37. Die Tage von Bern

[260] Im August des Jahres 1892 begaben wir uns nach Bern, wohin der vierte Weltfriedenskongreß und die vierte Interparlamentarische Konferenz eingeladen waren. Es war unsere erste Schweizer[260] Reise. Für uns beide ein intensiver Genuß. Der Name Schweiz erweckt im Gemüt einen ganzen Komplex von Gebirgspoesie und Freiheitsidealen. Gletscher und Rütlischwur, Kuhglocken und Tells Geschoß. Dazu hochmodernes, internationales Hotelleben. Das demokratischste und schlichteste Land Europas, dabei das Stelldichein der reisenden Aristokraten und Plutokraten der Alten und Neuen Welt.

Der Weg nach Bern führte uns an den Züricher See. Der Meine schwelgte im Anblick dieser Naturpracht. Sonderbar – wenn ich an die Reisen zurückdenke, die ich mit meinem Mann unternommen, so erinnere ich mich dabei aller genossenen Natur- und Kunstschönheiten nur durch das Medium der Freude, die er daraus schöpfte. Ich bin doch selber für solche Genüsse auch empfänglich, aber an seiner Seite empfand ich nur die Rückwirkung seines Empfindens.

Wir stiegen im »Berner Hof« ab. Gleich bei unserer Ankunft – es war schon spät am Abend – trafen wir mehrere unserer Freunde vom Römer Kongreß: Frédéric Passy, Ducommun, das Paar Moscheles, Hodgson Pratt, Pandolfi, Emile Arnaud und viele andere. Am nächsten Morgen neue, frohe Ueberraschung. Die Fenstertür unseres Zimmers führte auf eine große Terrasse hinaus, und von hier ging der Blick über den Hotelgarten, über die Stadt und über den Horizont schneeblinkender Zacken der uns umgebenden Berge.

»Schön ist's da, mein Löwos!«

»Ja, Meiner, schön – und hier auf der Terrasse wollen wir frühstücken.«

So blitzen mir die Lichtbilder, so wehen frische Glücksbrisen aus der Vergangenheit herüber in meine graue, vereinsamte Gegenwart, wenn ich zurückblicke auf unsere zu zweien unternommenen Fahrten, wo wir in die ernstesten, mit Arbeit und politischen Problemen gefüllten Tage und in die verschiedenen feierlichen Umgebungen überall unser bescheidenes, sonniges Stückchen Heim mitnahmen.

An diesem ersten Morgen in der Schweizer Bundeshauptstadt brachte mir die Post verschiedene Briefe: vom Grafen Hoyos ein Gedicht, gewidmet »dem Friedensrat zu Bern«, betitelt: »Niemals die Waffen nieder«.


Wenn blinder Haß die Krallen regt

Und Lüge sträubt ihr Nachtgefieder,

Stellt euch zur Wehr und nimmer legt

Des Geistes Waffen nieder![261]


Aus euerem Schwerte ströme Licht,

Und Liebe sei des Schildes Zeichen;

Vor dieser Waffen Schwergewicht

Wird der Versucher weichen.


Der finstere Dämon Völkerkrieg

Wird kreischend vor der Wahrheit fliehen

Und übers Schlachtfeld nach dem Sieg

Der Menschheit Genius ziehen.


Von dem liberalen Mitglied des Herrenhauses, dem Fürsten Camillo Starhemberg, den ich gebeten und halb überredet hatte, er möge zur Interparlamentarischen Konferenz nach Bern kommen, erhielt ich ein nachgesandtes Schreiben, dessen Inhalt nach vielen Richtungen interessant ist:


Schloß Hubertendorf, Nied.-Oest., 21. August 1892.


Geehrte Baronin!


Die nun seit einiger Zeit herrschende ganz abnorme Hitze hat meine Nerven so zerrüttet und mich so unwohl gemacht, daß ich wohl kaum meine Absicht werde ausführen können, an der Konferenz in Bern teilzunehmen.

Ich will noch nicht definitiv abschreiben, aber ich glaube kaum, daß ich in Bern erscheinen kann. Bloß als stummer Zuhörer und Zuseher habe ich keine Lust zu fungieren, und um mich in Wort und Tat zu beteiligen, fühle ich mich offen gestanden weder in der Stimmung, noch wohl genug.

Ueber Aufforderung des Baron Pirquet habe ich bei verschiedenen Mitgliedern des Herrenhauses während der letzten Sitzungen Anfragen gestellt und sie sondiert, ob sie nicht Lust hätten, an den Verhandlungen des Kongresses sich zu beteiligen, überhaupt durch ihre Namen in die Listen jener, welche für den Weltfrieden wirken, ihre Sympathie für unsere Bestrebungen auszudrücken.

Leider war das Geringste, was ich erhielt, eine höfliche Ablehnung; in den meisten Fällen aber eine ironische Antwort, natürlich immer in solchen Höflichkeitsformen, daß sich dagegen nicht entschieden reagieren läßt. Auch hatte ich Gelegenheit, mit einer hochgestellten Persönlichkeit über die allgemeine Friedensidee zu sprechen, aber überall mehr oder minder die Ansicht vertreten gefunden, welche die deutsche Dame, die Braut eines deutschen Offiziers, auf Seite 9 der Festnummer »Die Waffen nieder« entwickelt:8 Lieber Millionen opfern, lieber[262] unbegrenztes Elend über die Men schen bringen, lieber die Staaten finanziell ruinieren, die Bevölkerung dezimieren, die Familien in Not, Trauer und tiefsten Kummer versetzen – als den hergebrachten Ideen untreu werden; jeder Gedanke einer derartigen Friedensbewegung wird geradezu gedeutet, als wenn Feigheit dahinterstecken würde.

Ich kann nicht sagen, daß mir diese in letzter Zeit gehörten Aeußerungen meine Hoffnungen auf einen baldigen Erfolg steigern, aber nichtsdestoweniger hege ich die Ueberzeugung, daß einmal die Idee durchdringen und wenigstens die gebildeten Völker Europas im Prinzipe dem Schiedsgericht huldigen und ihre Streitigkeiten auf diese Weise zur Entscheidung bringen werden.

Ich erhielt vor nicht sehr langer Zeit einen recht interessanten Brief eines Polen, welcher sich auch sehr für die Friedensfrage erwärmt und mir alle möglichen Friedensjournale und Kundgebungen einsendet, aber den Frieden, respektive die Idee eines dauernden Friedens erst dann akzeptiert, bis Polen ein selbständiges Königreich ist und sowohl von Rußland wie von Oesterreich frei, und gibt dabei selbst zu, daß dies natürlich erst nach einem blutigen Kriege und Ringen zu erreichen wäre. Und so sind viele Anhänger der Friedensidee: zuerst wollen sie ihren Zweck erreicht sehen, scheuen vor keinem Hindernisse, keinem Blutbade zurück, und erst, wenn sie ihre Ziele erreicht haben, dann wollen sie Frieden machen. Eben, sich unterordnen, sich fügen können die einzelnen Menschen nicht, und noch viel weniger die Völker und Nationen; und ebenso wie wir die Idee des Friedens vertreten und für dieselbe Propaganda machen – natürlich bei der bestehenden Aversion nur mit geringem Fortschritt –, ebenso entzünden andere den Haß und den Hader der Völker, hetzen die Nationen zu unvernünftigem Nationalhaß auf, benutzen dies, um ihren unlauteren Zwecken zu dienen, ihre verabscheuungswürdigen Ziele zu erreichen.

Indem ich Ihnen, geehrte Baronin, recht herzlich die besten Erfolge in Bern wünsche und mit meinem Denken und Fühlen bei der so ehrenwerten Versammlung, welche die Veredlung der Menschen anstrebt, sein werde, zeichne ich mit der Versicherung meiner vollsten Hochverehrung und Ergebenheit

Ihr Sie wahrhaft hochschätzender

Starhemberg.


Auch an Alfred Nobel hatte ich geschrieben, er möge nach Bern kommen, den Verhandlungen des Kongresses beizuwohnen, doch darauf keine Antwort erhalten.[263]

Nach dem festlichen Frühstück auf unserer Terrasse ging es also in hoher Spannung zur Eröffnung des Kongresses. Der große Saal des Bundesrats war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Tribünen waren so gedrängt besucht wie an den Tagen, wo eine besonders interessante Sitzung des Bundesrats bevorsteht.

Louis Ruchonnet, der im vorigen Jahre Präsident der Eidgenossenschaft gewesen, sollte den Vorsitz führen. Im Saale trafen wir noch mehrere Freunde. Auch Professor Wilhelm Löwenthal aus Paris war darunter. Nach der Eröffnungsrede Ruchonnets hielt je ein Vertreter der anwesenden Nationen eine Ansprache. Und damit war die erste feierliche Sitzung zu Ende. Erst in der zweiten, die nachmittags im Museumssaal stattfand, begannen die Verhandlungen.

Ich habe im Laufe der Jahre über ein Dutzend Friedenskongresse und Konferenzen mitgemacht, deren Protokolle in ebensovielen Bänden ich besitze. Es kann meine Absicht nicht sein, die Reden, Resolutionen und Feste, von denen diese kleine Bibliothek berichtet, in diese meine Lebenserinnerungen einzufügen. Nur das, was sich mir besonders eingeprägt, was mir sozusagen zum Erlebnis geworden, werde ich wiedergeben und damit denjenigen meiner Leser, die hier einen geschichtlichen Abriß der Bewegung suchen, mit der mein Name und mein Wirken verknüpft ist, einen Einblick in deren Entwicklung bieten. Es ist immer interessant, die Linie zu verfolgen, in der gewisse Erscheinungen der Zeitgeschichte sich bewegen – bald rasch, bald langsam, bald stillstehend oder gar zurückweichend, um dann wieder mit desto größerer Eile nach vorwärts zu streben; merkwürdig ist auch, wie manche spätere Phase prophetisch vorempfunden wird, wie Projekte auftauchen und wieder fallen gelassen werden und nach einer Zeit als ganz etwas Neues wieder auftauchen; wie anfänglich Bestrittenes allmählich zum Selbstverständlichen wird und wie unübersteiglich scheinende Hindernisse, die man zu nehmen gar nicht versucht, später einfach verschwunden sind.

In Berlin hatte sich noch keine Friedensgesellschaft gebildet, also war Deutschland nicht aus seiner Hauptstadt vertreten, sondern durch Dr. Adolf Richter aus Württemberg. Aus den Vereinigten Staaten war der Vorsitzende des Bostoner Friedensvereins (gegründet 1816) Dr. Trueblood anwesend. Ducommun präsidierte die zweite Sitzung und erstattete Bericht über die Gründung des internationalen, permanenten Bureaus, dessen Ehrensekretär der prächtige Mann bis zu seinem 1906 erfolgten Tode blieb.

Eine interessante Mitteilung brachte Hodgson Pratt: Der Präsident[264] der Vereinigten Staaten habe allen Staatsregierungen brieflich den Beschluß des amerikanischen Senats und Repräsentantenhauses mitgeteilt, den Wunsch betreffend, daß mit sämtlichen anderen Nationen dauernde Schiedsgerichtsverträge abgeschlossen werden. An diese Mitteilung knüpfte Hodgson Pratt den Antrag, daß man in jedem Lande darauf hinarbeite, daß jener Brief von den Regierungen beantwortet werde. – Das war also der Beginn – von Amerika ausgegangen, von England unterstützt – der »permanenten Schiedsgerichtsverträge«.

Zur Debatte und zur Annahme gelangte ein Antrag – betitelt: »Europäischer Staatenbund« – gestellt von E. T. Moneta, S. J. Capper und Baronin Suttner.

Ach, dieser Capper! Welche halb komische, aber ganz sympathische Kongreßfigur! Weißer Prophetenbart und weißer Zylinder. Eine dröhnende Stimme, die sich mit Vorliebe französisch vernehmen ließ, aber mit dem übertriebensten englischen Akzent; Enthusiasmus und Feuer, dabei aber tüchtiger common sense. – Doch zurück zu dem Antrag »Europäischer Staatenbund«. Damals eine noch ganz unverstandene Idee; allgemein verwechselt mit »Vereinigte Staaten«, nach dem Muster Nordamerikas, und für Europa verpönt. So sehr verpönt, daß einem Blatte der Schweiz, betitelt »Les Etats-Unis d'Europe« der Eingang nach Oesterreich verboten war.

Der Capper-Moneta-Suttner-Antrag lautete:


In Erwägung, daß der durch den bewaffneten Frieden hervorgebrachte Schaden, sowie die ganz Europa stets bedrohende Gefahr eines großen Krieges ihren Grund in dem Zustande der Rechtlosigkeit haben, in welchem die verschiedenen Staaten Europas einander gegenüberstehen;

in Erwägung, daß ein europäischer Staatenbund, welcher auch im Interesse der Handelsbeziehungen aller Länder wünschenswert wäre – diesen Zustand der Rechtlosigkeit beseitigen und dauernde Rechtsverhältnisse in Europa schaffen würde;

in Erwägung endlich, daß ein solcher Staatenbund die Unabhängigkeit der einzelnen Nationen hinsichtlich ihrer inneren Angelegenheiten, daher auch ihrer Regierungsformen in nichts beeinträchtigen würde:

Ladet der Kongreß die europäischen Friedensvereine und ihre Anhänger ein, als höchstes Ziel ihrer Propaganda einen Staatenbund auf Grundlage der Solidarität ihrer Interessen anzustreben. Er ladet ferner alle Gesellschaften der Welt ein, namentlich zur Zeit politischer Wahlen auf die Notwendigkeit eines dauernden Völkerkongresses hinzuweisen, welchem jede internationale Frage zu unterbreiten wäre, damit jeder Konflikt durch Gesetz, nicht aber durch Gewalt seine Erledigung finde.[265]


Die Kongressisten – wenigstens der größte Teil derselben – waren den ganzen Tag zusammen, denn die meisten wohnten im selben Hotel und nahmen da, zwischen den Sitzungen, ihre Mahlzeiten an einer großen Tafel ein. Da wurde während des Lunch und des Diners weiterkonferiert. Besonders beim schwarzen Kaffee, der in einer gedeckten Veranda neben dem Speisesaal genommen wurde, bildeten sich Freundesgruppen, wo man in ungezwungener Plauderei verkehrte.

Eines Nachmittags war ein großer Kreis aus unserer Mitte in dieser Veranda versammelt, um Gericht zu spielen. Bei Tische war eine kleine Kontroverse entstanden zwischen Marchese Pandolfi aus Rom und dem Senator Arturo di Marcuarto aus Madrid. Jetzt ward scherzweise ein Gerichtshof ernannt, die beiden streitenden Parteien hatten ihren Fall vorzutragen, jeder wählte einen Anwalt und der Richter sollte das Urteil abgeben. Worum es sich handelte, weiß ich nicht mehr; ich weiß nur, daß es sehr lustig war. Einer der Anwälte, es war Gaston Moch, gewesener französischer Artillerieoffizier, entfaltete sehr viel Witz, und auch die beiden Gegner brachten durch ihre Einfälle das ganze Tribunal in heiterste Laune. Arturo di Marcuarto war der einzige Spanier, der dem Friedenskongresse beiwohnte; ich glaube, die spanische interparlamentarische Gruppe und die spanische Friedensgesellschaft bestand nur aus ihm selber – wenigstens war er der einzige Tätige dabei. Er sprach sehr viel und lang, und man hörte ihn nicht gerne, weil er eine sehr undeutliche Aussprache hatte und sich stets wiederholte; wenn man dann aber seine Reden las, so fand man ausgezeichnete Ideen darin. Er arbeitete mit größtem Eifer schon seit Jahren an der Propagierung der Friedensidee. Noch vor der ersten Londoner Konferenz hatte er in Wien versucht, eine Anzahl von hervorragenden Politikern und Aristokraten für die Sache zu gewinnen, und hatte bei dem Fürsten Joseph Colloredo, einem sehr freisinnig denkenden Mann, Entgegenkommen und Mithilfe gefunden; schon hatte sich der Anfang einer Aktion ergeben, doch verlief diese erste Arbeit im Sande. Ich werde später einen Brief Marcuartos anführen, welcher manche interessante Ausführungen und Betrachtungen enthält, die durch die Ereignisse bestätigt wurden. Solange er lebte, hat Marcuarto bei keinem Friedenskongreß, keiner interparlamentarischen Konferenz gefehlt; seit seinem Tode ist Spanien bei den Kongressen unvertreten.

Um auf jenen Nachmittag in der Veranda zurückzukommen: Mein Mann, der als Anwalt Pandolfis bestellt war, hielt eben ein scherzhaftes Plädoyer, als ein Kellner mir, die ich abseits saß, mitteilte,[266] es sei ein Herr im Salon, der mich zu sprechen wünschte, und überreichte mir dessen Karte: Alfred Nobel. Freudig überrascht eilte ich in den Salon, wo mir der Freund entgegentrat.

»Sie haben mich gerufen,« sagte er, »hier bin ich. Aber sozusagen inkognito. Ich möchte mich nicht am Kongreß beteiligen und keine Bekanntschaften machen, nur etwas Näheres von der Sache hören. Erzählen Sie, was ist bisher geschehen?«

Wir blieben in lange Unterhaltung vertieft. Alfred Nobel kehrte viel Skepsis hervor, doch er schien begierig, seine Zweifel überwunden zu sehen.

Er verließ Bern noch am selben Abend, doch verabredete er mit mir und meinem Mann, daß wir nach Beendigung des Kongresses nach Zürich kommen sollten, ihn auf zwei Tage zu besuchen.

Zu den Festen, die den Kongressisten zu Ehren veranstaltet wurden, gehörte ein Ausflug auf den Vierwaldstätter See. Es war eine herrliche Fahrt. Getafelt wurde in Luzern. Natürlich wurden Toaste gesprochen. Aber alle Tischberedsamkeit verfliegt ja mit den Schaumperlen des Champagners. Etwas jedoch, das Ruchonnet gesagt – nicht in einer Rede, sondern in der Unterhaltung mit seinem Visavis –, das hat mir großen Eindruck gemacht, und ich trug es in mein Tagebuch ein. Es hatte jemand von dem Einwand gesprochen, den man von gegnerischer Seite zu hören bekommt, daß es eine Unmöglichkeit, ein Unglück wäre, die Heere zu vermindern – es wäre einfach in kultureller und nationalökonomischer Beziehung undenkbar. Da brachte Ruchonnet folgendes Gleichnis: Wenn heute das Unglück wollte, daß die Sonne sich verfinsterte, so würden die Menschen alles aufbieten, um künstliche Wärme und künstliches Licht zu schaffen. Neue Industrien und neue Berufe würden erstehen; und kämen dann nach ein paar Generationen einige mit dem Vorschlag, die Sonnenverfinsterung wieder abzuschaffen, da hieße es allgemein: das wäre ein Unglück, eine Unmöglichkeit – was sollte denn mit den Wärmefabriken, mit den unzähligen Strahlenarbeitern geschehen?! –

Am Tage nach dem Luzerner Ausflug wurden die Beratungen wieder aufgenommen. Zunächst verlangte A. G. von Suttner das Wort, um gegen die falsche, entstellte Berichterstattung eines Korrespondenten Protest zu erheben; der Betreffende hatte nichts Geringeres getan, als an die Blätter ein Telegramm zu schicken, worin die Eröffnungsversammlung als eine turbulente Szene geschildert wurde zwischen Leuten, die in ihrem eigenen Lager den Krieg entfachen. Der Interpellant las die betreffenden entstellten Berichte[267] vor, die der ausländischen Presse auch Stoff zu höhnischen Bemerkungen geliefert hatten, und forderte das Präsidium auf, den Blättern ein offizielles Dementi zu schicken, was auch geschah. Der Korrespondent stellte sich auch später als ein erklärter Gegner heraus, der sich einem Kollegen gegenüber geäußert, er sei nicht damit einverstanden, daß die Bewegung in der Schweiz Wurzel fasse.

Zu einem etwas heftigen Auftritt kam es im Laufe des Kongresses aber doch, als der polnische Abgeordnete des österreichischen Parlaments eine Rede hielt, worin er die Wiederherstellung Polens als selbständiges Königreich verlangte. Sowohl Ducommun, der in dieser Sitzung den Vorsitz führte, als einige Redner, namentlich Frédéric Passy, wiesen den polnischen Patrioten, der die Teilung seines Vaterlandes nicht anerkennen wollte, in die Schranken zurück mit der Erklärung, daß der Kongreß sich unmöglich mit der Revision der polnischen Geschichte befassen könne. Die Gerechtigkeit der Zukunft ist vorzubereiten; die einzelnen Ungerechtigkeiten der Geschichte lassen sich nicht mehr rückgängig machen, denn die ganzen bestehenden Landesverteilungen sind ja auf dem Boden der Gewalt gegründet; neue Gesetze, neue Ordnungen – und die sollen angestrebt werden – haben keine rückwirkende Kraft.

Nun kamen auch die Parlamentarier in Bern an. Ihre Konferenz sollte nach Schluß unseres Kongresses – am 29. August – eröffnet werden. Da trafen wir wieder viele alte Bekannte: Dr. Baumbach und Dr. Hirsch aus Berlin, Frédéric Bajer aus Dänemark, Philipp Stanhope (Bruder des Kriegsministers), Cremer, Dr. Clark aus England und viele andere. Auch viele neue Erscheinungen lernten wir kennen: aus Norwegen war der Präsident des Storthings, Ullman, anwesend, und sogar Honduras und S. Salvador waren diesmal durch den bevollmächtigten Minister Marquis de Castello Foglia vertreten. Im ganzen waren dreizehn Nationen repräsentiert. Die Sitzungen fanden im Bundespalais statt. Wir anderen – Nichtparlamentarier – durften auf der Galerie beiwohnen. Empfangen wurde die Konferenz vom Leiter des Departements des Aeußern, Bundesrat Droz. Aus den Verhandlungen hebe ich nachstehendes hervor:

Der französische Senator Trarieux, der Engländer Stanhope knüpften an den amerikanischen Antrag – Abschluß von Schiedsgerichtsverträgen – an und brachten Vorschläge zur Errichtung eines internationalen Tribunals. Pandolfi plädierte für eine »permanente internationale Konferenz«. Marcuarto verlangte die Neutralisierung der Isthmen und Meerengen. Baumbach, Vizepräsident[268] des deutschen Reichstags (schon damals zeigten sich die deutschen Politiker der Friedensidee gegenüber sehr reserviert), sprach für den Schutz des Privateigentums zur See zu Kriegszeiten. Die Debatte über diesen Gegenstand fiel ziemlich heftig aus. Der Franzose Pourquery de Boisserin setzte in feurigen Worten auseinander, daß eine Friedenskonferenz prinzipiell keine Kriegseventualitäten in Beratung ziehen könne – und da hatte er recht, hundertmal recht!

Die anderen Standpunkte aber – »man dürfe sich nicht mit frommen Wünschen begnügen, den ewigen Frieden kann man heute noch nicht proklamieren, also müsse man sich mit Erreichbarem begnügen, und jeder Faktor, der die Humanisierung des Krieges, die Abschwächung seiner Schrecken fördert, sei schon ein gewaltiger Schritt zum Besseren« – diese Standpunkte siegten, und der Baumbachsche Antrag ging durch.

Noch beim Lunch – ich saß zwischen Baumbach und Pourquery – setzte sich die Kontroverse fort. Und sie dauert noch heute. Es gibt noch immer solche, die das Friedenswerk auf die Bahn der Milderung und Regelung der Kriegserscheinung lenken wollen, um dadurch darzutun, daß sie zu praktisch sind, »Unmögliches« zu erstreben, und um den Angriff auf den eigentlichen Feind »Krieg« – dem sie besondere Rücksicht und Respekt erweisen – in nebelhafte Zukunftszeiten hinauszuschieben; und diesen gegenüber gibt es solche, die behaupten, daß, wenn das Ziel im Süden liegt, man nicht den Weg nach Norden auspflastern soll.

Den Parlamentariern wurde während der Konferenztage ein Fest in Interlaken gegeben. Der nachmalige Bundespräsident Schenk sprach damals einen Toast, der eine Prophezeiung enthielt, deren so baldige Erfüllung der Sprecher wohl selbst nicht voraussah.

»Es freut mich,« sagte er, »die Vertreter der Parlamente hier versammelt zu sehen, um über Frieden und Schiedsgericht zu verhandeln; noch mehr würde ich mich an dem Tage freuen, wo die offiziellen Bevollmächtigten der Regierungen zu gleichem Zwecke sich versammelten – und dieser Tag wird kommen.«

Dieser Tag traf schon sieben Jahre später ein, da siebenundzwanzig Regierungen ihre offiziellen Vertreter zu demselben Zwecke nach dem Haag entsendet haben.[269]

8

Ein Artikel von Björnson, worin dieser erzählt: »Eine deutsche Dame, die Braut eines deutschen Offi ziers, befand sich auf einer Reise in Norwegen. Man sprach mit ihr über den nächsten möglichen Krieg um Elsaß-Lothringen, und jemand sagte, es wäre am besten, Elsaß-Lothringen könnte über sich selbst nach seinem eigenen Willen bestimmen. Da antwortete die deutsche Dame: ›Eher müßten zwei Millionen Soldaten und mein Bräutigam unter ihnen auf der Walstatt liegen!‹«

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 260-270.
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