18. In Kutais (1877)

[142] Unser Hochzeitsreise-Ausflug nach dem Kaukasus hat neun Jahre gedauert. Lange Flitterwochen! –

Den ersten Sommer brachten wir ununterbrochen in Gordi zu, wo wir so lange zurückgehalten wurden, bis die Hausleute selber es verließen –, Niko für Petersburg, Dedopali für Zugdidi. Die Illusion mit der Anstellung am russischen Hofe hatte sich aber als Illusion erwiesen. Niko ging zwar anfänglich auf die Idee ein, bald[142] stellte sich aber heraus, daß, wenn man sie in Wirklichkeit umwandeln sollte, sie auf Unausführbarkeit stieß. Also was tun? Dieses Leben von eitel Lust und Festen, das da in den Bergen geführt worden, konnte nicht immer fortgesetzt werden, und ewig »gern gesehener Gast« zu sein ist schließlich kein Beruf. Mit Harmannsdorf hatten wir gebrochen – oder vielmehr die Eltern hatten mit uns gebrochen; den leichtsinnigen Streich konnten sie uns nicht verzeihen. Wir warben auch nicht um Verzeihung. Wir hatten trotzig verkündet, daß wir uns selber durchschlagen würden, und das mußten wir nun auch tun. Mit den Geschwistern waren wir in liebevollstem Briefwechsel geblieben, aber von den Eltern kam außer einem uns nachgeschickten zornigen Vorwurfs- und Absagebrief kein weiteres Zeichen mehr. Meine Mutter, der sich der Meine vor unserer Abreise vorgestellt hatte, war zwar auch mit der ganzen Partie und der abenteuerlichen Flucht nicht einverstanden, aber sie hatte in ein paar Tagen den Meinen in ihr Herz geschlossen, und ihre Segenswünsche begleiteten uns.

Wir beschlossen nun, uns in Kutais niederzulassen und da einstweilen, ehe Fürst Niko für uns eine passende Anstellung gefunden, wozu er die Möglichkeit offenließ, durch Sprach- und Musikunterricht unser Leben zu fristen. Eine Cousine der Fürstin, die mit uns in Gordi zu Gaste war und die in Kutais lebte, versprach, uns in ihren Kreisen Lektionen zu verschaffen. Das waren zwar keine fröhlichen Aussichten, aber unsere innere Fröhlichkeit war unverwundbar. Das ganze Leben, das ganze Land kam uns so interessant vor, daß das gehobene Reise- und Abenteuergefühl, mit dem wir auszogen, uns stets wach blieb, und daneben waren wir ja ineinander so unaussprechlich glücklich, daß wir eigentlich (so wie es Lagen gibt, in denen man alle beneidet) alle bedauerten, die nicht wir waren. Das Schönste war, daß wir unsere Liebe nicht nur als nicht abnehmend, sondern als stets wachsend empfanden.

Nach dem allgemeinen Aufbruch in Gordi begaben wir uns also nach Kutais, wo uns vorläufig ein anderer Freund der Dedopali – der General Hagemeister – im Hause gastliche Aufnahme bot, und wo wir bleiben sollten, bis wir Wohnung und Lektionen gefunden hätten. Nach ein paar Wochen waren wir in einem eigenen kleinen Heim etabliert, und mehrere Töchter der Kutaiser Adelsfamilien hatten sich zum Gesangs- oder Klavierunterricht bei mir gemeldet. Der Meine gab ein paar deutsche Lektionen.

Nun begannen Kriegsgerüchte durch die Luft zu schwirren. Im vorigen Jahre war in Bulgarien ein Aufstand ausgebrochen. (Man[143] behauptete in außerrussischen Ländern, dies sei durch russische Agenten geschehen.) Rußland forderte von der Türkei Reformen und Garantien für die Sicherstellung der Christen. Nun tagten die Großmächte in Konferenzen (November 1876 bis Januar 1877 in Konstantinopel; im März 1877 in London), aber ihre Beschlüsse wurden von den Türken abgelehnt. Würde Rußland nun den Krieg erklären? Diese Frage schwebte bang auf aller Lippen. Die Truppen lagen an der Grenze bereit.

Und richtig, am 24. April erfolgte die russische Kriegserklärung und zugleich die Ueberschreitung des Pruth und der armenischen Grenze. Die Nachricht war um so erschütternder, als der Kaukasus selber einen der beiden Kriegsschauplätze abgab und eine Invasion der Türken in Kutais zu den möglichen Gefahren gehörte.

Ich erinnere mich nicht, daß wir Angst hatten. Auch ein Protestgefühl gegen den Krieg im allgemeinen empfand ich ebensowenig wie in den Jahren 1866 und 1870. Auch der Meine sah in dem eben ausgebrochenen Krieg nur ein Elementarereignis, doch ein solches von besonders historischer Wichtigkeit. Mitten drin zu stehen, das gibt einem selber einen Abglanz von dieser Wichtigkeit.

Von meiner Mutter, von den Schwägerinnen erhielten wir Brief auf Brief, Depesche auf Depesche: wir sollten fliehen. Daran dachten wir nicht; im Gegenteil, wir wollten uns nützlich machen und trugen uns dem Gouverneur, Fürsten Mirsky, an, uns als freiwillige Pfleger der Verwundeten anzustellen. Doch machten wir zur Bedingung: am selben Ort, womöglich im selben Spital, zu arbeiten. Das war nicht möglich; man wollte ihn dort, mich da verwenden, und so zogen wir unseren Antrag zurück. Denn voneinander uns trennen – noch dazu unter so gefahrvollen Auspizien: das um keinen Preis. So blieben wir denn in Kutais. Unsere Sympathien (damals hatten wir im Kriege noch »Sympathien«) waren auf russischer Seite. Es galt »slawische Brüder zu befreien«; das war die um uns herum ausgegebene Parole, und wir nahmen sie gläubig hin. Uebrigens ertönte noch eine zweite Losung, erhoben von den im Kaukasus lebenden Mohammedanern, von den wilden Bergvölkern, den Genossen Schamyls: Aufruhr – Abschüttlung des russischen Jochs. Das klang alles sehr heroisch. Es kam aber zu keinem Aufstand; der Kaukasus erwies sich als hinlänglich russifiziert und loyal. Die Söhne des Landes – in ihren Kosakenuniformen schmuck anzusehen – zogen einmütig nach dem Kriegsschauplatz, um die Türken zu schlagen. »Sotnias« nannten sich Häuflein von[144] hundert berittenen Edelleuten, welche freiwillig sich dem Heere anschlossen, und wir sahen sie unter unseren Fenstern davonreiten.

Der erste Tote, von dem das Kriegsbulletin meldete, war ein uns bekannter junger Bursche aus Kutais, der einzige Sohn einer russischen Generalin.

Natürlich waren alle Zurückgebliebenen ringsum vom Roten-Kreuz-Fieber ergriffen: Verbandzeug fabrizieren, Tee- und Tabakvorräte expedieren, durchfahrende Regimenter mit Speise und Trank laben, Gelder sammeln, Wohltätigkeitsveranstaltungen planen und ausführen – alles zum Besten der armen Krieger. Heute will mir scheinen, daß es noch Besseres geben könnte als dieses Beste: sie nicht hinausschicken! Heute weiß man auch durch Tolstoi, den Wahrheitsmutigen, was es damals für eine Bewandtnis hatte mit den »geliebten slawischen Brüdern«:

»Geradeso wie jetzt die Russen- und Franzosenliebe (so schreibt Leo Tolstoi in seinem nach dem Kriege erschienenen Buche »L'esprit chrétien et le Patriotisme«), so sah man plötzlich am Vorabend des Russisch-Türkischen Krieges die Liebe der Russen zu ich weiß nicht was für slawischen Brüdern. Man hatte diese slawischen Brüder jahrhundertelang ignoriert; die Deutschen, die Franzosen, die Engländer standen und stehen uns noch unendlich viel näher als diese Montenegriner und Serben und Bulgaren. Und dann begann man Feste zu feiern und Empfänge zu veranstalten, welche von den Katkows und Aksakows noch aufgebauscht wurden, die man mit Recht in Paris als Muster des Patriotismus betrachtet. Damals, wie jetzt, war von nichts anderem die Rede als von der plötzlichen Liebe, in welcher die Russen für die Slawen des Balkans erglühten. Zuerst – geradeso wie man es jetzt in Paris getan – versammelte man sich in Moskau, um zu essen und zu trinken, sich gegenseitig Dummheiten zu sagen, über die großen Gefühle, die man empfand, in Rührung zu zerfließen, über Frieden und Einigkeit zu reden, indem das Wichtigste verschwiegen wurde: die Absichten gegen die Türkei. – Die Zeitungen vergrößerten die Begeisterung, und nach und nach mischte sich die Regierung drein. Serbien erhob sich, diplomatische Noten, halboffizielle Artikel wurden produziert. Die Zeitungen vertieften sich immer mehr in Lügen und Erfindungen; sie gerieten so sehr in Hitze, daß schließlich Alexander II., der wirklich den Krieg nicht wollte, nicht anders konnte, als seine Einwilligung zu geben. Und dann geschah, was wir wissen: Hunderttausende von Unschuldigen gingen zu grunde, und Hunderttausende von Menschen[145] wurden zur Wildheit herabgedrückt und jedes christlichen Gefühls beraubt.« –

Nun, wir zwei glaubten damals an die slawische Bruderliebe. Mein Mann sandte Korrespondenzen über die Kriegsereignisse, deren Echo zu uns drang, an die »Neue Freie Presse« nach Wien. Diese druckte sie eine Zeitlang dankbar ab; in der Folge aber fand sie dieselben zu russenfreundlich – die »Neue Freie Presse« nahm für die Türken Partei – und lehnte sie ab.

Ich meinerseits, da ich schon nicht Verwundete pflegen konnte, half wenigstens bei den zu deren Gunsten von den Kutaiser Damen inszenierten Veranstaltungen fleißig mit. Ich erinnere mich eines abendlichen Gartenfestes, welches auf dem sogenannten »Boulevard« – so heißt ein in der Mitte der Stadt gelegener, baumbepflanzter Promenadeplatz – die Einwohnerschaft versammelte, bei Lampionbeleuchtung, Orchestermusik (Gott schütze den Zaren, Potpourri aus Glinkas »Leben für den Zar«, Balkan-Marsch, slawische Lieder u. dergl.), Verkaufsbuden und Tombola. Zwischen zwei Bäumen, grell beleuchtet, war ein großes Gemälde angebracht, das eine rührende Schlachtfeldszene darstellte: im Vordergrund eine wunderschöne russische barmherzige Schwester mit Tränen auf den Wangen, mild herabgebeugt über einen verwundeten türkischen Soldaten, dessen Kopf sie aufrichtete, um ihm Labung zu reichen; im Hintergrund ein Zelt, Pulverdampf, tote Pferde und platzende Granaten. Vor dem Bilde habe ich selber eine Träne vergossen, und bei der Tombola, wo ich so lange Lose kaufte, bis mein Beutel erschöpft war, gewann ich eine kleine irdene Vase, die ich abermals ausspielen ließ – und damit glaubte ich meinen Tribut von Anteilnahme an der Balkantragödie entrichtet zu haben.

Der Krieg nahm seinen Fortgang. Von Dedopali erhielten wir sehr traurige Briefe; sie zitterte um ihre beiden Söhne, welche mitmarschiert waren.

Plötzlich entstand das Gerücht, daß in einem nahen Orte die Pest ausgebrochen sei. Das erfüllte uns doch mit Grauen. Als die Kunde kam, brach ich in Selbstvorwürfe aus:

»Ach, wohin habe ich dich gebracht – es ist meine Schuld, daß du hierherkamst, Meiner!«

Er tröstete: »Keine Minute habe ich noch bereut – wenn dir nur nichts geschieht! Aber selbst wenn wir jetzt sterben müßten, wir haben ja unser Teil Glück gehabt.«

Die Seuche hat aber nicht um sich gegriffen. Das Schicksal, auf das wir uns schon gefaßt gemacht hatten, von dem fürchterlichen[146] Würgengel gepackt zu werden, ist uns doch erspart geblieben.

Im übrigen ging es uns recht schlecht. In dem Trubel der Kriegsereignisse dachte niemand mehr daran, Lektionen zu nehmen, und wir waren furchtbar knapp dran. Wir haben damals sogar an einigen Tagen das Gespenst »Hunger« kennen gelernt. Aber alles, was uns traf, ob Freuden oder Leiden, brachte uns immer näher aneinander, und später haben wir das Schicksal gepriesen, daß es uns mit solchen Erfahrungen bereichert hat. Die haben wohl dazu gehört, unsere Charaktere zu stählen und zu jener Teilnahme am Leid der Menschheit, am Elend des Volkes zu erziehen, welche in späterer Zeit den Grund unserer Zusammenarbeit im Dienste der Allgemeinheit abgab und welche in uns Gesinnungen weckte, an denen eins am anderen seine Freude hatte.

Der Krieg ging zu Ende. Am 3. März 1878 ward der Friede von S. Stefano unterzeichnet. Die beiden Söhne Dedopalis waren unversehrt geblieben; der ältere – im Range Oberst – hatte im Gefolge des Kaisers vor Plewna mitgefochten; der jüngere, damals Kapitän, hatte die Erstürmung von Kars mitgemacht. In Kutais waren viele Familien in Trauer. Die zurückkehrenden Sotnias (hundert) kehrten nicht als Hundert zurück. Bei uns zu Hause freute man sich sehr, daß uns der Krieg verschont hatte. Meine Schwiegermutter war mit ihren beiden Töchtern Luise und Mathilde zur Ueberwinterung nach Florenz gefahren, weil letztere an starkem Husten erkrankt war und der Arzt ein mildes Klima verordnet hatte. Im Frühjahr, auf der Heimreise, hielten sie sich in Meran auf, und von dort erhielten wir die Nachricht, daß der Zustand Mathildens sich verschlechtert habe, daß sie an heftigen Fieberanfällen litt und in Lebensgefahr sei. Wenige Tage darauf traf schon die Kunde von ihrem Tod ein. Noch nicht zwanzig Jahre, und so schön, und von ihrer Mutter so vergöttert ... wie konnte diese den Schlag nur ertragen! Sie soll wie ein Engel ausgesehen haben auf ihrer Bahre, mit einem Kranz von Rosen auf dem gelösten, zu beiden Seiten herabströmenden Goldhaar. Die Leiche wurde nach Harmannsdorf zurückgebracht – muß das eine traurige Fahrt für die arme Mutter gewesen sein! – und von dort zur Beisetzung in die Suttnersche Familiengruft in Höflein überführt. Die Nachricht traf uns sehr schmerzlich, und wir haben die so vorzeitig hingeraffte Schwester, mit der wir viele heitere Stunden verlebt und die stets liebevoll zu uns gehalten, innig beweint.

In den Lektionen war also Ebbe eingetreten. Da versuchte sich[147] mein Mann mit Schriftstellerei. Die Kriegsbriefe, die von der Presse veröffentlicht wurden, hatten viel Beifall gefunden, und er hatte dabei an sich selber das Talent, leicht und malerisch zu schreiben, entdeckt. Er verfaßte nun schildernde Artikel über Land und Leute im Kaukasns und sandte sie an verschiedene deutsche Wochenblätter ein. Diese Beiträge wurden gern angenommen und honoriert.

War es Neid, war es Nachahmungstrieb? – ich wollte versuchen, ob ich nicht auch etwas schreiben konnte. Den Beruf hatte ich ja nie in mir gefühlt. Mit sechzehn Jahren (damals war es Neid und Nachahmungstrieb, geweckt durch die Erfolge Elviras) hatte ich wohl eine Novelle verfaßt, betitelt »Erdenträume im Monde«, und eine seither längst eingegangene Zeitschrift »Die deutsche Frau« hatte sie veröffentlicht und mich im Briefkasten der Redaktion um neue Beiträge gebeten: »Ich solle mein Pfund nicht begraben«. Seither aber hatte ich außer Briefen (diese schrieb ich ungeheuer gern) nichts mehr geschrieben. Jetzt also, im Jahre 1878, machte ich meinen ersten (die »Erdenträume« zählten nicht) schriftstellerischen Versuch. Ich verfaßte in aller Stille ein Feuilleton »Fächer und Schürze«, sandte es an die alte »Presse« nach Wien, und siehe da – beinahe postwendend erhielt ich Belegsexemplar und zwanzig Gulden. O, der erste Empfang eines Schriftstellerhonorars – welche stolze Genugtuung – unbeschreiblich! Die kleine Arbeit war mit dem Pseudonym B. Oulot gezeichnet (eine Anlehnung an den Spitznamen »Boulotte«, der mir im Suttnerschen Hause beigelegt worden war), und als ich diese sechs Buchstaben unter dem mir wirklich sehr hübsch scheinenden Feuilleton gedruckt sah, hatte ich den Eindruck, daß gegenwärtig Mitteleuropa von der Frage bewegt sein müßte: Wer kann denn nur dieser B. Oulot sein?

Und von da ab hab' ich weitergeschrieben, unausgesetzt, bis zum heutigen Tag.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 142-148.
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