13. Das Jahr 1870–1871

[112] Prinz Achille Murat war Offizier in der französischen Armee; als solcher erhielt er die Order, sich nach Algier in Garnison zu begeben. Natürlich begleitete ihn seine Gemahlin, und so war Paris wieder leer für mich. Leer auch mein Herz und zerstört meine Zukunftspläne. Unser kleines Vermögen war durch alle diese Studien- und sonstigen luxuriösen Existenzkosten stark zusammengeschmolzen ... und so kam es, daß ich mich doch wieder dem Gesange zuwandte. Wir reisten nach Mailand, um dort bei Meister Lamperti Rollen zu studieren und womöglich an der »Scala« zu debütieren. Lamperti prüfte mich, fand die Stimme wunderschön – ich müsse aber noch mindestens ein Jahr bei ihm lernen, ehe ich daran denken durfte,[112] in Konzerten oder Opern aufzutreten. Gut denn – also wieder do re mi fa sol la si ...

Ich lernte und übte fleißig, aber »das Wichtige« – das sozusagen Weltausfüllende, als das ich zu Beginn meiner Lernzeit die angestrebte Kunstbewältigung empfand – das war mir verschwunden.

Und nun brach der Deutsch-Französische Krieg aus. Von Salomé Murat erhielt ich die Nachricht, daß sie in Algier einem Sohne das Leben geschenkt und daß er geboren ward am 1. Juli, dem Tage der Kriegserklärung. Ich hatte das Ungewitter nicht kommen sehen, und als es losbrach, ließ es mich gerade wieder so unbeteiligt wie die Stürme des Jahres 1866. Ich hatte ganz anderen Kummer: es wollte durchaus nicht gelingen mit der künstlerischen Laufbahn. Wenn immer ich Probe sang, schnürte mir die Angst die Kehle zu – und ich hielt nicht stand. Mir ward der »Singsang« schon zur Qual. Aber ich kämpfte weiter, denn immer wieder sagten mir die anderen, daß die »Angst« überwunden werden könne und daß dann mein Talent siegen müßte. Bei alledem kümmerte ich mich nur wenig um die große Tragödie, die damals die Welt erschütterte. Da waren noch andere Qualen als die meinen gelitten, da erzitterte die Mitwelt in anderer Angst! Ich ließ dieses historische Elementarereignis wieder ohne innere Auflehnung am Horizont vorübergehen. Die wiederholten Siege Deutschlands flößten mir großen Respekt ein, während der Sturz der napoleonischen Dynastie, mit der ich in so nahen Kontakt gekommen, mir gleichzeitig herzliches Bedauern verursachte; andererseits aber gönnte ich meinem liebenswürdigen königlichen Visavis die stolze Kaiserkrone.

Von dem Jammer und den Greueln, die der Deutsch-Französische Krieg im Gefolge hatte, hörte ich wenig – oder wollte nichts hören, wehrte es ab mit dem gewohnten fatalistischen »C'est la guerre!« Politik interessierte mich nicht im mindesten, Tagesblätter las ich nicht. Dafür desto mehr Bücher. Diese versetzten mich in eine zweite Welt, in der ich neben meinem eigenen Leben ein zweites Leben lebte. In früher Kindheit hatte mich die Lese- und Lernleidenschaft ergriffen; durch den Umgang mit Elvira, der Dichterin und Gelehrtentochter, ward sie noch angefacht – und nie, unter keinen Umständen hat sie mich verlassen. Ob ich nun zu Hause in Baden oder auf der Reise war, ob ich Opernschulen besuchte oder in der großen Welt unter Festen und Freuden mich bewegte, ob ich verliebt und verlobt und wieder entlobt war, ob mir die Existenz Glanz und Freuden oder Kummer und Sorgen bot – immer verbrachte ich mehrere Stunden des Tages in Gesellschaft von Büchern.[113] Damals, in der Zeit, von der ich spreche, hätte das, was ich gelesen, schon eine stattliche Bibliothek gefüllt. Den ganzen Shakespeare, den ganzen Goethe, den ganzen Schiller und Lessing, den ganzen Victor Hugo. Der letztere – eine Welt an sich –, der mir schon als Kind mit seinem »Ruy Blas« einen so gewaltigen Eindruck gemacht, den wollte ich in allen seinen Werken kennen lernen und berauschte mich an seiner Sprachgewalt, an den Sonnenflügen seines Genies. Anastasius Grün, Hamerling, Grillparzer, Byron, Shelley, Alfred Musset, Tennyson unter den Dichtern; und von den Romanschriftstellern kannte ich den ganzen Dickens, den ganzen Bulwer, oder sagen wir lieber gleich: die ganze Tauchnitz-Edition. Im Französischen die Romane der George Sand, Balzac, Dumas – das Theater der Corneille, Racine, Molière, Dumas fils, Augier, Sardou. Doch ebenso wie die schöne Literatur und vielleicht noch mehr fesselte mich die wissenschaftliche. Ich las ethnographische, chemische, astronomische Werke; doch die liebste Disziplin war mir die Philosophie. Kant, Schopenhauer, Hartmann (Philosophie des Unbewußten), Strauß, Feuerbach, Pascal, Comte, Littré, Victor Cousin, Jules Janet, Alfred Fouillee (die drei letzteren in der »Revue des deux Mondes«, die ich regelmäßig von der ersten bis zur letzten Seite las); diese und noch andere, deren Namen ich hier nicht alle aufzählen kann, waren meine geistigen Genossen, in deren Gesellschaft ich eine glückliche, meinen persönlichen Erlebnissen entrückte Doppelexistenz führte, in der sich mir die Seele wohlig weitete. Damals war noch nicht die Zeit der Bilderstürmerei, die seither sich befleißigt, die Werke der älteren Dichter herabzuwürdigen, man konnte sich des vornehmen Umgangs mit vollem Stolze freuen. In der Wissenschaft hingegen war die wirklich vornehmste unter ihnen – ich meine die Naturwissenschaft – noch nicht zu der Höhe, dem Einfluß und der Revolutionierung der Geister gelangt, die sie seither durch Ausarbeitung der Entwicklungstheorie sich erobert hat. Ihre Anwendung auf die geistigen und sozialen Phänomene war mir noch unbekannt. Von sozialer Philosophie und Soziologie wußte ich noch nichts; wohl hatte schon Darwin seine Entstehung der Arten in die Welt gesandt, schon waren in den Werken von Lassalle und Engels die wirtschaftlichen Probleme aufgeworfen, schon hatte Buckle seine Einleitung zur Geschichte der Zivilisation veröffentlicht, der Streit über Büchners »Kraft und Stoff« war schon entbrannt, Herbert Spencers Hauptwerke waren schon ausgegeben, doch zu mir war von alldem noch nichts gedrungen. Ich nahm mit ganzer Wißbegierde hin, was mir die Bücher von Natur und Gesellschaft als von etwas[114] Seiendem berichteten, als etwas Werdendes faßte ich sie nicht auf; und namentlich fehlte mir der Begriff, daß die sozialen Zustände anders werden sollen und daß zu dieser Entwicklung der wissende Mensch kämpfend mitwirken kann.

Als der Deutsch-Französische Krieg beendet war, weilten wir zufällig in Berlin.

Meine Studien hatten mich – da ich es auch mit der deutschen Gesangskunst versuchen wollte, nach der preußischen Hauptstadt geführt.

Von einem Balkon Unter den Linden sah ich den Einzug der aus Frankreich heimkehrenden siegreichen Truppen. Ich habe das Bild im Gedächtnis voll Sonnenschein, Jubel, flatternden Fahnen, gestreuten Blumen, Triumphbogen – ein hohes, historisches Freudenfest. Wie anders würde heute meine Auffassung sein – – doch die Geschichte dieser Wandlung kommt erst viel später!

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 112-115.
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