunant,

Gründer des Roten Kreuzes.[405]


Die Antworten der Regierungen auf das Manifest liefen sehr bald ein. Fast alle zustimmend. Aber Aufrichtigkeit vermißte man in dem Ton der Zustimmungen und im ganzen Verhalten. Ueberall war gleichzeitig eine Vermehrung der Rüstungen in Aussicht gestellt. Sehr beklagenswert war das Auftreten der deutschen sozialdemokratischen Partei. Nur durch sie soll der Militarismus aus der Welt geschafft werden; will ein anderer es tun, einer, der – nota bene – die Macht dazu besitzt, dann ist es Schwindel und Farce.

Die »Neue Hamburger Zeitung« richtete an hervorragende Zeitgenossen eine Rundfrage, worin sie Meinungsäußerungen über das russische Manifest erbat. Sehr interessante Antworten liefen ein. Zustimmend, mitunter begeistert zustimmend, schrieben unter anderen: Leo Tolstoi, Maurus Jókai, Otto Ernst, Ernst v. Wolzogen, Peter Rosegger, Dr. M. G. Conrad, Cesare Lombroso, General Türr. Ich will aber nur die Antworten hierhersetzen, welche von den Gegnern der Friedensbewegung eingelaufen sind, weil es mir für die Geschichte der Entwicklung allgemeiner Ideen und sozialer Zustände am lehrreichsten erscheint, die Widerstände kennen zu lernen, die zu überwinden waren und noch zu überwinden sind.


Kleine Differenzen können nach Art der Karolinenfrage durch Schiedsgerichte erledigt werden; größere Differenzen werden stets zu Machtproben führen ... der ewige Friede ist im Himmel. Den Himmel auf Erden gibt es nicht.

Pfarrer a. D. Friedrich Naumann.


Eine vieltausendjährige Geschichte spricht leider dagegen, daß der Krieg jemals aufhören wird ... jedenfalls ist der russische Abrüstungsvorschlag einer der geschicktesten diplomatischen Schachzüge der neueren Zeit.

B. v. Werner.


Das sind Fragen der hohen Politik, mit welcher ich mich nicht befasse. Für unseren Handel sind meines Erachtens alle Interessen dem einen hauptsächlichen untergeordnet, daß Deutschland in der Welt geachtet und gefürchtet ist, möglichst ohne gehaßt zu werden. Deshalb hat der Handelsstand ein vitales Interesse daran, daß die Sicherheit des Reiches so gewahrt werde, wie diejenigen es verstehen, die dafür verantwortlich sind.

Ferdinand Laeisz,

Vorsitzender der Hamburger Handelskammer.


Den allgemeinen Anschauungen, schlagfertige Armeen seien unproduktiv, kann ich mich nicht anschließen. Die Armeen sind[406] Schutzmittel der Völker gegen Einbrüche ... Der Abrüstungsgedanke ist kein glücklicher. Man sollte froh sein, daß die schlottrige Gesellschaft zu einer männlichen Erziehung herangebildet wird.

Bildhauer Reinhold Begas.


Diese edle Schwärmerei wird ebenso scheitern wie 1890 die internationale Arbeiterversammlung nach Kaiser Wilhelms Gedanken. Ein mächtiger Staat wird sich einem Urteil, das seine Rechte oder auch nur seine wesentlichen Wünsche verletzt, nie ohne Kampf unterwerfen. Ein Blick auf die Karte genügt: Dem immer möglichen Doppelangriff durch Frankreich und Rußland kann das Reich nur durch Aufbietung aller Kräfte widerstehen. – Ich denke nicht über Utopien. Frankreich macht zur Bedingung jeder Erörterung die Rückgabe der Reichslande, wir machen zur Bedingung den Ausschluß jeder Erörterung dieser Frage. Ich denke, das genügt. Die Reden der privaten Friedensfreunde sind nur nichtig, das Friedenswort des Zaren ist vielleicht Anstoß zum Krieg.

Gastein, am Sedanstage.

Felix Dahn.


Der jetzige Abrüstungsvorschlag des zarischen Rußlands ist Schwindel.

W. Liebknecht.


Je stärker die Rüstungen, desto größer die Scheu vor der Verantwortung, einen Krieg zu entfesseln. Abrüstung würde die Kriege häufiger machen. Verminderung des Präsenzstandes würde einen Teil des Volkes der Schule des Heeres entziehen und seine Tüchtigkeit im allgemeinen verringern ... Lebensfragen der Völker werden immer durch Krieg entschieden werden. Deutschland muß immer an Rüstungen an der Spitze der Großmächte bleiben, weil es die einzige ist, die drei Großmächte zu Nachbarn hat und immer wieder in die Lage kommen kann, einen Krieg mit drei Fronten zu führen. Die Kriege werden mit fortschreitender Zusammenfassung der Staaten von selbst immer seltener. Mehr zu erwarten ist ein Traum und nicht einmal ein schöner. Denn mit der Bürgschaft des ewigen Friedens wäre die Entartung der Menschheit besiegelt.

Dr. Eduard v. Hartmann.


Die klugheitstriefendste Antwort von allen aber hat Herr W. Metzger, sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter des dritten hamburgischen Wahlkreises, gegeben. Er schrieb an die Redaktion, er »verspüre nicht die geringste Neigung, an den russischen Diplomatenkniff auch nur ein Viertelstündchen zu verschwenden«. Der dritte Wahlkreis kann also ruhig sein, sein Vertreter spart seine Zeit für höhere Interessen als die, welche die ganze zivilisierte Welt bewegen.[407]

Dies sind Stimmen einzelner Persönlichkeiten. Was die Zeitungsstimmen betrifft, so habe ich damals auch eine große Anzahl von Ausschnitten gesammelt. Als typisch für den Ton der gegnerischen führe ich folgende Auszüge an:


Heidelberger Zeitung, 30. August.


Der Abrüstungsvorschlag des Zaren geht gegen die Natur und gegen die Kultur. Damit ist ihm das Urteil gesprochen. Freifrau von Suttner, die vor einigen Jahren »Die Waffen nieder« kommandierte und damit bei allen Männern einen Heiterkeitserfolg erzielte, erlebt zwar den großen Triumph, daß der Zar in ihren Ruf einstimmt, allein mehr wie eine kurze Freude wird für Frau von Suttner und alle guten Seelen nicht herauskommen, denn, wie gesagt, die Abrüstung wäre naturwidrig und kulturfeindlich u.s.w.


Hamburger Nachrichten, 18. September.


Als im August die russische Abrüstungsnote erschien, war eine der schlagendsten Kritiken, die daran geübt worden, die: »Fürst Bismarck ist seit 28 Tagen tot!« Es sollte damit gesagt sein, daß man bei Lebzeiten des großen Staatsmannes es vermieden habe, einen derartigen Vorschlag der Diskussion den europäischen Diplomaten zu unterbreiten und seinen Tod abgewartet hatte, um damit hervorzutreten. Wir untersuchen diese Auffassung nicht auf ihre Richtigkeit, sind aber der Ansicht, daß, wenn Fürst Bismarck die Veröffentlichung der russischen Note noch erlebt hätte, er jedenfalls seine volle Autorität eingesetzt haben würde, daß Deutschland sich enthalte, auf einem Kongreß auch nur den allergeringsten Teil seines Rechtes und seiner Pflichten preiszugeben, seine Rüstungen lediglich nach eigenem Ermessen zu bestimmen.


Grenzboten Nr. 37 vom 15. September.


Ein seltsameres Aktenstück als die Friedenskundgebung des Zaren, sein Ruf nach Abrüstung und sein Vorschlag zu einem allgemeinen Kongresse, hat noch niemals das offizielle und nichtoffizielle Europa in Erstaunen gesetzt. Man frage sich: Ist das eine ehrliche Utopie oder steckt dahinter eine tiefe Berechnung der russischen Politik, die bekanntlich an Schlauheit von der Diplomatie keines anderen Staates übertroffen wird. Denn zunächst: eine Utopie bleibt es jedenfalls, trotz aller europäischen »Friedensfreunde« und allem sonstigen Geschwätz von Völkerverbrüderung.


Staatsbürgerzeitung, 9. September.


Unsere Offiziösen glaubten ohne irgendwelche sachliche Prüfung jene Kundgebung mit Trompeten und Pauken bejubeln zu müssen, und zwar lediglich deshalb, weil sie den mächtigen Zaren zum Urheber hat, und sie setzten diese Politik des Bauchrutschens[408] fort, als kein Zweifel mehr darüber bestehen konnte, daß der Urheber dieses Manifestes nicht der Zar, sondern jene internationalen Friedensschwärmer vom Schlage der Suttner und Genossen sind, die bisher kein Mensch ernst genommen hat. Unser Kaiser hat die einzig richtige Antwort auf den Vorschlag des Zaren gefunden; man darf erwarten, daß seine Antwort an der Stelle, für die sie bestimmt ist, auch beherzigt wird, daß der utopistische Gedanke von der internationalen Abrüstungskonferenz, die gar keinen Zweck hat, endlich von der Tagesordnung verschwinde.


Beim Festmahle des westfälischen Provinziallandtages am 8. September sagte Kaiser Wilhelm: »Der Friede wird nie besser gewährleistet sein als durch ein schlagfertiges, kampfbereites Heer, wie wir es jetzt in einzelnen Teilen zu bewundern und uns darüber zu freuen Gelegenheit hatten. Gebe uns Gott, daß es uns immer möglich sei, mit dieser stets schneidigen und guterhaltenen Waffe zu siegen. Dann möge sich der westfälische Bauer auch ruhig schlafen legen.«

27

Die Waffen nieder, VII. Jahrgang, S. 344.

28

Die Waffen nieder, VII. Jahrgang, S. 377.

29

Post hoc ist nicht propter hoc. Wenn es mich auch freute, zu hören, daß der Zar mein Buch kurz vor dem Erscheinen des Manifestes gelesen, so war ich stets überzeugt, daß eine lange Kette vieler Einflüsse, unter welcher derjenige einer Romanlektüre nur ein ganz minimaler gewesen sein kann, einer solchen Aktion vorangegangen sein muß. Später habe ich erfahren, daß besonders das Werk Blochs einen tiefen Eindruck auf den Zaren gemacht; damals vermutete ich, daß Professor Martens das Dokument mit inspiriert habe, und schrieb ihm darüber. Seine Antwort lautete:

Villa Waldeuse près Wolmar

(Livona) le 9 septembre 1898.

Madame la Baronne,

Je m'empresse de vous présenter mes remercîments les plus sincères pour l'aimable lettre en date du 4 ct., dont vous m'avez honoré. Je ne sais pas jusqu'à quel point mon enseignement a pu enfluencer Sa Majesté l'Empereur ou ses conseillers dans la noble tâche qu'ils ont posée aux gouvernements et aux nations du monde civilisé.

Je n'ai pris aucune part directe dans le célèbre rescrit du 12 (24) août, demeurant depuis quelques mois dans mon bien, au Livonie, loin de la capitale.

Mais c'est avec la plus vive sympathie et la plus sincère admiration que j'ai applaudi à la généreuse démarche, faite par mon Auguste Maître pour le bien-être et la bonheur de toutes les nations civilisées.

Quant aux notes bibliographiques, je me ferai un devoir de vous les communiquer après la réunion de la »conférence de la paix«. Dans ce moment-ci je suis trop occupé par mes affaires de service.

En renouvelant mes remercîments très respectueux, je vous prie, Madame la Baronne, de vouloir bien agréer l'assurance de ma très haute considération.

Martens.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 398-409.
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