53. Zweite Hälfte des Jahres 1897

[382] Die Begeisterung für die pazifistische Sache, die zur Millenniumsfeier in Ungarn aufgeflammt war, hatte sich nicht – wie so manche Schwarzseher prophezeiten – als Strohflamme erwiesen. Ich erhielt häufig die Nachricht von dem Fortgang und dem Wachstum der dortigen Gruppe. Ueber die Gesinnung eines der glänzendsten Mitglieder des Kongresses gibt der nachstehende Brief Zeugnis, den Graf Eugen Zichy an mich gerichtet hat:


Wien, 4. Dezember 1897.


Sehr verehrte Baronin,

Geehrteste Präsidentin!


Wir schließen morgen unsere Delegationen – und es war mir während unserem mehrwöchentlichen séjour hier (in Wien) – nicht gegönnt, Sie zu sehen; zweimal suchte ich Sie auf – leider vergebens! Sie waren verreist – immer noch auf dem Lande! So will ich Ihnen doch wenigstens schriftlich noch meine aufrichtigste Verehrung und Grüße zusenden! Sie haben gewiß mit Freuden die Enunziationen Berzeviczys in unserer Delegation gelesen und sich darüber ebenso wie über die hierauf erfolgte Antwort unseres takt- und sattelfesten Ministers des [382] Aeußern erfreut! Große Ideen kommen langsam zur Geltung, aber ein gesunder Kern bringt immer, wenn auch oft nur nach langer Zeit, eine gesunde Frucht; so steht's auch mit der Idee, für die Sie, liebe Baronin, und wir alle kämpfen! Gutta cavat lapidem! Immer wieder und unermüdlich müssen wir den Kampf aufnehmen – und endlich wird sie, muß sie siegen – denn unser Ziel ist ein humanitäres: das Wohl der Menschheit!

Und eine Idee, die dies allein anstrebt, sollte nicht zur Geltung gelangen?! Unmöglich! schwebt mir als Antwort von den Lippen, und »unmöglich« wird schließlich die ganze vernünftige Menschheit ausrufen! Und wir werden siegen! – Und der Sieg wird dann wirklich heißen: Weltfrieden! Und sollte es die Gegenwart nicht anerkennen – die Nachwelt wird segnend sich jener erinnern, die an dem großen Werke den ersten Spatenstich machten. Ich vernehme, daß Sie in wenigen Tagen, ich glaube Mitte Dezember, in Wien Ihre Jahresversammlung halten werden, erlauben Sie, daß ich Ihnen hierzu, liebe Baronin, meine aufrichtigste Verehrung entsende und Sie bitte, unseren Friedensfreunden meine wärmsten Grüße und Wünsche zu entbieten! Möge Ihre Arbeit eine gesegnete sein!

Ihnen, liebe Baronin, wünsche ich, daß Sie noch recht lange in vollster Kraft und Frische Ihr Werk ausbauen helfen! Mir aber wünsche ich, daß Sie mir auch fernerhin Ihre mir so werte Huld und Gnade bewahren mögen.

Der Friedensengel sei mit Ihnen und Ihrem Werke!

Ihr treuester Mitarbeiter und Verehrer

Eugen Zichy.


In diesem Jahre fanden die Zusammenkünfte der Paxarbeiter nicht wie bisher an gleichen Orten, sondern getrennt statt. Die Kongressisten tagten vom 12. bis 16. August in Hamburg, und die Interparlamentarier hatten ihre Sitzungen einige Tage früher in Brüssel.

Wir beteiligten uns an der Hamburger Tagung. Wieder trafen wir alle unsere alten Freunde: Passy, Türr, Bajer, Emile Arnaud, Dr. Richter, Moneta, Hodgson Pratt, Ducommun u.s.w. Wir hatten erwartet, daß das Präsidium des Hamburger Kongresses von dem feinsinnigen Dichter Prinz Schönaich-Carolath übernommen werde; doch hat derselbe das ihm zugedachte Amt nicht übernommen. Aus welchem Grunde, geht aus nachstehendem Briefe hervor:


Haseldorf, 19. Juli 1897.


Hochverehrte gnädige Baronin!


Für Ihre so gütigen Zeilen gestatte ich mir, Ihnen warmen Dank zu sagen. Die Aussicht, Sie nach menschlichem Ermessen[383] in Hamburg begrüßen zu dürfen, hat mich sehr beglückt, und sehe ich dem Kongresse mit einer Art weihevoller Stimmung entgegen. Ihre gütige Annahme, daß man mich mit dem Präsidium betraut, trifft insoweit zu, als die Hamburger Ortsgruppe mir anfangs, wie ich hörte, diese Ehre zu erweisen gedachte. Später hat man, glaube ich, eine offiziellere Persönlichkeit gefunden, welcher Umstand mir eine dankende Ablehnung ersparte, da ich nicht die Redegewandtheit und parlamentarische Routine besitze, welche zur Bekleidung eines solchen Postens erforderlich sind. Meine Frau beklagt mit mir, daß wir nicht die Ehre haben konnten, Sie und Ihren hochverehrten Herrn Gemahl bei uns zu sehen; der Gesundheitszustand meiner Frau macht es ihr leider unmöglich, ihre Aufwartung, wie sie es gewünscht hätte, in Hamburg abzustatten. Sollte einmal Kopenhagen der Schauplatz einer Friedensversammlung werden, so wollen wir die Bitte, uns vor oder nach dem Kongresse in unserem freundlicheren dänischen Heim zu beehren, aufs neue wagen.

Indem ich bitte, mich dem Herrn Baron angelegentlichst empfohlen zu halten, zeichnet sich, gnädige und gütige Baronin, Ihr in Verehrung ergebener

E. Schönaich-Carolath.


Ein neuer Mitkämpfer trat auf den Plan: Moritz von Egidy. Es war mein Stolz und meine Genugtuung, daß ich ihn dazu gewonnen, an dem Kongresse teilzunehmen und in der von diesem veranstalteten Volksversammlung die hinreißende Gewalt seiner Redekunst für unsere Sache einzusetzen.

In der ersten Sitzung – alle Anwesenden waren unter dem Eindruck der aus Spanien eingetroffenen Nachricht von der Ermordung des Ministerpräsidenten Canovas durch einen italienischen Anarchisten – stellte Teodoro Moneta im Verein mit R. Raqueni, Herausgeber der »Epoca«, namens der italienischen Gruppe folgenden Antrag:

»Die unterzeichneten Bürger des Landes, von dem unglücklicherweise der Fanatiker ausgegangen ist, der den Ministerpräsidenten von Spanien getötet hat, ersuchen den Kongreß, bevor er seine Arbeiten beginnt, der Witwe Canovas' del Castillo den Ausdruck tiefen Beileids zu übermitteln. Ergeben einer Doktrin, welche die Uebereinstimmung der Politik mit der Moral erstrebt, konstatieren wir, daß unter keinen Bedingungen das Prinzip der Unverletzlichkeit eines Menschenlebens gewaltsam durchbrochen werden darf, auf welchem Prinzip das ganze Wesen und das hohe Ziel, welches die Friedensliga verfolgt, gestützt ist.«

Die am ersten Abend stattfindende Volksversammlung brachte[384] in den Saal des Etablissements Sagebiel 5000 Zuhörer aus allen Ständen. Otto Ernst eröffnete. Nach ihm rezitierte Richard Feldhaus eine Dichtung von Schmidt-Cabanis.

Und nun Egidy. Ich hörte ihn zum erstenmal sprechen. Klar, fest, langsam, dröhnend laut. Die echte Kommandostimme. »Seid gut« ist eine Mahnung, die gewöhnlich mild gesäuselt oder ölig salbadert wird, Egidy donnerte es als Befehl hinaus. Der Sinn seiner Rede war:

»In die zu erkämpfende krieglose Zeit müssen wir erst hineinwachsen. Ein neues Denken muß unser Inneres erfassen. Der Krieg bedeutet das feindselige Gegenüberstehen der Menschen. Dieser Feindseligkeit müssen wir entgegentreten und sie ersetzen durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Auf diesem Grunde soll die Ebenbürtigkeit aller Volksgenossen und aller Völker erwachsen. Diese Ebenbürtigkeit führt zum Recht der Selbstbestimmung für jeden im Volke und für jedes Volk in der Gesamtheit, begrenzt durch die Pflichten, welche wieder der einzelne gegen die Gesamtheit hat. In gewissem Sinne treten wir schon in die kampflose Zeit ein: wir verspüren aber ihren Segen nicht, weil wir nicht den Mut zur Umgestaltung haben.« Aber nicht nur vom Schlachtenkrieg sprach Egidy. »Der Kampf zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, zwischen Konsumenten und Produzenten muß aufhören. Jedem im Volke muß ein menschenwürdiges Dasein gesichert sein. Dann hört jener Kampf auf. In den Genossenschaften haben wir schon die Anfänge. Die konfessionellen Verhältnisse müssen anders werden. Der Glaube des einzelnen soll respektiert werden, aber die Verschiedenwertung und Verfolgung der einzelnen Glaubensarten muß aufhören.«

Der beim Kongreß anwesende französische Artilleriehauptmann Gaston Moch war von dem gewesenen preußischen Oberstleutnant so entzückt, daß er in der Folge ein Buch herausgab »L'ère sans violence«, in welchem er die Doktrin und Charakterisierung Egidys brachte, nebst einigen Uebersetzungen seiner Artikel und Reden.

In der zweiten Sitzung machte ich bekannt, daß sich ein neuer Anhänger angetragen habe, nämlich Dunant, der Gründer der Genfer Konvention vom Roten Kreuz. Er wolle seinen Einfluß in den Vereinen vom Roten Kreuz benutzen, um dort für unsere Sache zu wirken, namentlich bei den orientalischen Völkern, wo das Rote Kreuz zahlreiche Anhänger zählte und an die ein besonderer Aufruf in allen orientalischen Sprachen gerichtet werden solle. Ich legte den Text dieses Aufrufs vor, den mir Dunant überschickt[385] hatte, indem er dafür meine Unterschrift und die Sanktion des Kongresses erbat.

General Türr erklärte sich bereit, für die Uebersetzung des Aufrufs ins Türkische zu sorgen und die Verbreitung anzuregen.

Hier einige Journalaufzeichnungen:

14. August. Bankett, geboten von der Stadt, in der Gartenausstellung. Meine Nachbarn sind ein Senator und Egidy. 300 Personen anwesend. Als Tischnachbar kehrt Egidy nicht den Apostel oder Volksprediger hervor; da ist er ein fröhlicher, amüsanter, weltmännischer Gesellschafter.

16. August. Gestern nach früh abgebrochener Sitzung um fünf Uhr nachmittags Hafenfahrt und Ausflug nach Blankenese. Dieses hastende Treiben in dem riesigen Hafen – die Unzahl der landenden und löschenden Schiffe! Auf dem Süllberg soupieren die Kongressisten – der Meine präsidiert. Novicow, Trueblood, Ducommun sprechen. Allgemein gehobene Stimmung. Nach elf Uhr erst wieder herab zur Landungsbrücke. Der Weg erleuchtet durch bengalische Flammen. Als sich das Schiff in Bewegung setzte, erstrahlte das Restaurant Süllberg, daß es aussah, als sei es in Feuer getaucht. Auf dem Schiffe Musik – längs des Weges steigen Raketen zum klaren, mondbeglänzten Himmel auf. Es sind die alten Feierbehelfe: Toaste, Musik, Feuerwerk, die ja auch bei Schlachtenerinnerungsfesten u. dergl. angewendet werden – aber wie ganz anders wirken sie, wenn sie die Gefühle der Menschenverbrüderung, der Erlösungshoffnung begleiten – Erlösung vom Banne des Totschlags und des Hasses ... Ich will auch den Rat notieren, den ein Hamburger Schriftsteller und Journalist, Dr. Wagner, uns gab: »Es will mir von zweifelhaftem Wert erscheinen,« sagte er, »wenn bei den Kongressen lang und breit über die Resolutionen für die Zukunft debattiert wird und wenn Abstimmungen, womöglich mit kleinen Mehrheiten, stattfinden. Die Debatten bringen in der Hauptsache mehr konfuses Zeug zutage als ernste, vollwertige Gedanken. Es würde mir als ein weit wertvolleres Wirken für die Sache erscheinen, wenn den Versammelten eine Reihe von gediegenen Referaten und Vorträgen geboten würde, die dann, wenn der Kongreß nach vorausgegangener Diskussion einverstanden ist, gedruckt als Flugblätter in Zehn- ja Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet und auch den Regierungen und Parlamenten überwiesen würden.«

In der Schlußsitzung wurde als nächster Kongreßort Lissabon in Aussicht genommen. Auch die Interparlamentarische Union, welche[386] in Brüssel getagt hatte, entschied sich für Lissabon als Konferenzort für 1898. Es sollte aber anders kommen.

Wie sah es, während in Brüssel und Hamburg über Schiedsgericht und Frieden debattiert wurde, in der übrigen Welt aus? – Namentlich mit den »Friedensverhandlungen« zwischen der Türkei und Griechenland; die wollten kein Ende nehmen. Auch Spanien kommt nicht zur Ruhe. Immer wieder neue Truppen werden nach Kuba entsendet, und die Nachrichten von dort melden erschrecklich steigende Verluste durch Krankheit. Stimmen erheben sich im Lande, darunter die Silvelas, man möge den Kubanern doch Konzessionen machen, mit ihnen ein »covenio« eingehen. Aber die Regierung bleibt unerbittlich: Zuerst Niederwerfung – dann könne man von Reform sprechen. Dieser Haltung wird von der europäischen Presse vielfach Beifall gezollt: »Liberale Politik,« so leitartikeln sie, »ist annehmbar zu Friedenszeiten, zu Kriegszeiten bedeutet sie Abdankung. Außerdem, der Augenblick wäre schlecht gewählt, den Vereinigten Staaten ein Geschenk oder Zugeständnisse zu machen. Ganz Europa ist durch ihre aggressive und extravagante Politik gereizt, und ganz Europa hat ein Interesse daran, daß Spanien standhaft bleibe. Die Regierung hat also recht, ängstlichen und interessierten Ratschlägen kein Gehör zu geben. Die unbeugsame Politik, die der Ministerpräsident gewählt hat und in der er verharrt, ist die einzige eines Staatsmannes würdige Politik.«

Also Starrsinn, Gewaltherrschaft, ununterbrochene Hinopferung der Landeskinder und der Landesgelder, das ist die einzig würdige Haltung!

Und solche Ansichten werden von den Redaktionstischen in Millionen Blättern hinausgetragen. Gut für diese Herren, daß es keine große öffentliche Wage gibt, in welche man ihre Verantwortlichkeit legte.

Der bevollmächtigte Minister der Vereinigten Staaten, General Woodford, kam nach Spanien, um die Dienste seiner Regierung zur Vermittlung anzutragen, auf daß dem Kubanischen Kriege ein Ende gemacht würde. Presse und öffentliche Meinung (man weiß ja, wie das gemacht wird) zeigen sich dem amerikanischen Abgesandten sehr feindlich, was dieser nicht begreifen konnte. Warum sollte Spanien eine Vermittlung ablehnen, die einem Krieg ein Ende machte, welcher die Nation ruiniert? – Ja, warum? Als ob Ruin von Land und Volk in Frage käme, wenn es sich darum handelt, nationalen Stolz zu zeigen.

Den Monat Oktober sollte das russische Kaiserpaar in Darmstadt[387] zubringen. Ich finde in meinem Briefwechsel ein Schreiben von Frau Büchner (die Schwiegertochter des Verfassers von »Kraft und Stoff«, der bei Prinzessin Alice von Hessen, der verstorbenen Mutter der jungen Zarin, Persona grata war).


Darmstadt, 13. Februar 1897.


Sehr geehrte gnädige Frau!


Ihr so sehr liebenswürdiger Brief hat mich überglücklich gemacht, und gerne hätte ich Ihnen sofort geantwortet, um Ihnen zu sagen, wie bereit ich bin, Ihren Auftrag auszuführen, aber ich komme erst heute dazu. Ich habe mir die Sache hin und her überlegt; es läßt sich so etwas nur einrichten, wenn die Kaiserin hier ist. Man ist hier der Ansicht, daß sie diesen Sommer Aufenthalt im Schlosse Seeheim bei Darmstadt nehmen würde. Wenn sich das bestätigen sollte, meint mein Mann durch Vermittlung eines ihm bekannten Kammerherrn das Buch26 einschmuggeln zu können. Ich selbst habe aber dazu gar kein Vertrauen, denn der bewußte Herr scheint mir dazu gar nicht geeignet. Ich meine, daß man das Buch der Kaiserin hier in Deutschland, wo die Bewachung und Abschließung keine allzu ängstliche ist, direkt schicken sollte. Da wird doch der Name einer Baronin Suttner schon dazu beitragen, daß es seinen Weg findet. Nach Rußland ginge das freilich nicht; selbst durch Vermittlung des hiesigen Hofes, resp. einer Person an denselben. Unser hiesiges Herrscherpaar ist noch jung und zeigt wenig Interesse für irgend etwas und spielt demgemäß auch keine große Rolle. Ja, wenn noch eine Großherzogin Alice lebte, die ganz darin aufging, edle Bestrebungen zu unterstützen, für das allgemeine Wohl zu sorgen und wahrhaft wohltätige Anstalten zu gründen. Diese kluge Frau hatte Fühlung mit dem Bürgerstande, aus dem sie sich ihre besten Arbeitskräfte wählte, und eine Luise Büchner war ihre rechte Hand in ihren gemeinnützigen Bestrebungen. Wie wäre damals so etwas leicht gewesen! Obwohl auch dazumal mein Schwiegervater bei ihrer Schwester, der Kaiserin Friedrich, nicht gut ankam; dieselbe interessierte sich sehr für seine Werke und ließ ihn das sogar wissen, und als er ihr darauf das Buch von den zwei gekrönten Freigeistern schickte, ließ sie nie wieder etwas von sich hören. Das war nun eine verhältnismäßig frei erzogene englische Prinzessin. Ueber den Charakter und die Anschauungen der jungen Kaiserin von Rußland weiß man selbst hier nicht viel. Nach allem, was man hört, scheint dort die Kaiserin-Mutter das Zepter zu schwingen, und sie[388] soll namentlich mit der Wahl ihrer Schwiegertochter, in deren Eigenschaft als deutsche Prinzessin, gar nicht einverstanden gewesen sein. So wird die junge Frau in ihrem Lande wenig zu sagen haben. Aber dennoch werde ich mir keine Gelegenheit entgehen lassen, Ihren Auftrag auszuführen, vielleicht hat es doch mehr Erfolg, als ich mir bis jetzt davon verspreche. Vielleicht hat die Kaiserin doch etwas von der Energie und Tatkraft ihrer Mutter geerbt und weiß sich mit der Zeit eine Stellung zu erkämpfen und diese zu behaupten. Daß dann ihr Einfluß ein guter sein wird, bin ich fest überzeugt, da man von ihrem Charakter doch immer nur Gutes gehört hat.

Daß ich auch die Werke Ihres Herrn Gemahls kenne und schätze, habe ich Ihnen neulich gar nicht berichtet, namentlich die frischen, packenden Erzählungen der »Kinder des Kaukasus«. Die wunderbar schönen Naturbeschreibungen haben mir immer Ihr eigenes idyllisches Leben dort vors Auge geführt. Es muß herrlich sein, in einem so schönen Lande zu leben, wenn man das wahre und begeisterte Gefühl für solche Schönheit hat. Ueberhaupt denke ich viel an Ihr Leben, Ihre Gewohnheiten, Ihre Umgebung; gerade weil Sie beide so bedeutende Menschen sind, genießen Sie alles doppelt. Nur dachte ich Sie mir immer im schönen, lustigen Wien und war daher sehr erstaunt, daß Sie auf dem Lande leben; ich mußte Ihre ganze, d.h. in meiner Phantasie bestehende Umgebung umstürzen und mir wieder einen ganz anderen Rahmen für das Bild Ihres Lebens ausdenken. Dazu verhalf mir Ihr »Einsam und arm« – das ist doch sicher auf Schloß Harmannsdorf geschrieben. Ich möchte so sehr gerne wissen, ob Sie sich mit Karl Binsemann an eine Figur aus dem Leben angelehnt haben. Es interessiert mich dies so sehr, da es doch meist im Leben umgekehrt ist; gerade in der Jugend, wenn es einem so recht schlecht geht, ist man gewöhnlich der Weltverbesserer und hat das wahre heilige Feuer für Gerechtigkeit. Im Alter ist man durch Sorgen oder das ewige Einerlei der Tage müde, gleichgültig und egoistisch geworden. Da denkt man, wozu sich den Kopf zerbrechen über unlösbare Rätsel, wozu sich ärgern über Ungerechtigkeit – es hilft ja doch nichts! Ich spreche selbstverständlich nur von Menschen derselben Lebensstufe und desselben Bildungsgrades eines Binsemann. Wenn diese Figur aus dem Leben gegriffen oder wenigstens angelehnt wäre, es würde mir das Buch viel lieber machen, weil ich immer glaube, daß es im Leben nicht so ist, daß man in der Jugend an so etwas nicht denkt und im Alter erst recht nicht. Die Schilderungen sind so lebenswahr und alles ist so lebendig, daß man wieder, wie bei »Die Waffen nieder«, das Gefühl hat, es könne nur direkt dem Leben entnommen sein.

Mein Schwiegervater freute sich sehr, wieder einmal von Ihnen zu hören. Alle Ihre und Ihres Herrn Gemahls herzliche Grüße werden auf das herzlichste erwidert.[389]

In der Hoffnung, Ihren Auftrag erfolgreich ausführen zu können, bin ich Ihre Sie innig verehrende

Marie Büchner.


Im Monat November hat der Fall Dreyfus die ganze Welt in Atem gehalten. Der Meine und ich verfolgten die Sache mit größter Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Damals waren Scheurer-Kestner, Bernard Lazare, Emile Zola für die Revision des Prozesses eingetreten. Der »Figaro« hatte die Handschrift des Esterhazy gebracht – daß es dieselbe Schrift wie die auf dem »Bordereau« war, stach in die Augen. Gegen die Revision wehrten sich alle militärischen und namentlich die antisemitischen Kreise. Das Interesse, das mir der Verlauf der »Affäre« einflößte, spiegelt sich oft in meinem Tagebuch:

18. November. Hoffentlich wird der Prozeß wieder aufgenommen. Die bloße Möglichkeit, daß der Verbannte auf der Teufelsinsel unschuldig ist, wäre entsetzlich, falls es bei der Verurteilung bliebe ... und an diese Möglichkeit muß man jetzt glauben. Das öffentliche Gewissen bliebe von diesem Gedanken ewig bedrückt ... Daß es eine »europäische Seele« gibt, hat sich da wieder schlagend gezeigt. Ueber die vielen Kommentare im Ausland bemerkt ein französisches Blatt in ärgerlichem Ton: »Schließlich geht die Sache doch nur Frankreich allein an.«

Nein, nein – solche nationale Absperrungen haben in unserer Zeit aufgehört. Wenn in einem Lande eine Katastrophe geschieht: Ermordung eines Staatsoberhauptes, Brand eines Wohltätigkeitsbazars, so strömt von allen Seiten Mitgefühl herbei, worüber das heimgesuchte Land sich freut. Dann muß es sich aber auch gefallen lassen, daß, wie man an seinem Glück und Unglück allgemein teilnimmt, man auch sein Recht und Unrecht allgemein beurteilt. An dem Siege der Gerechtigkeit und Wahrheit über Willkürherrschaft und Vertuschung haben die Gerechtigkeitsanhänger der ganzen Welt das gleiche Interesse. Und umgekehrt – die Anhänger der Autorität, die Rassenverfolger sind auch auf der ganzen Welt im gleichen Lager – nicht nur in Frankreich, auch in Oesterreich und überall gibt es jetzt leidenschaftliche Anti-Dreyfusards.

Die zwei Lager scheiden sich immer reinlicher. Aber die Kräfte sind sehr ungleich verteilt: Die Partei, die für das Recht eintritt, hat wohl die hinreißende Macht für sich, die ihrem Ziele – allgemeines Menschenglück – eigen ist; die andere Partei aber hat die tatsächliche Macht und hat – die Kanonen hinter sich ...

Die Macht erzeugt Uebermut. Ihr ist alles erlaubt – dünkt[390] ihr – und sie will es auch zeigen, daß sie sich alles erlauben darf. So war die ganze Esterhazyuntersuchung, das Esterhazyverhör und die schimpfliche Esterhazyapotheose eine reine Satire auf jegliches Gerichtsverfahren. Ein Faustschlag ins Gesicht der hehren Justitia – mehr noch – ein Zertreten ihrer Wage unter dem bespornten Absatz des Soldatenstiefels. – Sie müssen sich ducken, die Leute – das soll man sie fühlen lassen, damit ihnen ein andermal die Lust vergehe, die heilige Generalstabsfeme des Irrtums zeihen zu wollen. Ihr habt gegen eine Res judicata anrennen wollen? So – nun habt ihr deren zwei. Und richtig: man duckte sich. »Die Sache ist abgetan.« – (»Affaire liquidée« überschreiben die Journale ihre Leitartikel.) Einer aber richtete sich auf und stieß den Schrei seiner Seele aus: »J'accuse« – – Einer gegen ein Heer. Das Heldenstück wird noch die ferne Nachwelt preisen.

Auch in unserem Familienkreis gab es Dispute über die Affäre. Mein Schwiegervater, der konservativ gesinnte eifrige Leser des »Vaterland«, wollte von den Beweisen zugunsten des Verbannten nichts wissen. Auch er glaubte an das »jüdische Syndikat«, das die Revision erkaufen wollte. Und meine Schwiegermutter war auf Zola gar nicht gut zu sprechen – hatte sie doch einmal aus seinen Büchern, die sich ins Haus verirrt hatten, ein großes Autodafé gemacht.

Das Jahr 1897 schließt mit einer Sache ab, die den Pazifisten wohl Sorge bereiten konnte: man weiß, wie sie begonnen hat, man kann aber nie wissen, wie sie enden wird – sie trägt Krieg in ihrem Schoße, denn sie ist ja wieder im Zeichen der Gewalt unternommen: die Fahrt der Kriegsgeschwader in das Gelbe Meer.

Also denn ... Port Arthur von den Russen, Kiautschau von den Deutschen besetzt – das ist die neugeschaffene Situation. Die hohe Politik – d.h. fünfzig bis sechzig Menschen und eine Gefolgschaft von Zeitungsblättern sorgen dafür, daß man nie zur Ruhe komme, daß nie zu den Aufgaben der inneren Gesundung, der Hebung der menschlichen Gesellschaft geschritten werden kann. Ein schwerer Stand für die Friedenskämpfer! Seit einigen Jahren, wo es doch in Regierungskreisen von Friedensversicherungen trieft, fortwährende Kriege und Kriegsdrohungen: Japan und China; Venezuelastreit; Spanien-Kuba; armenische Massakers; Italien-Afrika; Griechenland-Türkei; England-Indien und jetzt wieder dieser ostasiatische Abenteuerzug! Daneben fortwährende Rüstungssteigerungen und Flottenparoxysmen. Kein Wunder, daß da den Augen der Massen die langsame, gleichsam unterirdische Friedensbewegung unbemerkt bleibt.[391]

26

»Schach der Qual«. Ich hatte den Wunsch gehabt, das Kapitel »Frohbotschaft« (Einberufung einer Regierungskonferenz) dem Zaren unter die Augen zu bringen. B. S.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 382-392.
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