23. Ein Winter in Paris

[169] Nun folgte wieder eine lange fleißige Arbeitszeit im lieben Harmannsdorf. Auch im Winter blieben wir alle auf dem Lande. Das Palais in Wien war inzwischen verkauft worden, denn die Steinbruch- und sonstigen Geschäfte waren schief gegangen. Aber es sehnte sich niemand von uns nach der Stadt; das gesellige Zusammensein der zahlreichen Familienglieder, die Schlittenpartien auf den beschneiten Feldern, die Poststunde mit ihren umfangreichen Botschaften aus der weiten Welt, die arbeitsfrohen Sitzungen an unserem gemeinsamen Werktisch, das gegenseitige Vorlesen irgendeines interessanten wissenschaftlichen Buches, die vielen kleinen Scherze und Dummheiten, die sich noch immer zwischen uns abspielten, denn wir blieben wie die Kinder, das alles füllte so befriedigend unsere Tage, daß wir wahrlich nicht nach den Freuden der Großstadt begehrten. Und dann, wenn um Ostern herum das Frühjahr erwachte, wie genossen wir da den Fund des ersten Veilchens auf den Rasenplätzen des Parkes, und immer steigernd folgten sich diese Freuden an den ersten Fliederdolden, dem ersten Kuckucksruf, dem ersten Amselschlag.

»Das ist doch lieblicher zu hören,« bemerkte der Meine, »als Schakalgeheul. Nun, der Lenz in der Heimat Medeas war ja auch ganz schön, aber der Reiz der kindheitsgewohnten Dinge, die Schönheit des eigenen Gartens, die tausend Grüße, die aus den Tönen, Düften und Farben des eigenen Heims winken, das alles ist doch süßer als die herrlichsten Reiseeindrücke.«

In dieser Zeit habe ich den »Schriftstellerroman« und »Das Maschinenzeitalter« geschrieben. Letztere Arbeit gewährte mir einen[169] großen Genuß, denn ich wälzte mir darin alles von der Seele, was sich in ihr an Groll und Leid über die Zustände der Gegenwart und an Hoffnungsgluten über die verheißende Zukunft angesammelt hatte. Das Buch sollte nicht unter meinem Namen erscheinen; es war gezeichnet von »Jemand«. Feigheit war nicht das Motiv dieser Pseudonymität; sondern weil es durchaus wissenschaftliche und philosophische Themen sind, über die im »Maschinenzeitalter« in ganz freier Weise verhandelt wird, so fürchtete ich, daß das Buch diejenigen Leser, die ich mir wünschte, nicht erreichen würde, wenn es mit einem Frauennamen gezeichnet wäre, denn in wissenschaftlichen Kreisen herrscht so viel Vorurteil gegen die Denkfähigkeit der Frauen, daß das mit einem Frauennamen gezeichnete Buch von solchen einfach ungelesen geblieben wäre, für die es eigentlich bestimmt war.

Als nach unserer Rückkehr aus dem Kaukasus der zweite Winter ins Land zog, beschlossen wir, uns ein Stückchen europäischer Welt anzusehen. Das »Maschinenzeitalter« war fertig, und ich hatte – nicht ohne Mühe – einen Verleger dafür gefunden: Schabelitz in der Schweiz. Erscheinen sollte es erst im Frühjahr.

Wir entschlossen uns, einige Wochen in Paris zuzubringen, das der Meine noch nicht kannte. Ein Romanhonorar genügte, die Auslagen des Ausflugs zu bestreiten, und wir machten uns mit dem vollen Lustgefühl, das dem Begriff Vergnügungsreise anhaftet, auf den Weg. Ich erinnere mich noch: es lag tiefer Schnee auf den Harmannsdorfer Feldern und ein heftiger Schneesturm wehte uns ins Gesicht, als uns der Schlitten zur Station brachte, und wir freuten uns und lachten unbändig. Würde uns der Weg verweht, nun, so würden wir einen anderen Tag abreisen; da waren wir von unseren Ausflügen im Kaukasus an andere Schwierigkeiten gewöhnt; dort waren wir oft am Abgrundsrand und über schmale, schwankende Brücken geritten, waren bis zur Fähre gelangt, über die der Fährmann uns aber wegen des allzu geschwollenen Wassers nicht setzen wollte, und dann hieß es in einer Holzhütte einkehren, mit einem Mahl von Brot, Sardinen und Kachetinerwein sich begnügen, auf einer nackten Holzbank schlafen – und doch: auch das Bild dieser Erlebnisse riefen wir uns oft als fröhliche Erinnerungen zurück. – Der Schlitten brachte uns ohne Fährnis zur Station; nur der Gepäckschlitten kam verspätet an, wir mußten daher einen späteren Zug abwarten und konnten nicht, wie wir gewollt, noch am selben Tag die Reise nach Paris fortsetzen, sondern mußten einen Tag in Wien bleiben.

Der Aufenthalt in Paris gestaltete sich für uns sehr genußreich:[170] Flanieren auf den Boulevards und in den Champs-Elysees, Spazierenfahren im Bois, häufige Besuche der großen und kleinen Theater, Streifungen in den Museen, Ausflüge nach Versailles, St. Cloud und Sèvres, und was ähnliche Vergnügungen mehr sind, die sich jeder Parisreisende schuldig ist.

Ich schrieb ein Billett an Alfred Nobel, mit dem ich die ganze Zeit über in brieflichem Kontakt geblieben war – es waren in den elf Jahren vielleicht elf Briefe zwischen uns getauscht worden –, um ihn von unserer Anwesenheit in Paris zu avisieren. Er kam unverzüglich uns aufzusuchen. Ich fand ihn unverändert, nur etwas grau geworden, aber in seine Arbeiten und Erfindungen vertiefter als je. Der Meine interessierte sich heftig für seine chemischen Arbeiten, die er ihm an der Hand seiner Tiegel und Apparate eingehend erklärte, als er uns an einem der nächsten Tage, für den er uns zu Tisch gebeten, die Honneurs seines Hauses und seines Laboratoriums machte. Er lebte noch immer sehr abgeschlossen von der Welt; das einzige Haus, das er manchmal besuchte, war das der Madame Juliette Adam, und er führte uns dort ein.

Die Verfasserin von »Païenne« und Herausgeberin der »Nouvelle Revue« bewohnte ein eigenes, in der Rue Juliette Lambert, also in einer nach ihr benannten Straße, gelegenes Haus. Bekanntlich war Madame Adam eine große »Patriotin«; diese Benennung bedeutete in jener Zeit Trägerin des Revanchegedankens. Ich erinnere mich auch, daß sie gleich bei unserem ersten Besuch das Gespräch in das politische Gebiet einlenkte. Es war aber auch gerade damals ein Moment, wo allgemein geglaubt wurde, daß der seit sechzehn Jahren vorhergesagte Revanchekrieg im Anzug war. Herr von Bismarck brauchte damals eben ein für sieben Jahre gültiges Militärgesetz, und da wurde im deutschen Parlament die bei solchen Gelegenheiten übliche Methode des »Krieg in Sicht« angewendet. Das Mittel ist probat: daraufhin werden alle Militärforderungen glatt bewilligt. Ferner ereignete sich der Grenzzwischenfall »Schnäbele«, und am Horizont zeigte sich, langsam aufsteigend, das schwarze Roß des Generals Boulanger. Das war eine Kannegießerei! Wo man hinkam, überall die Frage: Wird es losgehen? In den Zeitungen, und mehr noch in der Luft die Erwartung irgendeines großen Geschehnisses; im »Chat noir«, dem berühmten Künstler-Gschnas-Café (Ahnherr sämtlicher heute die Welt überflutenden Kabarette), führt Caran d'Ache sein Schattenspiel »L'Epopée«, napoleonische Kriegsszenen, auf und »cela fait vibrer la fibre patriotique«. Auch Madame Adam vibrierte. Uebrigens lud sie uns sehr freundlich zu[171] einem großen Empfangsabend ein, der in den nächsten Tagen bei ihr stattfinden sollte. Von dieser Soiree habe ich ein ziemlich lebhaftes Erinnerungsbild bewahrt:

Das kleine Haus der Rue Juliette Lambert war vom ersten Treppenabsatz bis in die letzten Winkel der Salons mit Gästen gefüllt. An der Schwelle der Salontür stand Madame Adam. Eine imposante und einnehmende Erscheinung. Sie trug ein dunkelrotes Samtkleid mit langer Schleppe, Diamanten am Ausschnittrand und Diamanten im hochfrisierten weißen Haar. Unter diesem weißen Haar sah das Gesicht – etwas in der Art der Marie Geistinger als »schöne Helena« – noch jugendlich aus. Natürlich, wie das so Hausfrauenpflicht, sagte sie mit verbindlichem Lächeln jedem etwas Verbindliches.

»Ach, lieber Baron,« sagte sie zu meinem Mann, »Sie sind mir so sympathisch, weil das Land, das Sie in Ihren Büchern so vortrefflich schildern, der halbwilde Kaukasus, mir so anziehend ist.«

Nun ja, wie sehr alles Russische Madame Adam, die Verherrlicherin des Aksakow und des General Skobelew, anzog, das wußte man ja. ›Wie kann sich nur eine Frau überhaupt so viel mit Politik beschäftigen,‹ dachte ich damals. ›Wie viele Unannehmlichkeiten und mitunter – Lächerlichkeiten zieht sie sich dadurch zu! Und wie kann man sich auch noch mit der Herausgabe einer Revue plagen!‹

Es waren viele hervorragende Männer – Künstler, Schriftsteller, Politiker in den Salons der Madame Adam versammelt, und viele hübsche Frauen. Als eine der gefeiertsten Schönheiten der Pariser Gesellschaft zeigte man uns Madame Napoleon Ney. Leider konnte man nicht mit allen interessanten Personen bekannt werden, das Gedränge war so groß, daß man in seiner Ecke bleiben mußte und sich an der Unterhaltung mit einigen Nebenstehenden begnügen. Und zumeist hatte man schweigend zu lauschen, denn – wie das so Pariser Sitte war – den Gästen wurden allerlei Kunstgenüsse serviert: ein Pianist trug ungarische Melodien vor; ein noch unbekannter, vielversprechender Autor las ein paar Novelletten, und Mademoiselle Brandés, damals noch nicht am Théâtre Français engagiert, deklamierte ein Gedicht. Aber auch hier, inmitten dieser künstlerischen und geselligen Heiterkeit, schwirrte das düstere Wort »Krieg« durch den Raum; dort und da fielen die Namen Bismarck und Moltke, Schnäbele – und Prophezeiungen, daß im nächsten Frühjahr es ganz gewiß zu etwas kommen würde, wurden zuversichtlich vorgebracht, was übrigens die fröhliche Stimmung nicht beeinträchtigte und in der für vaterländischen Ruhm erglühenden Hausfrau wahrscheinlich[172] schöne Hoffnungen erregte. Ich war diesen Dingen gegenüber nicht mehr so gleichgültig wie in meinen Jugendjahren. Schon haßte ich den Krieg mit Inbrunst – und dieses leichtfertige Tändeln mit seiner Möglichkeit schien mir ebenso gewissenlos wie urteilslos.

Eine große Freude war es uns, in Paris eine Freundin aus dem Kaukasus wiederzufinden: die Fürstin Tamara von Georgien. Die schöne junge Witwe hatte sich mit ihren beiden halberwachsenen Mädchen schon seit einem Jahre in der französischen Hauptstadt niedergelassen und sich eine reizende Wohnung im Elyseeviertel eingerichtet. Wir waren sehr häufig bei ihr eingeladen und trafen in ihrem Salon stets zahlreiche, zumeist russische Gesellschaft. General Baron Frederiks, der nachmalige und noch gegenwärtige Oberzeremonienmeister des Zaren, war ein Freund des Hauses.

Literarischen Umgang pflegten wir viel. Ein Dr. Löwenthal, der schon anläßlich des »Inventariums einer Seele« mir nach dem Kaukasus geschrieben hatte, und mit dem wir beide, nach eifrigem Gedankenaustausch, eng befreundet geworden, machte uns mit Max Nordau bekannt. Der vielgefeierte Verfasser der »Konventionellen Lügen«, damals erst achtunddreißig Jahre alt, hatte zwar sehr dichte, aber schon schneeweiße Haare, was seinem schwarzbärtigen und schwarzäugigen interessanten Gesicht übrigens sehr gut stand. Es sind einige mir unvergeßliche Stunden, die wir vier im Gespräche über die herrliche Gotteswelt und die konventionelle, verlogene Menschenwelt verbracht haben.

Im Hause Buloz, wo wir einige Tage nach der Adamschen Soiree einem Ball beiwohnten, gab es nicht so viel politischen Beigeschmack wie im Heim der »Nouvelle Revue«; hier wurde nur diesen zweien gehuldigt: der »Revue des deux Mondes« und der Académie Française. Das Haus Buloz galt als ein Mittelpunkt des Pariser literarisch-intellektuellen Lebens. An den Dienstagen der Madame Buloz war die Hälfte der Vierzig Unsterblichen vertreten, und selbstverständlich der ganze Mitarbeiterstab der Revue, aus dem die Académie sich ja so häufig rekrutiert. Das alte massive Palais im Faubourg St. Germain, das im Erdgeschoß die Bureaus der Revue und im ersten Stock große Empfangsräume enthält, hatte einen ernsten und vornehmen Anstrich. Die Einrichtung des Salons war von gediegener, reicher Einfachheit. Der ganze Ton im Hause etwas steif, puristisch, gelehrt – kurz akademisch. Derselbe Ton, der ja auch die so oft unaufgeschnitten bleibenden Seiten der Abhandlungen in der alten Revue durchweht. Das Eheleben der Hausleute schien musterhaft. Herr Buloz, ein ernst und gesetzt aussehender,[173] dabei liebenswürdiger Mann von ungefähr vierzig Jahren mit spitz gestutztem rotem Vollbart – am liebsten von seiner Revue sprechend, deren Leitung ihn sehr viel Arbeit kostete, denn er las jede Zeile der eingesandten Manuskripte und wehrte streng dem etwaigen Einbruch frivoler Realistik – wer hätte damals ahnen können, daß wenige Jahre später er sich von seiner Revue werde trennen müssen, und unter so frivolen Umständen noch dazu, wie er keinem seiner Mitarbeiter erlaubt hätte, in einem Roman zu verwenden. Höchst überraschend und bestürzend für das ganze ernste Milieu kam die plötzliche Entdeckung, daß Herr Buloz beinahe sein ganzes Vermögen vertan und noch eine Million Schulden hatte – alles für eine Frau. Da kam es zur Scheidung – ich weiß nicht, ob von seiner Frau oder ob Madame Buloz ihm verziehen hat, aber zur Scheidung von seiner Revue, dem stolzen väterlichen Erbe. Er mußte aus der Direktion austreten, und die Monatsschrift, welche seit ihrer Gründung, durch mehr als fünfzig Jahre, von Vater auf Sohn mit dem Namen Charles Buloz gezeichnet war, erschien nunmehr unter dem Namen Brunetière. Das Unternehmen hat seither an Verbreitung abgenommen; es sind verschiedene neue Monatsschriften ins Leben getreten, welche dieser Ahnfrau unter den Revuen scharfe Konkurrenz machen. Damals war sie in voller Blüte; sie erschien in 25000 Exemplaren und warf den Aktionären eine hohe, stets wachsende Dividende ab. Auf jenem Balle erzählte mir Herr Buloz, daß sein Vater das Blatt durch dreißig Jahre mit Defizit herausgegeben hatte, dann plötzlich kam der Umschwung – die Revue ward in der ganzen Welt gelesen, und ihre Besitzer wurden zu Millionären.

»Sehen Sie, gnädige Frau,« fügte Herr Buloz scherzend hinzu, »wenn sich eine Zeitschrift eine Zeitlang erhalten hat, so kann sie auf weiteren Bestand und einigen Gewinn hoffen – nur die ersten dreißig Jahre sind etwas schwierig zu umschiffen.«

Die im Hause Buloz angeknüpften Beziehungen führten uns auch zum Verkehr mit verschiedenen Mitgliedern der Académie. Ich erinnere mich eines Abends, den wir bei Victor Cherbuliez zubrachten, und wo wir mit Erneste Renan zusammentrafen. Es war nur ein ganz kleiner Kreis von Menschen, der sich da um den Kamin gruppiert hatte, und da gab es eine richtige »Causerie«, wie man sie in den mit Hunderten von Menschen gefüllten Empfangssälen nicht erleben kann. Anwesend waren: Herr und Frau Cherbuliez, deren Tochter, Herr und Frau Renan, Herr von Rothan, ehemaliger Diplomat und Verfasser sehr geschätzter politischer Artikel und zeitgeschichtlicher Erinnerungen, namentlich aus Elsaß-Lothringen, – dessen[174] Frau und schließlich Ludovic Halévy, der jüngste unter den Akademikern. Der lustige Blasphemator des griechischen Olymps – hatte er doch mit Hilfe des ebenso lustigen Meilhac Jupiter, Juno, Venus und Mars dem musikalischen Hohne Offenbachs preisgegeben –, der Schöpfer der »zum Theater gegangenen« Töchter der Hausmeisterin Madame Cardinal – war auch in seiner Unterhaltung sprühend von Witz. Als Romancier ist ihm jedoch das Anschlagen ernster Saiten auch gelungen; man denke an seinen sentimental angehauchten und für höhere Töchter unverfänglichen Roman »L'Abbé Constantin«; und namentlich ließ er sich das In-Schwingung-bringen der berühmten patriotischen Fiber nicht entgehen; er machte sich zum Historiographen des feindlichen Einfalls von 1871 und feierte den militärischen Ruhm und das heldenhafte Unglück der Besiegten.

So kam es auch, daß, als an jenem Abend das Gespräch die herrschende Tagesfrage – die drohende Kriegswolke – streifte, Halévy mit einigem Pathos den vielleicht nahenden Tag der Vergeltung begrüßte.

Renan widersprach heftig. Er machte aus seinem Abscheu für Völkermetzeleien überhaupt kein Hehl, aber besonders schmerzte ihn, den Denker, die Feindschaft zwischen seiner Nation und der »Nation der Denker«. Er gab zu, von der deutschen Philosophie viel gelernt zu haben, und sprach mit größtem Respekt von ihren Vertretern aus der alten und neuen Zeit.

Daß Renan in seiner äußeren Erscheinung häßlich sei, hatte ich erwartet, denn das war ja bekannt; aber diese Erwartung wurde noch übertroffen: klein, dick, fahl, mit einem breiten, bartlosen Gesicht, das an die Grütznerschen Klosterbrüder erinnert, ein ungeheurer kahler Schädel – so machte mir der Verfasser des »Leben Jesu« beim ersten Anblick den Eindruck, daß er der häßlichste Mensch sei, den ich im Leben gesehen. Nach zehn Minuten, wenn er zu sprechen begonnen hatte, war dieser Eindruck verwischt. Nicht nur leidlich erschien er mir da, sondern im Besitze eines wahren Zaubers.

Ein anderer Bezauberer, den wir in Paris kennen lernten, war Alphonse Daudet. Bei diesem gesellte sich der Macht des Geistes, der feurigen, leichtfließenden Rede noch die äußerlich schöne Erscheinung hinzu. Mit seinen blitzenden schwarzen Augen, seinem lockigen dichten Haupthaar, seinen beweglichen edeln Zügen hätte Alphonse Daudet allen gefallen müssen, auch ohne Alphonse Daudet zu sein. Seine Frau, welche ihm mehr Mitarbeiterin war, als die Welt ahnt – obwohl er ihr unumwunden dankendes Zeugnis dafür ausgestellt hat –, war gleichfalls sehr einnehmenden Wesens. Ich[175] besuchte sie öfters an ihrem Jour. Der Herr des Hauses war bei diesen Gelegenheiten nicht anwesend, sondern blieb in seinem Arbeitszimmer verschlossen. In diesem war es, wo er uns empfing und mit seiner feurigen Unterhaltungsgabe entzückte.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 169-176.
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