35. Moritz von Egidy

[247] Von Halbheit halte den Pfad rein,

Der ganze Mann setzt ganze Tat ein,

Und wahre Ehre muß ohne Naht sein.

Ernst Ziel.


Als durch die Blätter die Nachricht ging, ein Oberstleutnant der preußischen Armee habe eine Flugschrift »Ernste Gedanken« veröffentlicht, worin sich der Verfasser von der kirchlichen Lehre lossagt, und daß er infolgedessen seinen Abschied habe nehmen müssen, so fand man die Nachricht pikant. Man ließ sich die Broschüre kommen in der Erwartung, darin die Ansichten eines Religionsfeindes zu finden, und siehe da: es waren die Gedanken, die ernsten und bewegten Gedanken eines der religiösesten, christlichsten Männer, die es geben kann; aber eines solchen, der wie unzählige seiner Zeitgenossen, die Dogmen und die Formeln der offiziellen Orthodoxie nicht für wahr und bindend hält, der jedoch – im Gegensatz zu den Zeitgenossen, die über diesen Zwiespalt hinweggehen – es mit seiner Menschenwürde, mit seiner Religiosität nicht vereinbar findet, einen Glauben zu heucheln, den er nicht hegt.

Seine Forderung ging dahin, daß die Kirche aufhören möge, Glaubenssätze aufzudrängen, die mit dem Zeitbewußtsein im Widerspruch stehen, und daß statt der engen Konfessionen ein weites, großes, einiges Christentum alle jene umfasse, die das Bedürfnis eines weihevollen Lebens fühlen und den Glauben an Gott und das christliche Ideal im Herzen tragen.

Ehrlich, fest, offen, von innerer Wärme durchglüht, war jedes Wort in dem kleinen Hefte, und wer auch auf ganz anderem Standpunkte sich befand, d.h. wer nicht bis zu dem Zweifelgrade des Verfassers oder aber weit darüber hinaus gelangt war, mußte doch den einen Wunsch empfinden: diesem Manne die Hand zu drücken.

Daß es sich mit dem Stande eines aktiven Offiziers nicht verträgt, Gedanken auszudrücken, die nicht nur »ernst«, sondern revolutionär sind, indem sie an einer eingewurzelten und vom Staate sanktionierten Institution rütteln, das hat der Gemaßregelte wohl selber eingesehen, und er nahm seine Entlassung ohne Groll, als etwas Natürliches hin. Und dort, wo er sich hingestellt hatte, blieb er stehen, erhobenen Hauptes.

Der Mitwelt zu nützen, ihr einen Ausweg zu bahnen aus unhaltbaren Widersprüchen; die Heiligkeit der echten, inneren Religiosität von äußerer Lügenfessel zu befreien: das war's, was ihn gezwungen[247] hatte zu schreiben. Und das begonnene Werk weiterzuführen, dazu fühlte er sich doppelt verpflichtet, nachdem Unzählige ihm zugeströmt, seiner weiteren Führung harrend.

Der obige Satz: »Wo er sich hingestellt, dort blieb er stehen,« ist eigentlich unrichtig, denn von dieser Stelle ging Egidy Schritt für Schritt weiter, in derselben Richtung – d.h. den Erkenntnispfad bergan –, in derselben entschlossenen Gangart, und wo er einige Jahre später hielt, hatte sich sein Seh- und damit auch sein Wirkungskreis unberechenbar geweitet. Obwohl er sich immer treu geblieben, oder vielmehr, indem er sich treu blieb, ist er seit dem ersten Heraustreten mit den »Ernsten Gedanken« schier ein anderer geworden; er hat mit gleichem Ernste weiter gedacht, mit steigender Kraft weiter gewollt, und das Gebiet, welches er am Schlusse seiner Laufbahn überblickte, das Ideal, dem er dann nachstrebte, reichte so weit über seine erste Kundgebung hinaus wie diese über den eng dogmatischen Kurs, von dem er sich ursprünglich losgesagt. Dabei brauchte er das Fundament seines Strebens keinen Augenblick zu verleugnen; die Losung, der er folgte, hieß nach wie vor und bis zuletzt: »Religion nicht mehr neben unserem Leben, unser Leben selbst Religion!« Nur hieß seine Religion dann nicht mehr »Nur-Christentum«, sondern: der Drang zum Guten, die innere Weihe, das Streben nach Erkenntnis, nach Entwicklung. – »Liebe ist Kraft« –, das war ein anderes der Egidyschen Leitworte. Mit der Forderung eines Wandels auf religiösem Gebiete hatte er angefangen, weil er da zuerst den Widerspruch zwischen alten Satzungen und neuen Geistesbedürfnissen empfand; nach und nach aber hatten sich seine Forderungen auf die Besserung aller, namentlich der sozialen und politischen Zustände erstreckt.

Mit einer Charakterkraft, die nur von seiner Arbeitskraft erreicht wurde, hatte er sich in den Dienst seiner Ueberzeugungen gestellt. Er machte Vortragsreisen, gab eine Wochenschrift »Die Versöhnung« heraus, stand jedem Red' und Antwort – persönlich und brieflich –, der ihm als Ratsuchender oder als Gegner entgegentrat; er nahm zu allen Zeitfragen und Zeitereignissen offen Stellung, und bei den Wahlen meldete er sich als Kandidat in den Reichstag.

Das Ergebnis der Wahlen fiel aber nicht zu seinen Gunsten aus. Wer sich auf kein Parteiprogramm einschwört, dem fehlen die Stimmengeber, denn diese sind ja gleichfalls in das Parteiwesen eingedrillt.

Nachfolgend einige Sätze, die ich aus seinem Aufruf an die Wähler abgeschrieben. Vorausgesendet sei nur, daß dieser Mann[248] niemals »opportun« gewesen ist, daß er es stets verschmähte, A zu sagen und B zu insinuieren oder Grau hervorzukehren, um Weiß zu erreichen. Diese Methode ist freilich nach herrschender Sitte eine unpolitische, und wahrscheinlich ist darum der Versuch Egidys, in das politische Leben einzutreten, gescheitert. Der Partei- und Sonderinteressenkult, in dem unser Leben versenkt ist, verträgt sich schlecht mit einer Reihe von Erklärungen, deren erster Satz lautete: »Ich gehöre keiner Partei und keiner Interessengruppe an« und worin es weiter heißt: »Nicht um das Wohl einer Gruppe, einer Klasse, nicht um die Grundsätze einer Partei handelt es sich; es handelt sich darum, der Gemeinsamkeit – ohne jede Einschränkung des Begriffs – zu dienen. Wer nicht den Begriff ›Gemeinsamkeit‹ in seiner ganzen Vollständigkeit und Hoheit in Herz und Kopf aufzunehmen vermag, der ist kein Volksvertreter, wie die Zeit ihn braucht.«

Das Ziel, welches Egidy vor sich sah, war »eine durch nichts eingeschränkte geistige Selbständigkeit und ein gegen materielle Vergewaltigung gesichertes Dasein jedes einzelnen, denn das sind die Bedingungen innerer Freiheit. Ein Wohl außerhalb der Freiheit gibt es nicht – wenigstens für niemand, der sich Mensch fühlt. Ehe nicht alle frei sind, ist keiner frei. Der herrschende Teil im Volke ist ebensowenig frei wie der beherrschte. Die stete Angst um den Verlust der Herrschaft lähmt das Wohlgefühl – macht unfrei.«

»Wir brauchen Zustände, die jedem im Volke eine menschenwürdige Lebensführung ermöglichen. Wir sind ein mündiges Volk und werden uns diese Zustände schaffen. Der Weg zu diesem Ziele: die friedliche Umwandlung unserer Zustände aus der Gegenwart heraus, unter selbstloser Mitwirkung aller. Keine Tabula rasa – nicht: von übermorgen ›Zukunftsstaat‹. Wohl aber ein in irgendeiner Form sich kundgebender Entschluß des Volkes: von nun an beherrschen andere Grundanschauungen unsere Einrichtungen und damit unser Dasein. Die Wandlung der Zustände vollzieht sich nach Maßgabe der in uns selber fortschreitenden Entwicklung.

»Wir stehen alle – ohne Ausnahme – in der Entwicklung. Der Uebergang zur neuen Weltanschauung, seit langem im Anzuge, vollzieht sich in den nächsten Jahren in der Volksseele. Wer diese Entwicklung hemmt, frevelt wider Gottes Ordnung. Erst wenn Vernünftigkeit und natürliches Empfinden das Denken der Mehrheit beherrschen, dürfen wir an das eigentliche Bauen denken. Alle Zwischenunternehmungen sind Baracken, die von dem Geist der neuen Zeit, wie er in kurzem mit elementarer Gewalt in Erscheinung treten wird, zusammengedrückt werden.«[249]

Auch wie Egidy sich zu den in der Zeit seiner Kandidatur schwebenden Militärvorlagen verhält, spricht er sich in einer Weise aus, wie dies bisher bei uns zulande noch von keinem Abgeordneten geschehen. Er bindet sich weder an Ja oder Nein. Er behält sich vor, jedesmal die Situation zu prüfen:

»Wollte man den Dienst des Volksvertreters so auffassen, wie manche es meinen, so brauchte er nicht erst den Saal zu betreten, sondern könnte das ihm von seinen Wählern aufgedrückte Nein oder Ja für jede Einzelfrage schriftlich einsenden. Gerade weil ich so kühn an den Sieg des Guten in der Welt überhaupt glaube, gerade weil ich felsenfest an den Frieden glaube, muß ich gewissenhaft auch die anderen hören. Faßt der Volksvertreter heute schon eine ihn bindende Entschließung, so begibt er sich des Rechts, mit Fragen, Wünschen, Vorschlägen und Erörterungen an die Forderer heranzutreten. Welcher Auskunft bedarf jemand noch, der abgestempelt ist?

»Ernste Betrachtungen dagegen muß ein Wahlbewerber über diese wie über jede Frage mit sich herumtragen. Meine Betrachtungen sind die: Wir stehen nach meiner Ueberzeugung weder unmittelbar vor einem Kriege, noch ist ein Krieg unter den Kulturvölkern überhaupt fernerhin denkbar. Wir stehen vor dem Frieden. Der Schlachtenkrieg ist eine durch das Kulturbewußtsein überwundene Erscheinung. Frieden heißt nicht: kein Kampf mehr, Frieden heißt nur: kein Krieg mehr. Daß wir selbst den Krieg nicht wünschen oder bedürfen, beteuern wir bei jeder Gelegenheit; die Nachbarn versichern dasselbe. Entweder trauen wir diesen Versicherungen, dann hindert uns nichts, den Frieden dementsprechend zu verwirklichen – heute leben wir nur in Waffenstillstand – oder: wir trauen diesen Versicherungen nicht, dann müssen wir uns umgehend Gewißheit verschaffen, wie wir mit den Nachbarn stehen. Der heutige Zustand ist einer vornehmen Nation unwürdig. ›Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt‹ – es fehlt aber der Beweis, daß der Nachbar böse ist; es fehlt der Beweis, daß es dem Nachbar nicht gefällt; – es fehlt aber vor allem der Nachweis, daß es dem Nachbar auch von dem Augenblick an nicht gefallen würde, wo wir den Frieden anbahnen; ganz abgesehen davon, daß wir kein Recht haben, uns als Frömmste zu bezeichnen. – Noch nichts ist geschehen, die Nachbarn von unserer Friedensliebe durch Taten zu überzeugen. Erst wenn dahin abzielende Versuche ein versagendes Ergebnis gezeigt, dann erst dürfen wir sagen, der Nachbar denkt an den Krieg. Dann aber fahren wir lieber heute dazwischen wie morgen. Ich werde also zunächst die Beweisführung[250] der von den Forderern etwa angeführten Gefahrsmomente erbitten und werde nach Erfordern zu Maßnahmen anregen, die den Nachbarn unsere allezeit ausgesprochene Friedensliebe betätigen. Si vis pacem, para pacem. Einer muß anfangen; der darf anfangen, der sich seiner Kraft am fühlbarsten bewußt ist; der muß anfangen, der mit bestem Gewissen sagen kann: nicht aus Furcht vor dem Kriege lege ich die Waffen nieder, sondern aus Liebe zum Frieden. Die Mannheit der Nation soll gewiß nicht verloren gehen; zu ihrer Uebung aber bedarf es fürder nicht des Kriegshandwerks, zu ihrer Bewahrung nicht des Schlachtfeldes.«

Es war eine Zeit, da im Deutschen Reich die Bekämpfung der sogenannten Umsturzparteien auf der Tagesordnung stand. Auch zu dieser Frage nahm Egidy Stellung, und dabei gestalteten sich seine Ausführungen besonders fesselnd, denn seine Auffassung von »Religion, Ordnung, Sitte« – drei von ihm allerdings sehr hoch gehaltene Begriffe – unterschieden sich gründlich von der landläufigen Auffassung, die das Festklammern an alles Bestehende fordert. Wer unter dem Banner der Entwicklung kämpft, der will das Bestehende zwar nicht »umstürzen«, aber »umwandeln«. Ich lasse Egidy das Wort:

»Ich sehe überhaupt keinen Umsturz drohen, empfinde wenigstens so lange nichts von Bedrohung, als mir die heute noch unerschütterte Zuversicht bleibt: wir werden zur rechten Zeit zur Vernünftigkeit erwachen. An Umsturz braucht zunächst gar nicht gedacht zu werden, nur an den Einsturz, an den Zusammenbruch einer veralteten Weltanschauung. – Zum Umsturz, d.h. zu einem Drunter und Drüber, zu einem Schreckenszustand kann es nur kommen, wenn die Vertreter der bisherigen Ordnung in trauriger Verblendung oder gar aus selbstischen Gründen sich gegen den Zusammenbruch veralteter Vorstellungen auflehnen, sich gegen den Einsturz unhaltbarer Gestaltungen anstemmen. Daß sie den Zusammenbruch verhindern können, daran ist ja natürlich nicht zu denken, so wenig wie sich jemand einbilden darf, daß er diesen Einsturz veranlaßt hat.«

Der Stil Egidys erhält ein eigenes Gepräge durch die Knappheit und Durchsichtigkeit des Ausdrucks, welche die Folgen der vollen Aufrichtigkeit und Geradheit des Denkens ist. Niemals findet sich da, einer wohlklingenden Satzwendung oder einem rhetorischen Effekt zuliebe, ein überflüssiges oder umschriebenes Wort, wohl aber schafft sich die starke Empfindung mitunter Zusammenziehungen, Neubildungen, die ungewollt zu stilistischen Schönheiten werden:

»Die Gemeinsamkeit ist ein lebender Organismus, dessen Schäden[251] nur von innen heraus, nur durch ein neues, reines, warmes Herzblut geheilt werden können. Keine Empfindelei, kein klingendes Wortgetöse. Sich-entschließen-wollen. Jeder in seiner Weise auch tun. Wir wollen praktische, wollen Verwirklichungs-, wollen Tatidealisten sein.«

Wir hatten eben Besuch, als uns Oberstleutnant von Egidy gemeldet wurde: Unser Botschafter, Graf Szechenyi, und Ossip Schubin, die berühmte österreichische Romanciere; diese war seit einiger Zeit mit ihrer Schwester, der Malerin, aus Böhmen nach Berlin übersiedelt. Eine hübsche, lebhafte, elegante Frau. Damals war wieder einer ihrer Romane erschienen, der ihren schon bewährten Ruf, eine famose Schilderin österreichischen Gesellschaftslebens zu sein, neuerdings verstärkt hatte. Beim Eintritt Egidys verabschiedete sich Graf Szechenyi, aber Ossip Schubin blieb noch eine Weile. Freudig gingen wir unserem Besucher entgegen und schüttelten seine Hände. Nach langem Briefwechsel ist ein erstmaliges Sehen doch ein Wiedersehen.

Egidy, obwohl eher klein als groß von Gestalt, sah sehr martialisch aus; Haltung, Stimme, Akzent: ganz preußischer Husarenoffizier. Das strenge Gesicht mit dem dicken Schnurrbart war aber von einem Paar lächelnden, leuchtenden blauen Augen verklärt.

Durch die Anwesenheit der fremden Dame blieb die Konversation anfänglich in konventionellem Fahrwasser; von den Dingen, die uns am Herzen lagen, war nicht die Rede. Der Oberstleutnant und die Schriftstellerin unterhielten sich durch zehn Minuten recht lebhaft miteinander. Dann entfernte sich Ossip Schubin. Später stellte sich heraus, daß die beiden voneinander nie etwas gehört hatten. Offenbar interessierte sich Egidy nicht für Romanliteratur und Ossip Schubin noch weniger für politische Vorträge. Als wir dann allein waren, nahmen wir das Thema unserer beiderseitigen Bestrebungen auf. Ich hatte damals noch keinen öffentlichen Vortrag Egidys gehört, aber auch in seiner Gesprächsweise floß das Wort beredt und warm von seinen Lippen. Er war eben von seinen Ideen, seinen Plänen, seinen Hoffnungen so durchdrungen, daß er aus dem Vollen heraus sich mitteilte. Ein solches Mitteilen waren – dessen wurde ich erst später gewahr – auch seine Vorträge. Nur daß er bei diesen außerordentlich laut, deutlich und langsam sprach und manchmal von innerem Feuer bis zu höchstem Schwung hingerissen wurde. Im Salon natürlich sprach er leise und einfacher, aber doch mit stets logischer Gedankenfülle, immer mit sich selber konsequent. Wir teilten ihm nun auch unsere Ideen und Ziele mit.[252] Die Friedenssache, obschon er theoretisch mit uns übereinstimmte, hatte Egidy damals noch nicht in sein Programm aufgenommen.

Am folgenden Tage besuchten wir ihn in seinem Heim. Ein schöner, harmonischer Familienkreis. Eine kongeniale Frau – geborene Fürstin (den Namen habe ich vergessen) und zehn Kinder. Freilich waren nicht alle zehn zu Hause. Der älteste Sohn diente in der Marine, eine Tochter studierte in Schweden – immerhin, es war ein hübsches Häufchen Egidyscher Kinder anwesend, und alle schienen den Vater anzubeten. Eine der Töchter diente ihm als Sekretärin. Es waren schöne Stunden, die wir in dem schlicht eingerichteten Heim verbrachten in eifriger Rede und Gegenrede, an der sich die Frau und die großen Kinder beteiligten, über die erhabensten Ziele des menschlichen Ringens und Schaffens: Versöhnung, Friede, Lebensweihe. »Wir ziehen an verschiedenen Strängen,« sagte uns Egidy, »aber es ist dieselbe Glocke.«

Später, als ich ihm aus Anlaß seiner Kandidatur schrieb, wie wünschenswert es doch wäre, daß solche Diener der Gemeinsamkeit, solche über enge Parteieninteressen erhabene Denker in die Volksvertretung kämen, wie dann mit einem Male alles anders würde, da schrieb er mir zurück:

»Nicht mit einem Male wird alles anders werden, sondern allmählich – natürlich; aber das Tempo entscheidet. ›Allmählich‹ sagen alle: es kommt nur darauf an, ob langsamer Schritt nach Zählen – eins – nochmal zurück – eins – nochmal zurück – zweiiiiii (Sie kennen doch den Kasernenhof?) oder natürlich etwas flotter, meinetwegen auch mal ein bißchen Geschwindschritt – braucht ja nicht Sturmschritt mit Tambours battants zu sein. Und es wird. Es muß werden. Welche Phasen wir noch durchzumachen haben, darüber mag ich angesichts der letzten Erscheinungen in unserem öffentlichen Leben nichts sagen. An eine blutige Erledigung glaube ich noch heute nicht. Der Durchbruch der neuen Weltanschauung wird sich – nicht ohne Weh und Ach – aber doch als ein natürlicher Vorgang, eine Geburt, vollziehen. – Sie sprechen von meiner Arbeitskraft. Nun ja, ich habe Arbeitskraft und Schaffensdrang, und wie sehne ich mich danach, beides ›unmittelbar‹ zur Geltung bringen zu können. Innerlich bin ich derart vorbereitet und gerüstet, daß ich jede Sekunde meinen Dienst antreten könnte. Ich bin meiner sicher. Will man überhaupt von einem Werte sprechen, den etwa ich darstelle (wie Ihre Worte es so wunderhübsch tun), so darf man diesen Wert immer erst in der Zukunft sehen. Geredet und geschrieben haben schon viele, wurden sie dann vor das ›Tun‹ gestellt, so versagten[253] sie; sie schlossen elende Kompromisse mit der seichten Unabänderlichkeit und anderen Elendsbegriffen ab. Die Ehrlichkeit, die Uebereinstimmung, das In-Uebereinstimmung-Bringen von Lehre und Leben, darum handelte es sich für mich. Und darin weiche ich nicht um eine Nagelbreite von meiner Erkenntnis zurück.«

Als wir von Hamburg, wohin wir nach meinem Berliner Vortrag gefahren waren, heimkehrten, hielten wir uns, wie vorher erwähnt, in Berlin nur eine Stunde am Bahnhof auf. Daraufhin schrieb mir Egidy folgenden Brief, den ich hier auch festhalten will, weil er so recht deutlich zeigt, wie Egidy seine rege Arbeit und ein etwaiges Zusammenarbeiten mit mir auffaßte:


Berlin NW, Spenerstraße 18, 11. Mai 1892.


Hochgeehrte Frau!


Sie sind durch Berlin gereist und wir haben nichts erfahren und hatten uns doch so sehr darauf gefreut und alles danach geplant, wenn möglich, noch ein paar Stunden des Gedankenaustausches mit Ihnen und Herrn von Suttner zu genießen.

Denn in der Tat, daran lag mir sehr. Ich hätte gerne unsere Bekanntschaft auf einem Boden verankert, der für die Gemeinsamkeit fruchtbar werden könnte. Wir müssen nach einheitlichen Grundsätzen handeln (operieren). Der Guerillakrieg einzelner oder selbst Gruppen muß durch ein planmäßiges, zielbewußtes Vorgehen aller nach einheitlicher Idee ersetzt werden. Die Teten aller Kolonnen müssen jetzt auf dem Schlachtfeld erscheinen; denen, die nur immer von Religion, Christentum und Kirche reden, ohne rechtschaffene Menschen zu sein, oder an die Brüder zu denken – denen überlassen wir es nach wie vor, um das Schlachtfeld herumzumarschieren. Unsere Idee ist die Besiegung (nicht nur die Bekämpfung) der alten Weltanschauung – mir erscheint die neue unter dem Namen »Christentum« – Ihnen unter dem Namen »Menschentum«. Das aber darf uns nicht trennen, sondern soll uns ergänzen. Vielleicht auch, daß Sie imstande sind, unter der Auffassung, die ich dem Begriffe »Christentum« gebe, »das der Gottheit nähergerückte Menschentum« das Wort anzunehmen. Für den Erfolg unserer Bestrebungen und einzig darauf kommt es an, ist das Wort »Christ« unentbehrlich. – Ja, die Kreise, die Sie schon haben, nehmen mit dem Wort »Mensch« fürlieb – Millionen aber nehmen es nicht an.

Wir müssen das Christentum ernst nehmen – das ist der Satz, den ich kürzlich der Schriftstellerwelt, die ich mir in das Abgeordnetenhaus zusammengeladen, zurief. In Wort und Schrift, im eigenen Leben, in jedem Auftreten müssen wir das christliche Bewußtsein bewahrheiten, müssen »Liebe leben«. Verstanden wurde ich wohl – aber der Glaube fehlt; der[254] Glaube an die Möglichkeit einer Verwirklichung meiner Bestrebungen. Und das ist furchtbar traurig! Andere wieder, die den Glauben mit mir teilen, können sich die Verwirklichung nicht vorstellen, unter Beibehalt der äußeren Formen, wie ich es anstrebe; vielfach glauben sie deshalb kaum an die Kühnheit und Unerschrockenheit meines Wollens. Die Art Vergeistigung des Vorhandenen (Altar und Thron) oder also »Idealisierung« ist ihnen undenkbar, und ebenso undenkbar ist es ihnen, daß ich mit meinen realen Forderungen an die Zukunft sie alle übertreffe. So radikal wie ich ändern will, träumen diese alle ja gar nicht, weil ihnen allerdings vielfach das gute Gewissen fehlt – sie wollen »zerstören« – manches wenigstens, während ich nur aufbauen will.

Ich hatte kürzlich eine hochernste Unterredung mit zwei Lehrern. Der eine wollte die Ansichten der hervorragendsten Kämpfer für die Entwicklung der Menschheit bezüglich der Schule zusammentragen: Der anonyme Verfasser von »Maschinenzeitalter«, – ich half ihm zunächst über die Anonymität hinweg (durfte es um so mehr, als mir tags zuvor die famose kleine Druckschrift »Wilhelm II., Romantiker oder Sozialist« zugegangen war, auf deren Deckelseiten Fr. v. S. als Verfasserin dieses Werkes genannt ist). Es war hochinteressant zu hören und zu sehen, wie die beiden entwickelten, daß und warum sie dies geglaubt, nicht geglaubt, wieder geglaubt und endgültig nicht geglaubt hatten. – Auch die sonstigen Betrachtungen dieser (noch ziemlich jungen) Männer waren sehr bemerkenswert, ihr Eifer für die Entwicklung der Menschen geradezu prächtig. – Und so gibt es Tausende – nur der Glaube fehlt, und daran sind wir selbst schuld, wenn wir nicht vereint wirken und so den Strebenden und Wollenden, den Sehnsüchtigen und Verlangenden ein wirklicher Hort für ihre Hoffnungen werden.

Deshalb, Frau von Suttner, stellen Sie auch Ihre Bestrebungen unter das Banner einer reinen wahren, echten Religiosität;6 einzig so, können Sie sie als berechtigt vor jedermann aufrecht erhalten. Die, denen an dem Worte Religion nichts gelegen ist, werden Ihre Bestrebungen um des Wortes willen nicht verwerfen; und die, denen die Religion alles ist, werden Ihre Bestrebungen eben um der Religion willen anerkennen. – Religion aber in einer Auffassung, die jede Glaubensschranke, jedes Kirchen- und jedes Judentum, alles Sektenwesen u.s.w. ausschließt.

Es lag mir zu sehr am Herzen, hochgeehrte Frau, das noch zu sagen; ich darf nach unserer Bekanntschaft annehmen, daß Sie für die Rückhaltlosigkeit meiner Ausführungen freundliches Verständnis haben. Hier handelt es sich um zu Hohes, als daß »Phrasen« gemacht werden dürfen. – – Vor allem bitte ich Sie, in dem Umstand, daß ich Ihnen überhaupt so[255] schrieb, ein Zeichen reiner und wahrer Hochschätzung zu sehen – sonst hätte ich geschwiegen. Und diese ehrliche und überzeugte Hochschätzung zolle ich (mit allen Meinen) nicht minder dem Herrn Gemahl, dem ich mich respektvoll empfehle. Meine Frau und Tochter tragen mir für Sie beide angelegentlich Grüße und Empfehlungen auf. – Ihr Besuch bleibt für uns alle eine wertvolle Erinnerung.

Wahrhaft ergeben

M. von Egidy.


Um den ganzen Egidy mit einem Worte zu kennzeichnen, wäre ich nicht verlegen. So wie es zum Beispiel Menschen von Stahl und Eisen gibt – so hart und schneidig; Menschen von Gold – so gut und treu; Menschen von Wachs – so weich und bildsam; so ist Egidy – in seinem durchsichtigen Edelglanze – ein Mensch von Kristall.

6

Die Sehnsucht nach und der Glaube an Veredlung ist Religiosität. B. S.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 247-256.
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