50. Weitere Begebenheiten aus dem Jahre 1896

[364] Wieder in Harmannsdorf. Die Tage von Budapest hatten ein freudiges, erhebendes Gefühl zurückgelassen. Von dem Wachstum der Bewegung, von ihrem Eindringen in die machthabenden politischen Kreise war da weithin sichtbares Zeugnis gegeben. Geradezu amüsant und in ihrer boshaften Verdrehung oder wirklich bodenlosen Unwissenheit komisch wirkte daher eine Notiz aus der Jingopresse, die ich unter dem Berg der unterdessen zu Hause angesammelten Zeitungsstimmen vorfand. Die »St. James-Gazette« vom 18. September schrieb:


Es gibt jetzt wichtigere Vorkommnisse in der Welt als den VII. Weltfriedenskongreß, der eben im Rathaussaale von Budapest zusammentrat; aber Sonderlicheres gibt es nichts und in seiner Art auch der Mühe wert anzusehen. Die guten Leute, die da auf die Initiative einer ganz vortrefflichen Dame, Baronin Bertha von Suttner, Verfasserin von »Down with arms« und Schöpferin des Friedenskongresses, zusammenkamen, repräsentierten die Blume jener unbestimmt wohlmeinenden, sentimentalen und unpraktischen Klasse von Personen, wie sie in allen Ländern und nirgends so wohlentwickelt wie bei uns zu finden sind. Zu sehen, daß etwas unrecht ist in der Welt, und ein Mittel vorzuschlagen, das, genau besehen, eine radikale Aenderung der menschlichen Natur bedingte, das ist so ihre Art. Sie sind auf vielen Feldern tätig, oder um es richtiger auszudrücken, sie schwätzen über viele Gegenstände, aber nirgends kann man sie in vollkommenerer Schönheit treffen, als wenn sie versammelt sind, um über den Frieden zu sprechen. Carlyle fragte, was der Moralist beabsichtige, der im Streit von Göttern und Riesen die mit einer kleinen Zange bewaffnete Hand ausstreckt. In dieser Stunde, wo es wirklich nicht zuviel ist, Europa »eine Stadt des Krieges, wo die Herzen noch wild vor Angst sind,« zu nennen, in dieser Stunde treten die gute Baronin Bertha und ähnliche Geisteskinder mit ihrer kleinen Zange auf. Der Wert des Suttnerschen Picknicks wird am besten gekennzeichnet, wenn man u.s.w. u.s.w.


An Alfred Nobel schickte ich genauen Bericht über die Vorkommnisse in Budapest und korrespondierte darüber auch mit Egidy. An meinem Buche »Schach der Qual« – ein Phantasiestück – arbeitete ich ruhig weiter. Ein Kapitel darin heißt »Frohbotschaft«. Es schildert eine »internationale Friedfertigungskonferenz«. In der Eröffnungsansprache sagt der Vorsitzende wörtlich:


Auf die Initiative eines der mächtigsten Staatsoberhäupter Europas und nachdem früher bei allen übrigen Regierungen[364] die prinzipielle Zustimmung zu dem Zweck eingeholt wurde, ist diese Versammlung einberufen worden – und fast alle Staaten, die großen und die kleinen, mit nur wenigen Ausnahmen, haben ihr Einverständnis erklärt und sind hier vertreten.


Das Buch ist 1895 begonnen, anfangs 1897 (bei Pierson) erschienen – die oben zitierten Worte können also keine Reminiszenz an die Haager Friedenskonferenz sein, die erst 1898 »von einem der mächtigsten Machthaber Europas einberufen worden«, sondern sind eine prophetische Verkündigung derselben. Der Fall bietet ein Zusammentreffen, das seltsam genug ist, um darauf aufmerksam machen zu dürfen. Die weiteren Ereignisse des Jahres 1896, die mich bewegten, finde ich in meinem Tagebuch gespiegelt:


2. Oktober. Schon lange kein Brief von Hoyos. Er soll krank sein. Würde er nur bald wieder gesund werden, der prächtige Mensch! In unserer Aristokratie gibt es nicht viele, die so frei und groß und hochherzig denken und die so das Gegenteil von reaktionär – beinahe sozialistisch sind. Ein Beispiel: Neulich wurde eine Sammlung für Arbeitslose veranstaltet. Hoyos legte seinem Scherflein folgende Verse bei:


Sammlung für die Arbeitslosen-

Wärmestuben, Armenbrot,

Wäsche, Strümpfe, alte Hosen

Steuern nicht der Massen Not.


Statt die Hungernden zu speisen,

Sorgt, daß es nicht Hunger gibt;

So nur werdet ihr beweisen,

Daß ihr euern Nächsten liebt.


Statt die Armen zu beschenken,

Hebt den Grund der Armut auf!20

Statt zu hindern, zu beschränken,

Gebt der Arbeit freien Lauf.[365]


Stellt im Geiste der Gesetze

Recht nicht höher als die Pflicht.

Stellt sie auf die gleichen Plätze –

Rechtsenterbte gibt es nicht.


Doch ich will auch nicht vergessen

Dieser Tage Hilfeschrei –

Und so leg' ich denn indessen

Hier die hundert Gulden bei.


10. Oktober. Der Kaiser von Rußland war in Wien. Von da Besuche in Breslau, Balmoral, Paris. Das Ergebnis davon ist »Pax et robur«. So behaupten wenigstens die einen; die anderen sagen, das Ergebnis sei »Revanche«; die Dritten endlich meinen, es sei alles beim alten geblieben. Das letztere ist aber nicht richtig; es hat sich etwas Neues zugetragen, nämlich, daß in dem zerklüfteten und gespaltenen und feindseligen Europa ein Staatsoberhaupt von einem Land zum anderen gereist ist und überall als Freund aufgetreten und als Freund empfangen worden ist. Eigentlich, wenn Europa ein zivilisierter Staatenkomplex wäre, müßte das so natürlich und selbstverständlich sein, wie es natürlich ist, wenn ein Gutsherr bei allen Nachbarsfamilien eine freundliche Tournee macht ... So oft, so nachdrücklich, so feierlich, so allgemein wie anläßlich dieser Kaiserreise ist das Wort »Friede« vielleicht seit fünfzig Jahren nicht in Reden und Zeitungen wiederholt worden. Das zeigt die Tendenz des Zeitgeistes – aber es ist noch lange nicht der Friede, den wir meinen. Denn die ganze Sachlage strotzt von Widerspruch. Nämlich der Widerspruch, der zwischen der neuen Richtung und den alten, noch in Kraft bestehenden Institutionen, Anschauungen und politischen Konstellationen besteht. Da liegt ein Widersinnsmonstrum vor, wie es die Weltgeschichte noch nicht nachzuweisen hatte: zwei gegeneinander gerichtete, ekrasitgeladene – Schilder; zwei feindliche Friedenshüter oder friedliche Feindschaftshüter ... Dreibund und Zweibund. Warum nicht gleich Fünfbund? ...

15. Oktober. Nach Kuba sind bereits im ganzen 165000 Mann entsendet worden. Das spanische Kriegsministerium beabsichtigt, noch fernere 40000 dahin zu schicken, da gelbes Fieber und andere Krankheiten die Zahl der Kombattanten stark gelichtet haben. Eine Anleihe von einer Milliarde wird geplant.

18. Oktober. Konteradmiral Tirpitz hat eine Marinevorlage von 150 Millionen Mark ausgearbeitet. Die »Post« schreibt: »Tirpitz hat einen langen Urlaub in allerhöchstem Auftrage benutzt, vom strategisch-technischen Standpunkt aus klarzulegen, wie unsere Flotte beschaffen sein muß, um vom Standpunkt des Militärs den Forderungen der Gegenwart gewachsen zu sein.« Wann wird denn endlich einmal vom ethisch-humanen Standpunkt aus klargelegt werden, wie die Zustände beschaffen[366] sein müssen, um vom Standpunkt des Philosophen den Forderungen einer besseren Zukunft gewachsen zu sein?

9. November. Gestern ist auf seinem Schlosse Leuterburg in Schlesien unser teurer Rudolf Hoyos verschieden. Immer mehr und mehr der Gräber!

10. November. Telegramm aus Washington: »Der englische Botschafter Pauncefote unterbreitet dem Staatssekretär Olney die Vorschläge für den englisch-amerikanischen Vertrag, betreffend die Regelung aller künftigen Streitigkeiten durch Schiedsspruch.« Den Anbruch einer neuen Kulturepoche kann diese Nachricht verkünden. Doch darüber leitartikeln unsere »ernsten« Politiker nicht.


Zwischen der österreichischen Friedensgesellschaft und dem Londoner Auswärtigen Amt wurden aus diesem Anlasse die nachfolgenden Briefe gewechselt:


Oesterreichische Gesellschaft der Friedensfreunde

Wien, November 17, 1896.


My Lord Marquis,


The committee of the Austrian Peace-Society venture to express to Your Lordship their deep gratification in the treaty passed at Washington Nov. 9th. This is the greatest triumph which the cause of civilisation has hitherto attained and posterity will never forget the part which, in this happy achievement, is due to Your Lordship's wisdom and energy.

We have the honour to be, respectfully,

Baroness Bertha Suttner (president),

Prince Alfred Wrede (vicepresident).


To the most Honourable

the Marquis of Salisbury.

London, Foreign Office.


London, Foreign Office,

Nov. 21st 1896.


Madam,


I am directed by the Marquis of Salisbury to acknowledge the receipt of your letter of the 17th inst., expressing the gratification of the Austrian Peace- Association in regard to the negociation between Great-Britain and United States on the question of arbitration and I am to express his Lordship's thanks for your communication.

I am, Madam, your most obedient humble servant

I. H. Villiers.

The Baroness of Suttner, Vienna.[367]


20. November. Die Blätter voll von der Bismarckschen Enthüllungsaffäre.21 Erst die im Reichstag durch Fürsten Hohenlohe und durch Herrn von Marschall nach allen Seiten hin gegebenen Erklärungen setzen der weiteren Ausdehnung ein Ziel. Ja, »enthüllt« wurde in dieser Affäre allerdings viel, und zwar das Gaunergesicht – nicht dieses oder jenes Politikers, sondern jener volksbetrügenden Intrigantin, die da »hohe Politik« heißt.

25. November. Gute Nachricht. Italien und Menelik haben Frieden geschlossen. Noch vor wenigen Tagen erfuhr der Triester »Picolo« von einem hochgestellten Diplomaten, daß die Chancen eines Friedensschlusses mit Menelik gering seien; dieser wolle sich der Bedingung, er dürfe sich dem Protektorat keiner europäischen Macht unterwerfen, nicht fügen. »Man rechne in römischen Regierungskreisen mit der Wahrscheinlichkeit, die Gefangenen ihrem Schicksal zu überlassen (!!) und die Feindseligkeiten wieder eröffnen zu müssen.« Der hochgestellte Diplomat hat sich glücklicherweise geirrt. Der Friedensvertrag ist unterzeichnet. In einem Brief, den Menelik aus diesem Anlaß an den König von Italien richtete, sagte er, »daß es ihm eine Freude sei, am 20. November, dem Geburtstag der Königin, den italienischen Müttern ihre Söhne zurückgeben zu können,« und zeigte so für die Gefangenen zarteres Gefühl als die erwähnten römischen Regierungskreise.

Nach dem Wortlaut des Vertrages verzichtet Italien auf den – falsch gedeuteten – Vertrag von Utschili, und die beiden Kriegführenden nehmen wieder ihre früheren Grenzen an. Also der Status quo ante – wozu also der viele Jammer, die Riesensummen, die im Sonnenbrand modernden, verstümmelten Leichenhaufen? Wozu, wozu?

20

Als Gegensatz zu dieser Auffassung, welche unter den philantropischen Finanzgrößen nicht geläufig ist, setze ich folgenden Brief hierher:

Geehrteste Frau Baronin!

Ihre werte Zuschrift vom 19. ds. habe ich das Vergnügen gehabt zu erhalten. So hoch ich auch das Werk schätze, welchem Sie sich mit einer so aufopfernden Tätigkeit widmen, bedaure ich doch, zu demselben nicht fördernd beitragen und dem Wunsche, welchen Sie ausdrücken, nicht nachkommen zu können. Die große Zahl der Anforderungen, welche zugunsten von humanitären Anstalten an mich gerichtet werden, macht es mir unmöglich, alle zu berücksichtigen. Sie werden es daher, geehrte Frau Baronin, begreiflich finden und es mir auch nicht verargen, wenn ich solchen Vereinen den Vorzug gebe, welche nicht bloß ein ideales Ziel vor Augen haben, sondern praktische, ins Leben eingreifende Zwecke verfolgen.

Genehmigen Euer Hochwohlgeboren, mit dem Bedauern, nicht in der Lage zu sein, Ihnen eine zusagende Antwort zu erteilen, bei diesem Anlaß den Ausdruck meiner ausgezeichneten Gesinnungen und Hochachtung.

Bn. N. Rothschild.

21

Geheime Rückversicherung mit Rußland.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 364-368.
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