6. Eine Saison in Homburg v. d. Höhe

[70] 1864 – das war das Jahr, in dem die österreichischen Truppen im Verein mit den deutschen gegen Dänemark Krieg führten. Wenn ich im eigenen Gedächtnis mir jenes Jahr zurückrufe, so spielt dieses Ereignis gar keine Rolle darin. Ich werde wohl davon etwas läuten gehört haben, aber da niemand mir Nahestehender dabei beteiligt war, so war dieses Läuten zu leise, um im Seelenphonograph Spuren zurückzulassen. Ueberhaupt, die naive Auffassung kriegerischer Ereignisse, die damals die meine war und wohl auch heute noch vielverbreitet ist, ist die, daß Kriege Dinge sind, die sich ebenso notwendig und regelmäßig und außer aller menschlicher Einflußsphäre abspielen, wie Vorgänge im Erdinnern und am Firmament; man hat sich also darüber nicht zu ereifern. Und spielen sie sich in der Ferne ab, so ist es schon gar wie der Zusammenstoß zweier Gestirne – das geht einen doch nichts an, dadurch wird man sich doch in seinen Beschäftigungen und Vergnügungen nicht stören lassen ... höchstens interessant kann man es finden, daß die »Geschichte« wieder einmal in Tätigkeit geraten ist, und gespannt kann man sein, welche neuen Linien sie mit ihrem Griffel auf die Landkarte zeichnen wird. Daß ich übrigens diese Spannung empfunden hätte, glaube ich nicht. Den politischen Teil der Zeitungen las ich nicht – wenn ich überhaupt Zeitungen las (meine Lektüre bestand nur aus französischen und englischen Büchern) und wenn ich von dem Sieg der Verbündeten erfahren und mich darüber gefreut habe, so geschah dies höchstens dadurch, weil in allen Musikalienhandlungen der »Düppler-Schanzen-Marsch« zu sehen war, auf dem Umschlag das übliche hübsche Bild vorstürmender Soldaten, von denen einer im Vordergrunde links die hochgeschwungene Fahnenstange hält, während der Fahnenstoff sich oben über das ganze Blatt in so großen Wellenlinien krümmt, daß man ihn ordentlich im Winde klatschen hört. Dieser Notenheftumschlag ist mir im Gedächtnis geblieben, sonst vom ganzen schleswigholsteinschen Feldzug – nichts.

Das Jahr 1864, besonders der Sommer, brachte mir ganz andre Erlebnisse, die mich tief bewegten und mir unauslöschlich eingeprägt blieben.

Wir waren nach Bad Homburg v. d. Höhe gefahren. Daß die Wahl meiner Mutter auf diesen Ort fiel, dazu gab die Anziehungskraft des Trente-et-quarante-Tisches sicher den Ausschlag. Nie mehr wollte sie einen Spielsaal betreten, das hatte sie vor[70] einigen Jahren beteuert; aber jetzt war die Lust wieder erwacht und auch die Idee, daß es vielleicht doch möglich wäre, das Experiment, das zu Hause gemacht worden war, zu wiederholen und eine kleine Million einzuheimsen, was ja unter allen Umständen angenehm ist. Ich sagte nicht nein zu diesem Projekt, denn Homburg war ja nebstbei ein sehr fashionabler Badeort, wo ich sicher Gelegenheit fände, mich zu unterhalten. Mein Vormund war gar nicht einverstanden; er fand für meine Mutter den Spielsaal gefährlich und für mich die dort verkehrende Gesellschaft unpassend. Homburg stand in dem Rufe, eine Herberge für die Pariser Demimonde zu sein. Und in der Tat, in jenem Jahr sah man auf der Kurterrasse zwei besonders auffallende Erscheinungen, deren Namen den Zeitgenossen des zweiten französischen Kaiserreiches wohl noch im Gedächtnisse sind: Cora Pearl und Léonide Leblanc. Mir war die Existenz der Pariser Haute-Galanterie nicht unbekannt. Als Leserin der damals modernen französischen Romanschriftsteller Alexander Dumas, Eugen Sue, George Sand, Paul Féval hatte ich Kenntnis erlangt von dem Leben und dem Luxus der »grandes courtisanes«, wie sie von jenen Autoren genannt wurden. Doch neben solcher Gesellschaft beherbergte Homburg auch ein hochanständiges Publikum von kurgebrauchenden Fremden aus aller Herren Länder, vorzüglich Russen und Engländer.

Unsere Wohnung war schon vorher bestellt in einem Hause, das dem Kursaal gegenüberlag und dessen Besitzer ein Bankier namens Wormser war. Frau Wormser war eine liebe, gescheite, sympathische Frau. Mit dieser Erwähnung schicke ich ihr einen Gruß ins Schattenreich.

Ich weiß nicht, wie Homburg sich seither entwickelt hat. Ich sehe es so vor mir: eine lange breite Straße, die von der Eisenbahn bis in die Unendlichkeit führt und auf der rechten Seite von einem Platz unterbrochen wird, wo der Kursaal steht; der Straße entlang sind die Häuser entweder Hotels, die üblichen: Englischer, Russischer oder sonstiger Hof, oder sie tragen ein Plakat mit der Anzeige »Appartements meublés« ... Wenn der Kursaal überschritten ist, so nehmen die Hotels ab und die zur Unendlichkeit führende Straße nimmt den Charakter der Kleinstadt an, und es münden darein auch die kleinen Gassen und Gäßchen, die zur Residenz des regierenden Landgrafen von Hessen-Homburg gehören. Damals saß der letzte Landgraf auf diesem Thron, denn zwei Jahre später starb nicht nur mit ihm seine Linie aus, so daß die Landgrafschaft an Hessen-Darmstadt fiel, sondern sie wurde nach dem Frieden vom 3. September[71] 1866 als ein Teil der Provinz Hessen dem Königreich Preußen einverleibt. Der hessen-homburgische Patriotismus, wenn es einen solchen gab, mußte in rascher Folge in einen darmstädtischen, nassauischen, preußischen und reichsdeutschen umgekrempelt werden.

Da wo die große Straße beim Kurhausplatz abbrach, da bog eine Seitengasse nach rechts, dem Kursaal gegenüber bis zum Park. Hier war das vornehmste Hotel des Ortes, Hotel Bellevue, und um die Ecke, die schon zu den Parkanlagen gehört, stand das große dreistockige Haus »Weckerlin«, in dessen Erdgeschoß ich so manche frohe Stunde erlebte – davon später.

Als wir ankamen, kannten wir noch niemand, aber in Badeorten knüpfen sich ja leicht Beziehungen an. So geschah es, daß wir schon am ersten Abend im Kontor unseres Hausherrn, wo meine Mutter Geld einwechselte (das Betriebskapital zur zweifellosen Millionenerwerbung), mit einem alten Herrn zusammentrafen, den uns Herr Wormser als »Bankier Königswarter aus Paris« vorstellte. Als wir dann am Nachmittag zur Musik kamen, schloß sich Herr von Königswarter uns an und stellte uns mehrere andere Kurgäste, Herren und Damen, vor. So lernten wir eine Gräfin Vitztum kennen, die in Paris lebte; den Baron Alphonse Rothschild aus Neapel und mehrere andere, an die ich mich nicht mehr erinnere.

Wir hatten unser Leben so organisiert: den Vormittag brachte meine Mutter bei der Arbeit zu, ich blieb indessen zu Hause, denn es war grundsätzlich festgestellt, daß ich die Spielsäle nicht betreten sollte, und während dieser Zeit beschäftigte ich mich mit meinem Klavier und mit meinen Büchern. Wir hatten sofort ein Piano gemietet und in der Leihbibliothek, die sich im Hause nebenan befand, ein Abonnement auf gleichzeitig sechs Bände eröffnet. Ich war immer eine hungrige Bücherverschlingerin – ohne drei Bände Belletristik (damals waren die vielbändigen Romane modern), zwei Bände Tauchnitz und einen Band deutscher Wissenschaft – gab ich mich nicht zufrieden. Ueberhaupt seit ich zurückdenke, habe ich immer, unter allen Umständen und in jeder Lage, zwei Leben geführt, das eigene und das meiner Lektüre – ich will sagen, die erlebten und die beschriebenen Ereignisse haben gleichzeitig meinen Erinnerungsschatz bereichert; die gekannten Personen meines Umganges haben sich um die Helden meiner Autoren vermehrt; eine doppelte Erfahrung ist es, an der sich, was ich bin, herausgebildet hat. Die Märchen von »Tausendundeiner Nacht« gehören geradeso gut zu meinen Orienteindrücken wie mein wirklicher Aufenthalt im Kaukasus, und mancher lebendige Kurmacher hat mir nicht so lebhaft den Herzschlag[72] beschleunigt, wie das vorgestellte Bild des Marquis Posa. Und empfindet man es nicht oft als ein Erlebnis, wenn aus den Worten eines Denkers oder Gelehrten eine neue Wahrheit hervorbricht, wenn da plötzlich eine Falte des Schleiers sich lüftet, mit dem das große Mysterium Weltall verhüllt ist? ...

Also denn, den Vormittag widmete ich meiner Beschäftigung zu Hause. Um ein Uhr kam meine Mutter von der Arbeit (ach, wie mühsam und eigentlich verhaßt, sagte sie –) und wir dejeunierten auf unserem Zimmer. Nachmittag zum Konzert wurde hübsch Toilette gemacht; um sieben Uhr Diner im Kurhausrestaurant, meist in Gesellschaft, hernach dreimal in der Woche Oper; eben gastierte die noch ganz junge, aber schon hochberühmte Adelina Patti. Sie erhielt für jede Vorstellung ein Honorar von fünftausend Franken. Ich hörte sie in Sonnambula, Faust, Lucia, Don Pasquale, Traviata, Linda, Crispino e la commare. Es muß doch ein göttliches Gefühl sein, da auf den Brettern zu stehen, die Verkörperung einer idealen Gestalt und mit dem Zauber seiner Kunst so viele Herzen gefangenzunehmen, so viel Glanz, Ehren, Reichtümer zu erwerben, dabei an dem Wohlklang der eigenen Stimme sich berauschen: diese Gedanken, mit einem gewissen Neidgefühl verbunden, durchkreuzten meinen Sinn, während die Patti sang, und ich verstand nun, warum meine Mutter es als solchen Abbruch ihres Lebensglückes empfunden, daß man sie daran gehindert hatte, eine Malibran zu werden. Die Malibran, so versicherte man, war ja noch hundertmal größer gewesen als die Patti, und ihre Stimme (meiner Mutter nämlich) sei doch von Kennern mit der der Malibran auf gleiche Stufe gestellt worden. Ob ich nicht doch vielleicht diese Gottesgabe geerbt hätte? ... Wir ließen den Opernkapellmeister kommen, er solle prüfen, ob ich Stimme habe, und wenn ja, mir Gesangsunterricht erteilen. Er kam, prüfte, fand, daß das Material gut sei, und gab mir Lektionen. Natürlich nur Stimmausbildungsübungen. Das war mir etwas langweilig, ich hätte gerne gleich eine Bravourarie einstudiert und empfand es überhaupt als Enttäuschung, daß wenn ich ein schönes f oder g bis zum Fortissimo anschwellen und dann wieder abnehmend verhauchen ließ, daß da der Herr Kapellmeister nicht aufsprang, um begeistert auszurufen: »Das ist ja über die Patti!« Und so gaben wir nach einer Woche den Unterricht wieder auf, um so mehr, als meiner Mutter – da die Arbeit in ganz unerklärlicher Weise öfters erfolglos blieb – das Cachet von zwanzig Franken für die Stunde doch zu empfindlich hoch erschien.[73]


Eines Nachmittags, bei der Musik, sagte uns Herr von Königswarter:

»Die Fürstin von Mingrelien hat den lebhaften Wunsch, die Damen kennen zu lernen.«

Wir wußten schon lange, wer die Fürstin von Mingrelien sei, da wir sie täglich im Kurpark und im Theater sahen, und weil Herr von Königswarter, der mit ihr verkehrte, uns so viel von ihrer Lebensgeschichte mitgeteilt hatte, als er wußte. Ekaterina Dadiani, frühere Fürstin des kaukasischen, jetzt dem russischen Reiche einverleibten Landes Mingrelien, war eine hochelegante Frau von ungefähr sechs- oder siebenundvierzig Jahren, noch immer stattlich, und mußte in ihrer Jugend eine blendende Schönheit gewesen sein von echt georgischem Typus. Sie lebte, der Erziehung ihrer Kinder wegen, seit einigen Jahren in Europa, abwechselnd in Petersburg und Paris; im Sommer kam sie regelmäßig die Homburger Heilquelle trinken. Jeden Morgen um sieben Uhr ging sie zum Brunnen, in den Spielsälen machte sie oft einen Rundgang, spielte aber nie; beim Nachmittagskonzert pflegte sie auf einem bestimmten Platz auf der Kurhausterrasse zu sitzen, stets von einem ganzen kleinen Hof umringt. Ihre Familie bestand aus zwei Söhnen und einer Tochter. Ihr ältester Sohn Nikolaus, Niko genannt, war damals siebzehn, die Tochter Salomé sechzehn, und der jüngste Sohn André vierzehn Jahre alt. Zu ihrem Haushalt – sie hatte das ganze Erdgeschoß des Hauses Weckerlin inne – gehörten ein Sekretär, die Gouvernante für die Tochter, der Hofmeister für die Jungen, ein Kammerdiener und zwei Kammerjungfern.

Nach dem Tode ihres Mannes hatte sie als Vormünderin ihres Sohnes die Zügel der Regierung ergriffen. Von den Türken arg bedrängt, zog sie einmal an der Spitze ihrer Reiter selber an den Feind. Es war ihr aber unmöglich gewesen, sich zu halten, und sie mußte die Protektion Rußlands annehmen, eine Protektion, die eigentlich eine Annexion darstellte. Den Titel Fürst von Mingrelien und die Länder durfte der Erbe behalten, aber in Gestalt eines Majorats, auf den Thron hatte er zu verzichten. Der Fürstin-Witwe wurde eine bedeutende Apanage ausgeworfen und am russischen Hofe der Rang einer fremden Souveränin eingeräumt. Sie war es zufrieden, denn jene kaukasischen Fürstentümer und Königreiche – Georgien, Imeretien, Mingrelien u.s.w. – waren stets von mohammedanischen Feinden bedroht, und unter russischem Schutze konnten sie sich in Ruhe entwickeln, gedeihen und den ihnen angeborenen Sitten, Gebräuchen, Sprachen und Trachten treu bleiben.[74]

In der Gesellschaft der Fürstin konnte man manchmal ein paar kaukasische Damen sehen, welche ihr malerisches Heimatskostüm trugen; sie selbst bezog ihre Toiletten von Worth und trug sie mit dem ganzen Schick und der Eleganz einer echten großen Dame. Sie sprach fließend Französisch, wenn auch mit stark russischem Akzent; mit ihren Kindern unterhielt sie sich meist in georgischer Sprache.

Die gewünschte Bekanntschaft war gemacht. Ich brachte der interessanten Frau kindliche Bewunderung entgegen und sie schloß mich in ihr Herz. Bald wurde ich fast ein Kind des Hauses. Zuerst saß ich nur während der Konzertstunden in dem großen Kreise; dann forderte mich die Fürstin auf, sie des Morgens zum Brunnen zu begleiten, sie in ihrer Wohnung zu besuchen, bei ihr zu dinieren. Meine Mutter hielt sich ferne, einige förmliche Besuche und Gegenbesuche, das war alles. Ich hingegen wurde in die Intimität der Fürstin aufgenommen, die eine große Vorliebe für die Jugend hatte. Salomé, die Tochter, mir an Jahren weit näher, kam viel weniger in Berührung mit mir als die Mutter; sie galt mit ihren kaum zurückgelegten sechzehn Jahren noch als Kind und mußte meist mit der Gouvernante bleiben.

Von ihren Landsleuten wurde die Fürstin mit »Dedopali« angesprochen: das bedeutet Königin, wörtlich »Mutter der Mütter«, und ist dortzulande der jeder Landesmutter gebührende Titel. Ich wurde von der Familie allgemein »La Contessina« genannt. Ein Freund des dadianischen Hauses, der italienische Marchese Almorini, hatte mich so angesprochen, und die Bezeichnung war mir geblieben. Er war eine komische Erscheinung, dieser Almorini. Ein alter Beau, immer Komplimente machend, immer tänzelnd, immer aux petits soins mit den Damen. Sein Alter verriet er nicht; er trug eine kohlschwarze Perücke und gefärbten Bart. Er wußte so viele Geschichten und Chroniken aus längstvergangenen Zeiten zu erzählen, daß der stehende Witz entstanden war, er sei wie Cagliostro schon seit mehreren Jahrhunderten auf der Welt. Der Sekretär der Fürstin, der zugleich Reisemarschall, Haushofmeister, Schalnachträger, kurz »Faktotum« war, hieß Monsieur Ferry und war ein Franzose. Er war das Bild der Devotion. Da man nicht immer wie bei tief ehrerbietigem Gruße den Oberkörper nach vornüber neigen kann, so stand er, wenn er zu seiner Herrin sprach, mit schief nach der Seite geneigter Hüfte da und titulierte sie stets: »Altesse«. Er war ein Mann von zirka vierzig Jahren mit rötlichem Schnurr- und Backenbart.

Der alte Kammerdiener, Monsieur David genannt, ein dicker,[75] bartloser Schweizer, war schon seit zwanzig Jahren im Hause, hatte noch in Mingrelien beim verstorbenen Fürsten gedient, und war das echte, hingebende Hausmöbel, im Besitze des vollen Vertrauens seiner Herrin und der Liebe ihrer Kinder.

Zahlreich und von präziser Klarheit sind die Bilder, die mir aus den im Hause und in Gesellschaft Dedopalis verlebten Stunden eingeprägt sind. Das Orientalische, Exotische, vermischt mit dem russisch und pariserisch Weltlichen, gewürzt von Romantik und eingerahmt von Reichtumsglanz, das übte einen eigenen Zauber auf mich; ich war wirklich geradezu glücklich über diese Beziehung, sie war mir wie die Erfüllung unbestimmter, langgehegter Träume. Wenn ich, zu welcher Stunde immer, die Wohnung im Hause Weckerlin betrat, hatte ich ein gehobenes, freudiges Gefühl. Aus dem Vorraum trat man in ein großes dreifenstriges Speisezimmer mit Balkon, rechts davon ein Ecksalon, in dem die Fürstin sich aufzuhalten pflegte, hinter diesem ihr Schlafzimmer. Links vom Speisesaal lagen die Zimmer der Kinder. Es war ja nur ein gewöhnliches, wenn auch vornehmes Appartement meublé, also nichts von fürstlicher Pracht dabei; aber durch die vielen eigenen herumliegenden Sachen, durch die Blumen, durch die Art, wie die Möbel gestellt waren, hatte das Ganze doch ein privates und charakteristisches Gepräge; schon der Duft, der diese Räume füllte, ein Gemisch von Orangenblütenparfüm, russischen Zigaretten und Leder, hatte etwas Persönliches. Ich habe im Laufe der Jahre die Dedopali an vielen Orten getroffen, und überall, wo sie weilte, schwebte dieser selbe Duft in ihren Gemächern und haftete an allen ihren Sachen. Viele Stunden brachte ich in dem Ecksalon zu und lauschte den Worten der Fürstin, die mir manches Romantische aus ihrem Leben erzählte. Noch einige Jahre würde sie in Europa bleiben und dann mit den Söhnen in ihr Land zurückkehren. Die Tochter würde wohl inzwischen schon verheiratet sein – »und auch Sie, Contessina, werden mich einmal mit Ihrem Mann im Kaukasus besuchen, nicht wahr?«

»Sie sind schon einundzwanzig Jahre alt und so hübsch – Sie müssen bald eine glänzende Partie machen und recht glücklich werden ... Kommen Sie, ich will Ihnen zeigen, was für ein Hochzeitsgeschenk ich Ihnen bestimme.«

Und sie führte mich in ihr Schlafzimmer, befahl der Kammerjungfer, die Schmuckkassette hinzustellen, und zeigte mir ihre Schätze – eine Prachtsammlung von Diamanten, Edelsteinen und Perlen. Eine kleine hübsche Brillantbrosche holte sie heraus:[76]

»Sehen Sie, das ist das Cadeau de noce, mais d'abord il faut avoir ›le promis‹.«

Sie frug mich aus: gab es denn niemand, der um mich sich bemühte, niemand, der mir besonders gefiele? Nein, mein Herz war frei. – Sie selbst war vor kurzem nicht weit davon entfernt gewesen, sich wieder zu vermählen. Im vorigen Sommer in Biarritz hatte der Herzog von Ossuna, der größte und reichste Edelmann Spaniens, um ihre Hand angehalten, aber sie hatte sich nicht entschließen können; sie lebte nur mehr der Zukunft ihrer Kinder, und sie freute sich auch schon zu sehr auf die Rückkehr in ihr Land, von dem sie bis zur Großjährigkeit Nikos verbannt war.

Eines Nachmittags, während des Kurkonzertes, saßen wir wieder alle auf der Terrasse auf dem gewohnten Platz in Dedopalis Kreise. Es hieß, der Zar Alexander II. sei diesen Tag in Homburg anwesend. Vielleicht werde er in den Kurpark kommen. In der Tat, plötzlich entstand eine Bewegung, und von allen Seiten rief man: »L'Empereur, l'Empereur ...« Und unten im Park sah man die hohe, imponierende Gestalt Alexanders II., der in Begleitung von seinem Adjutanten unter der Terrasse promenierte. Als sein Blick auf die Dedopali fiel, kam er die Stufen heraufgeeilt. Die Fürstin erhob sich, um ihm einige Schritte entgegenzugehen, und er ergriff ihre Hand, die er küßte. Wir anderen blieben in achtungsvoller Entfernung stehen; ich hörte aber doch, wie nach kurzem Gespräch der Kaiser etwas lauter und in französischer Sprache vorschlug:

»Wollen wir eine Tour in den Sälen machen?«

Und er bot ihr seinen Arm. Wir anderen gingen nach. Beim Roulettetisch borgte Alexander II. einige Goldstücke von seiner Begleiterin aus – entweder hatte er kein Geld bei sich oder meinte er, daß das geliehene Glück bringe, und warf den Einsatz auf Rot. Er gewann, ließ das Geld ein paarmal stehen, aber schließlich wurde es von dem kleinen, selbst gegen Autokraten rücksichtslosen Rechen weggescharrt.

Eine andere Episode ist mir im Gedächtnis geblieben; nämlich ein Besuch, den Adelina Patti der Fürstin von Mingrelien abstattete. Sie kam in Begleitung einer Gesellschafterin und blieb eine kleine halbe Stunde in dem Ecksalon, während ich zufällig auch anwesend war. Die gewisse ehrfurchtsvolle Scheu, die mir vor einigen Tagen der Selbstherrscher aller Reußen eingeflößt hatte, erfüllte mich jetzt in anderer Qualität, aber beinahe gleichstark, vor dieser sieghaften und dabei mit kindlicher Schüchternheit auftretenden Herrscherin[77] im Reiche des Gesanges – ein Reich, das mir seit meiner Kindheit als ein besonders mächtiges vorschwebte. Die Unterhaltung drehte sich meist um Musik, und um ihre Lieblingsrolle befragt, nannte Adelina Patti die Margarete in »Faust«.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 70-78.
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