10. Aufenthalt in Paris

[97] Zu Anfang des Jahres 1867 reisten wir nach Paris.

Aber ich erinnere mich: von dem gewaltigen Eindruck, den es doch auf jeden hervorbringen muß, zum erstenmal nach der großartigen Metropole zu kommen, von der man so viel gehört und gelesen, von diesem Eindruck empfand ich nicht viel, so sehr war mein Sinn von »dem Wichtigen« ausgefüllt. Auch die Aussicht auf die Freude, hier wieder mit der Familie Dadiani von Mingrelien zusammenzukommen, ging mir nicht so nahe – das einzige, woran ich denken konnte, worauf ich zitterte in Furcht und Spannung, das war die Frage: Wie wird Meister Duprez meine Stimme beurteilen, welche Fortschritte werde ich machen und wie wird sich meine Künstlerlaufbahn gestalten?

Der Meister besaß in der Rue Laval ein eigenes Haus, in dem sich ein Theatersaal mit Bühne befand. Anstoßend waren kleine Studienzimmer, in welchen der Meister und dessen Sohn, Léon Duprez, Privatunterricht erteilten. Allwöchentlich am Freitag trugen die vorgeschritteneren Schüler Arien und Opernszenen auf der Bühne vor, und der Saal war mit den Angehörigen und auch mit fremdem Publikum gefüllt. Auf der anderen Seite des Hofes stand ein kleines Hotel, das der Familie Duprez, bestehend aus Vater und Mutter, Sohn und Schwiegertochter, als Privatwohnung diente. Bei unserem ersten Besuch in der Rue Laval wurden wir in den Theatertrakt geführt. Zuerst trat man in einen runden Warteraum, an dessen Wänden rings Bücherschränke liefen, die voll von Opernpartituren waren. Einige der Schüler und Schülerinnen saßen und standen da plaudernd umher. Auch im Theatersaal saßen vereinzelte Personen und lauschten dem Gesang eines ganz jungen Mädchens, das mit dem Akkompagnateur des Hauses, Monsieur Maton, eben die Rosinaarie einstudierte. »Una voce poco fa ...« Monsieur Maton hatte ihr höchst kunstvolle Koloraturen aufgeschrieben; das perlte und schmetterte nur so ... Also solche Bravour kann man in dieser Schule erreichen? Das flößte mir Mut und den Vorsatz ein, recht fleißig zu sein. Doch wie würde der Meister mich nach der Prüfung richten – – doch nicht, wie die gestrenge Viardot? Zitternden Herzens stieg ich die Stufen zur Bühne hinauf, hinter welcher das Zimmer lag, wo mich Herr Duprez erwartete. Ein freundlicher alter Herr, weit über siebzig, aber munter und frisch, kam mir entgegen. Er hatte weißes, lockiges Haar, rote Wangen und lachende Augen.[97]

»Also Sie haben mir den enthusiastischen Brief geschrieben, Mademoiselle? Sie wollen etwas Großes werden oder gar nichts? Also lassen Sie einmal hören, wie Ihre Stimme klingt und ob Sie Noten lesen können.«

Er reichte mir einen Band selbstkomponierter Solfeggien und setzte sich an das Pianino. Die Probe fiel diesmal günstig aus:

»Schöne Stimme – aus Ihnen werde ich etwas machen – in zwei Jahren sollen Sie die première force sein.«

Ich war glücklich, einfach glücklich. Nun wurden die Unterrichtsstunden festgesetzt; ich sollte zweimal in der Woche Lektion haben. Das war mir nicht genug:

»Ich möchte jeden Tag kommen, Meister.«

»Das können Sie auch; an den anderen Tagen wird mein Sohn oder Herr Maton mit Ihnen repetieren; ich habe aber nur zwei Stunden, d.h. halbe Stunden, in der Woche zu vergeben, das genügt vollauf.«

Wir mieteten und möblierten eine kleine Wohnung in der Rue Laval, und nun begann für mich eine rege, hoffnungsfrohe Lehrzeit. Die ganzen Vormittage verbrachte ich, immer von meiner Mutter begleitet, was den anderen Schulbesuchern ziemlich langweilig und überflüssig schien, im Theatertrakt des Hotels Duprez zu. Ich ging ganz auf in do, re, mi und in einer kleinen, vom Meister komponierten Arie, die er mir als erstes Textstück zum Studium gab. Besonderes Interesse flößten mir aber die anderen, auf den verschiedensten Stufen des Könnens befindlichen Mitlernenden ein, und die Freitagsaufführungen waren mir, da ich ja noch nicht mitwirkte, ein Hochgenuß. Als ich später selber dort oben singen mußte, da war mir's freilich eine Pein, denn wieder befiel mich das bekannte Angstgefühl, und ich erntete keinen Applaus. Doch das geschah erst nach längerer Zeit; vorläufig war ich nur in Lernen vertieft, und das betrieb ich frohen Muts. An den öffentlichen Vorführungen nahmen auch solche absolvierte Schüler des Meisters teil, die schon an Theatern wirkten und zu Berühmtheit gelangt waren: der Tenor Engel (Angèl genannt), Fräulein Marimon, die Chanteuse légère von der Komischen Oper in Paris, und Jeanne Devriès aus Brüssel, alle drei Künstler ersten Ranges. Eine junge Schwester der Letztgenannten, Fidès Devriès, hatte erst vor kurzem zu lernen begonnen und war der Liebling des Meisters, die Bewunderung der ganzen »Klasse«. Mir flößte sie blassen Neid ein. Sie war bildschön – das hätte ich ihr verziehen, aber sie war sechzehn Jahre alt, was meine dreiundzwanzig beschämte, und machte so reißende Fortschritte,[98] daß sie, obwohl erst kurze Zeit im Hause, schon virtuosenhaft sang und ohne die geringste Angst. In der Folge ist sie an der Pariser Großen Oper engagiert worden, wo sie mit ungeheuerm Erfolg als Ophelia debütierte. Wenn ich Zeuge war, mit welcher Leichtigkeit die junge Fidès die schwierigsten Koloraturen erlernte, mit welcher Gehörsicherheit sie vom Blatte las, welch eigener Zauber dem Klange ihrer Stimme innewohnte und wie frei und siegesgewiß sie sich auf der Schülerbühne bewegte, stets vom Applaus der Zuhörer und Lehrer begrüßt und belohnt, da mußte ich mir sagen: das ist Talent, das ist die Ausnahmsgabe, das ist das gewisse Etwas, was jenseits von Ehrgeiz und Fleiß liegt, was man nicht erlangen kann, sondern haben muß und was ich nicht habe ...

Im Hause der Fürstin von Mingrelien ging ich viel aus und ein. Von meinen Künstlerplänen verriet ich ihr nichts. Sie glaubte, die »Contessina« sei nur nach Paris gekommen, um mit ihr und ihrer Tochter zu verkehren, und sie lud mich zu allen ihren Diners und Empfängen ein. Sie bewohnte mit ihrer Familie und zahlreichen Dienerschaft einen Trakt des Hotel du Louvre mit eigener Einfahrt und eigenem Treppenaufgang. In der Flucht von Empfangsräumen und namentlich in dem blumen- und nippesgefüllten Salon, in dem sie sich gewöhnlich aufhielt, duftete es wieder nach russischen Zigaretten und Orangenblüten. Ich fühlte mich zurückversetzt in die Villa Weckerlin in Homburg und mußte an meine Schwärmerei für den georgischen Königssohn, den Bagratiden Heraclius, denken. Ich erkundigte mich um ihn.

»Was? Lebt sein Bild noch immer in Ihrem Herzen, kleine Contessina? Nun, er soll nächstens nach Paris kommen ... und wenn nicht der, so werden wir Ihnen hier einen anderen Gatten finden, es ist schon höchste Zeit, Sie zu verheiraten – dreiundzwanzig Jahre – das ist schon beinahe eine alte Jungfer. Meine Salomé werde ich vor ihrem zwanzigsten Jahre verheiraten – es ist nur schade, Liebste, daß Sie keine bedeutende Dot haben. Hier in Paris ist das die Hauptfrage. Schönheit und Anmut genügen nicht. Salomé erhält ein Einkommen von fünfzigtausend Franken, das schenkt ihr ihr Bruder Niko, damit wird es schon leichter sein, eine gute Partie zu finden. Ich habe auch schon jemand im Auge, ein Mitglied der kaiserlichen Familie.«

»Von Rußland?«

»Nein, von Frankreich.«

Die Fürstin und ihre Tochter fehlten an keinem der »petits lundis« der Kaiserin Eugenie, und diese war es, die den Heiratsplan[99] aufgeworfen hatte, auf den die Dedopali angespielt. Näheres wollte sie vorläufig nicht davon sagen, und auch Salomé, die ich befragte, gab vor, von der ganzen Sache nichts zu wissen.

Den beiden Damen wurde öfters die kaiserliche Loge in der Oper zur Verfügung gestellt, und manchmal luden sie mich ein, sie zu begleiten. Eines Morgens, als ich zu meiner Stunde in die Gesangsschule kam, rief mich die junge Madame Duprez an:

»Waren Sie gestern abend in der Oper?«

»Ja, Madame Saß war eine prächtige Valentine.«

»Also waren Sie es doch! In der Loge des Kaisers?«

»Ja,« antwortete ich, innerlich belustigt, in einem Tone, als ginge ich überhaupt nur auf solche Plätze ins Theater. Ich fühlte, der Fall imponierte der ganzen Schule; man war es offenbar nicht gewohnt, die Gesangselevinnen in der Loge des Staatsoberhauptes zu erblicken. Im mingrelischen Salon hingegen imponierten wieder meine Gesangsvorträge; dort war man es offenbar auch nicht gewöhnt, daß Dilettantinnen sich ans Klavier setzten und da Konzertwalzer und Koloraturarien zum besten gaben. Kleine, vielmehr kleinliche Eitelkeitsgenugtuungen.

Der erwartete Prinz Heraclius von Georgien kam nicht nach Paris; vermutlich, wenn er gekommen wäre, wäre die Flamme in meinem Herzen wieder aufgelodert und der Ehrgeiztraum, eine große Dame zu werden, hätte vielleicht den der »großen Künstlerin« verdrängt; um so mehr, als die Zweifel an meiner eigenen Begabung immer zunahmen, die unselige Angst wollte sich nicht überwinden lassen, und beim Vorsingen auf der Versuchsbühne konnte ich keinen echten Erfolg erringen. Nur meine Mutter stachelte meinen Mut und meinen Ehrgeiz immer wieder an; der Meister versprach auch, daß er in ein oder zwei Jahren des Studiums mich zu einer gediegenen Künstlerin bilden würde, und ich harrte aus.

Den folgenden Sommer – die mingrelische Familie war wieder nach den deutschen Bädern abgereist – begaben wir uns nach dem Duprezschen Landbesitz, um dort den Unterricht, der in der Pariser Schule unterbrochen war, weiter fortzuführen. Im Oktober ging es in die Stadt zurück, und auch die mingrelische Familie zog wieder in das Hotel du Louvre ein. Das alte Leben vom vorigen Jahre wiederholte sich: künstlerische Interessen und Genüsse in der Rue Laval, mondäne Interessen und Genüsse mit meinen asiatischen Freunden.

Eines Tages, gegen Ende des Winters, erhielt ich von Prinzessin Salomé eine Depesche: »Teilen Sie mein Glück: habe mich[100] eben mit dem Prinzen Achille Murat verlobt.« Am selben Tage hatte sie mit der Post eine Karte abgeschickt, die ich ein paar Stunden später als das Telegramm erhielt. Das vergilbte, vierzig Jahre alte Kärtchen befindet sich noch unter meinen alten Papieren. Ich gebe es in seiner ganzen Form wieder:


Princesse Salomé Dadiani

de Mingrélie

Ma bien bonne Contesco, venez demain

à deux heures précises – vous passerez

la journée avec nous. J'ai une foule de choses

très pressées à faire et je m'adresse à

vous comme à mon amie dévouée, pour vous demander

votre aide. Ne m'oubliez pas auprès de Mme.

votre mère. Soyez bien exacte.


Ich folgte freudig dem Rufe – für junge Mädchen gibt's doch auf der Welt nichts Interessanteres als Verlobung – und fand das ganze Haus in froher Erregung. Es wurde mir erzählt, wie das Ganze gekommen. Schon im vorigen Winter von der Kaiserin Eugenie und der Fürstin Ekaterina ins Auge gefaßt, ward die Angelegenheit in der letzten Woche zum Abschlusse gebracht worden. Der Kaiser übernahm es, seinem Neffen jährlich fünfzigtausend Franken Apanage zu geben, was mit dem gleichen Einkommen der Braut vortrefflich harmonierte, und ferner, dessen Schulden zu zahlen. Nun ja, Schulden ... daß der junge Mann einer der verschwenderischsten Lebemänner in Paris war, war ja stadtbekannt; unter den Diamanten der damals so gefeierten »schönen Helena«, Hortense Schneider, befand sich manches ihr vom Prinzen Achille Murat zu Füßen gelegte Geschmeide. Der Prinz galt für eine der schönsten Erscheinungen unter den jungen Leuten der hohen Gesellschaft. Sohn des Prinzen Lucien und einer Amerikanerin, hatte er in seinem Wesen, seinem Akzent, seinem blonden Typus sehr viel von einem Engländer an sich. Das alles wußte ich schon vom Hörensagen vor der Verlobungsnachricht. Die Braut fand ich damit beschäftigt, an ihre sämtlichen Petersburger und Pariser Bekannten Anzeigen ihres Glückes zu schicken, und beim Adressenschreiben mußte ich ihr helfen. Sie war wirklich glücklich. Zwar war die ganze Heirat eine von den beiderseitigen Verwandten arrangierte, und sie hatte ihren Bräutigam erst drei- oder viermal gesehen; aber in jenen Kreisen, namentlich in Frankreich, ist man es gewohnt, daß Ehen auf diese Art geschlossen werden. Und die blendende Erscheinung des ihr vorgeführten Freiers hatte es ihr gleich angetan: sie war regelrecht[101] verliebt in den jungen Mann und freute sich innig darauf, »Prinzessin Achille Murat« zu werden. Jetzt stand auch die interessante Aufgabe bevor, das Trousseau zusammenzustellen, die Einrichtung eines kleinen Palais im Elyséeviertel zu überwachen und die Brautgeschenke in Empfang zu nehmen, zu welchen schon heute der Grund gelegt war durch eine Diamantenriviere, die ihr die eigene Mutter gegeben, und ein Perlenhalsband, das ihr der Bräutigam zu Füßen gelegt. So hatte sie denn, wie's im alten Liede heißt, »Diamanten und Perlen«, schöne Augen hatte sie auch, eine doppelte Fürstenkrone, hunderttausend Franken Einkommen, neunzehn Jahre, und einen schmucken Gatten: »Mein Liebchen, was willst du noch mehr?« Auch mir erschien das damals wie ein Gipfelpunkt irdischen Glücksloses, und ich freute mich aufrichtig mit meiner Freundin. Später, viel später habe ich erfahren, daß es »mehr« gibt als alles das, daß es ein Glück gibt, das in seiner Innigkeit, auch in ganz beschränkten Umständen, jeden äußeren Glanz überstrahlt, jeden Reichtum ersetzt. O, mein namenloses Eheglück ... doch ich will nicht vorgreifen.

Am selben Tage lernte ich Salomés Bräutigam kennen; er war vorher kein Habitué des Hauses gewesen. Sein erster, vor einigen Tagen abgestatteter Besuch war mit dem feierlichen Anhalten um die Hand der Erwählten verbunden gewesen. »Erwählte« ist ein falscher Ausdruck, ich hätte sagen sollen »der ihm Bestimmten«. Er gefiel mir sehr gut – einundzwanzig Jahre alt, übergroß und schlank von Gestalt, dünnes blondes Schnurrbärtchen, blendende Zähne, tadellos elegantes und sicheres Auftreten. Von Zärtlichkeit freilich keine Spur; ein streng korrektes, um nicht zu sagen kaltes zeremonielles Benehmen wahrte er, wie gegen alle, so auch gegenüber der Braut.

Von nun an kam allmorgentlich der traditionelle große Blumenstrauß ins Haus geschickt, und am Nachmittag erschien der Verlobte selber, um ein Stündchen lang »faire sa cour«.

In den ersten Tagen des Mai 1868 wurde die Hochzeit gefeiert. Eine Hochzeit, die drei Trauungen umfaßte: zuerst die Ziviltrauung in der Mairie, dann eine Vormittagstrauung nach katholischem Ritus in den Tuilerien im Beisein des Kaiserpaares, und am selben Abend um neun Uhr in der griechischen Kirche nach orthodoxem Ritus. An dieser letzten Zeremonie nahm ich als erstes Kranzelfräulein teil. Mein Amt bestand darin, während des ganzen Trauungsaktes eine Krone über dem Haupte der Braut zu halten. Eine illustre Gesellschaft füllte die hellerleuchtete blumengeschmückte Kapelle. Die Toiletten der Damen waren von großer Pracht. Die[102] Braut trug einen Schleier, der für sie in Brüssel angefertigt worden und in dem das Familienwappen, das Goldene Vließ, eingewebt war. Der Schleier wallte von einem Diamantendiadem herab, das Hochzeitsgeschenk der Kaiserin Eugenie. Die Brautmutter war mit Orden und Ordensbändern geschmückt. Unter dem hier zur Schau getragenen Geschmeide fiel mir besonders der historische Smaragdschmuck auf, den die Schwester des Bräutigams, die berühmt schöne Anna Murat, vermählte Herzogin Mouchy-Noailles, zu dieser feierlichen Gelegenheit angelegt hatte. Und daß ich selber bei dieser Feier mir den Toiletten- und Edelsteinprunk so tief ins Gedächtnis prägte, daß ich heute dies alles noch vor mir sehe, ist das nicht auch einigermaßen beschämend? Ich gestehe sogar, daß ich noch weiß, was ich selber trug: ein bei Worth verfertigtes Kleid aus weißer Gaze über rosa Seidenfutter, mit unzähligen kleinen Volants von der Taille bis zur Schleppe garniert ... hoffentlich habe ich in dieser wichtigen und feierlichen Stunde, wo meine Freundin vor dem Altare stand, für ein neues Schicksal die Weihe zu erhalten, doch auch an andere Dinge als an die vielen kleinen Volants gedacht; aber Tatsache ist, ich sehe noch den rosa Schimmer durch die weißen Gazefäden rieseln.

Nach der Trauung fand bei der Fürstin ein kleiner Ball statt. Die unzähligen Volants hatten noch Gelegenheit, im Tanz herumzuwirbeln, und ich erinnere mich, daß mein Partner bei der ersten Quadrille ein Prinz Bourbon war. Die Neuvermählten waren bald unbemerkt vom Feste verschwunden. Von einer Hochzeitsreise hatte man abgesehen. Das junge Paar bezog gleich sein neueingerichtetes kleines Hotel in der Rue de Preßbourg.

Dort habe ich viele Stunden verbracht. Gewöhnlich lud mich Salomé zum Diner ein, und ich mußte um eine Stunde früher kommen, damit wir Zeit zum Plaudern hatten, ehe die Gäste und ehe der Hausherr kamen. Nach dem Essen fuhr man gewöhnlich, besonders wenn wir drei allein waren, in irgendeines der sogenannten »kleinen Theater«, welche Salomé vor ihrer Verheiratung nicht besuchen durfte und die jetzt kennen zu lernen ihr viel Spaß machte. Ich hätte eigentlich, als noch unvermählt, auch nicht dahin gehört, aber einmal galt ich mit meinen vierundzwanzig Jahren schon aus der Kategorie der jungen Mädchen ausgeschaltet, und zweitens war man ja in der »baignoire« für das Publikum unsichtbar.

Meine Freundin schien sich sehr glücklich zu fühlen; wenigstens war sie immer heiter und gut aufgelegt und freute sich an all den Festlichkeiten und Empfängen, die im Kreise der neuen Familie, bei Hof, bei den Schwiegereltern, bei Mouchy, ihr zu Ehren veranstaltet[103] wurden. Mich führte sie auch bei ihren Verwandten ein, und so machte ich mehrere dieser Unterhaltungen mit. Die Saison ging aber bald ihrem Ende entgegen, der Sommer war da und die Gesellschaft flog auseinander ...

Das junge Paar ging zuerst auf ein paar Wochen nach dem herzoglichen Schlosse Mouchy und plante, den Rest des Sommers in Baden-Baden zuzubringen. Darauf beredete ich meine Mutter, daß wir auch nach Baden-Baden gehen sollten. Den Gesangsunterricht in der Duprezschen Schule hatte ich in der letzten Zeit stark vernachlässigt; es wurde mir immer klarer, daß ich das große Talent nicht besaß, wie ich es mir eingebildet hatte, und ich hoffte im stillen, daß der Aufenthalt in dem glänzenden Weltbade, wo ich in den Kreisen meiner Freundin verkehren würde, meinem Schicksal vielleicht eine andere, glücklichere Wendung bringen könnte. Meine Mutter mochte dieselbe Hoffnung hegen, oder zog es sie an die Trente-et-quarante-Bank, um noch einmal zu versuchen, ob sich die alte Erratungsgabe nicht doch noch einstellen würde, kurz, wir reisten nach Baden-Baden ab.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 97-104.
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