7. Heraclius von Georgien

[78] Eines Tages befand sich im Kreise der Fürstin eine neue Erscheinung. Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, mittelgroße, elegante Gestalt, regelmäßige Gesichtszüge mit schwermütigem, beinahe düsterem Ausdruck, langer, schmaler, schwarzer Schnurrbart.

»Mein lieber Vetter, Prinz Heraclius von Georgien – – meine herzige Contessina, von der ich dir so viel erzählte –« stellte die Fürstin uns gegenseitig vor.

Der Vetter aus Georgien gefiel mir, und ich gefiel ihm auch. So etwas spürt man gleich. Es entspann sich sofort eine lebhafte Unterhaltung zwischen uns. Nun kamen wir täglich mehrere Male zusammen, denn der Prinz war stets in Gesellschaft seiner Cousine, war bei ihr zu allen Mahlzeiten und für die Abende eingeladen. Abends pflegte musiziert zu werden, was man so musizieren nennt; der älteste Sohn klimperte Klavier und sang allerlei Couplets und Boulevardgassenhauer; die anderen sekundierten, und ich trug ein paar wirkliche Klavierpiecen vor: Chopinsche Nokturnen, Mendelssohnsche Capriccios, Lisztsche Rhapsodien – sang auch ein paar der herumliegenden Romanzen und erntete großen Beifall – wurde regelmäßig als musikalisches Wunder angestaunt.

Von Dedopali ließ ich mir gerne über ihren Vetter erzählen. Er war der Sohn des letzten Königs von Georgien; hieß eigentlich Bagration, so wie die russischen Kaiser Romanow heißen – er war ein »Bagratide«. Diese Bezeichnung klang mir besonders heroischklassisch. In Tiflis besaß er ein Palais und ein altes Königsschloß in den Bergen. Er lebte viel in Europa; manchmal zog er sich aber auch in seine kaukasische Heimat zurück, wo die Bevölkerung ihn immer noch als König behandelte. Von Temperament sei er eher melancholisch als heiter, wahrscheinlich war daran seine nicht ganz glänzende Gesundheit schuld – die gelbliche Gesichtsfarbe zeigte ja auf eine kranke Leber. Solche Leiden zu kurieren, trank er abwechselnd die Wasser von Homburg oder Karlsbad oder Vichy.

»Besser würde er sich von seinen Leiden kurieren,« fügte die[78] Fürstin hinzu, »wenn er sich eine junge Frau nähme, die ihn aufheitert, die ihn recht glücklich macht, eine liebe junge Frau wie Sie, ma petite Contessina ... Versuchen Sie einmal, ihm ein wenig den Kopf zu verdrehen – es ist schon lange ein Lieblingswunsch von mir, ihn zu verheiraten.«

Solche Reden verdrehten mir ein wenig den Kopf. Ich fand diesen exotischen Königssprossen, diesen dunklen Bagratiden, der dabei ein vollendeter Homme du monde war, wirklich in höchstem Maße interessant. Vom Interessiertsein bis zum Verlieben ist noch ein Schritt – aber kein gar weiter. Der geringste Anlaß und dieser Schritt wird zurückgelegt. Bei mir kam es so (ich habe diese Episode viele Jahre später in dem Roman »Trente-et-quarante« verwertet):

Eines Tages war ich wieder zum Diner in der Villa Weckerlin geladen. Meine Tischnachbarn waren ein Engländer, Lord Hillsborough, und Heraclius. Nach dem Diner begab sich die Gesellschaft in den Salon; die Hausfrau forderte mich auf, ein Klavierstück zum besten zu geben. Ohne mich bitten zu lassen, setzte ich mich zum Flügel und spielte mit Bravour einen Walzer von Chopin. Heraclius stand neben mir.

»Sie sind eine Künstlerin,« sagte er, nachdem ich geendet.

Jetzt war es Zeit aufzubrechen. Die Gäste der Fürstin hatten für diesen Abend auch eine Loge genommen, und es war verabredet worden, zusammen in die Oper zu gehen.

Ich folgte der Fürstin in das Toilettezimmer, um meine Frisur ein wenig in Ordnung zu bringen. Es hieß die Locken kräuseln und die verwelkten Rosen durch frische ersetzen. Während Mascha, die Kammerjungfer, diese Arbeit verrichtete, betrachtete ich mein eigenes Bild im Silberrahmen des Toilettespiegels. Wie doch dieses dicke, geschliffene Glas vorteilhaft zeigte, oder war es die Wirkung des Champagners, daß meine Wangen gar so lebhaft glühten, wie geschminkt? Ich nahm nun auch den ovalen Handspiegel her; er zeigte die gleiche blendende Färbung; durch die doppelte Spiegelung konnte ich nun auch den Effekt des Rosenzweigs sehen, der zwischen den dunkeln Nackenlocken herabfiel.

Die Fürstin stand neben dem Toilettetisch.

»Nehmen Sie ein wenig Poudre de Riz, Liebe,« sagte sie und hob den Silberdeckel einer runden Glasbüchse. Ich preßte die Quaste in das duftende Pulver und betupfte damit Gesicht und Hals – wie das kühlte und die heißen Wangen erfrischte!

Und jetzt, nachdem mittels des weichen Hasenpfötchens die sichtbaren[79] Reismehlspuren abgewischt worden, hatte sich das zu dunkle Wangenrot in rosige Zartheit verwandelt, die Lippen schienen desto brennender und die Augen funkelten dunkler als zuvor.

Die Fürstin gab mir zur Vervollständigung meiner Toilette noch einen mit Stahlflittern besetzten Sandelholzfächer, und jetzt war man bereit.

Als wir die Loge betraten, war die Vorstellung schon im Gange. Man gab »Rigoletto«. Eben eilte Gilda die Treppe hinab, ihrem Vater entgegen. »Mio padre!« – »Figlia mia!« Wie eine Flut weicher Tonwellen kam es von der Bühne herabgerauscht, und das dichtgefüllte Theater bot ein glänzendes Bild. Die Eindrücke der Pracht und der Freuden des Lebens, welche ich heute empfing, gingen stets crescendo.

Heraclius von Georgien war in der Loge anwesend. Er saß mir gegenüber und ließ unausgesetzt die Augen auf mir ruhen. Mir schien es, als ob die berückend süßen Weisen im Duett des Herzogs und der Gilda dasjenige ausdrückten, was zwischen mir und Heraclius noch unausgesprochen, aber schon beiderseits verstanden, von Herz zu Herzen strömte. Ich horchte den Verdischen Feuerklängen und bewegte langsam meinen Fächer, der mir mit jedem Schlag einen Sandelholzgeruch zuwehte. Einmal wandte ich leicht den Kopf und begegnete den zärtlich und bewundernd auf mich gehefteten Augen meines Gegenübers. Da senkte ich die Lider, dann aber, ich konnte nicht anders, hob ich sie wieder empor und spendete dem Teuren einen vollen, langen Liebesblick.

Jetzt fiel der Vorhang; die Fürstin drehte sich um, und Heraclius stand auf; er machte verschiedenen Besuchern Platz, die sich in die Loge drängten, und ging hinaus. Bald darauf sah ich ihn vis-à-vis, sein Opernglas auf mich gerichtet. Den Rest der Vorstellung blieb Lord Hillsborough in der Loge, und Heraclius kam nicht mehr zurück.

Nach dem Quartett des letzten Aktes stand die Fürstin auf.

»Gehen wir,« sagte sie, »ich mag das kommende Gewitter und die Herbeischleppung des leichengefüllten Sackes nicht mitansehen. Machen wir lieber noch eine Tour in den Sälen.«

Am Ausgang des Theatersaales stand Heraclius. Er begab sich an meine Seite:

»Endlich ist diese Vorstellung vorüber! Hat Sie die Unterhaltung des Engländers sehr gefesselt?«

»Mich fesselte die Musik des Italieners,« gab ich zur Antwort.

Vom Theater bis zu den Spielsälen führt eine lange Galerie.[80] Heraclius ging neben mir einher, und ich erwartete jeden Augenblick, daß er in Worte bringen würde, was vorhin durch die Augen gesprochen worden; da aber begann die Fürstin ihren Vetter in ein Gespräch zu verwickeln, welches bis zum Betreten der Spielsäle dauerte.

Hier stellte man sich an den Roulettetisch, und die Fürstin warf einige Goldstücke auf das Tableau.

»Ich mache einen Vorschlag,« sagte Heraclius zu seiner Cousine, »heute Mittwoch findet hier Ball statt, gehen wir auf die Galerie ein wenig zusehen.«

Die Fürstin war einverstanden, und die kleine Gesellschaft stieg die Treppe hinauf, die zur Ballsaalgalerie führte.

Diese war sehr besetzt. Zwischen den Zuschauern, die an der Brüstung lehnten, war kaum noch ein Plätzchen zu finden. Man mußte sich trennen; die Fürstin stellte sich an ein Ende der Galerie, ich an das andere. Heraclius trat an meine Seite. Es war wie ein Tete-a-tete. Durch die nebenstehenden Leute gedrängt, mußte er so nahe heranrücken, daß sein Arm knapp neben dem meinen an der Brüstung lehnte. Was wir sprachen, konnte niemand anders hören, denn der Lärm der Walzermusik verhinderte das Weiterdringen der in der Nähe gewechselten Worte. Es war ein Straußscher Walzer – die »Morgenblätter« –, nach welchem sich die Paare da unten drehten; aber obwohl ich hinabschaute, sah ich von dem Treiben im Saale nur wenig; mein Ball war da oben. Schwindelnder als vom rasendsten Galoppschritt fühlte ich mich von der Nähe, von den Worten des Prinzen fortgewirbelt. Die Atmosphäre war eine erdrückende, der nahe Kronleuchter strömte ein heißes und blendend helles Licht aus. Ich bewegte unaufhörlich meinen Fächer, der mir mit seinem Sandelholzdufte etwas sagte – denn Düfte sprechen auch –, das mich entzückte.

»Sie sind ein herrliches Mädchen,« flüsterte indessen die Schmeichelstimme Heraclius'. »Sie haben alle Eigenschaften, um die gesetztesten Köpfe zum Drehen zu bringen, die kältesten Herzen schlagen zu machen. Ich wußte gar nicht, daß die Erde ein Wesen enthält, das solchen Zauber üben kann wie Sie –«

»Kinder!« sagte die Fürstin, an uns herantretend, »es ist nicht zum Aushalten hier, diese Hitze ist ja erstickend, das Licht macht Augenweh, die Musik macht taub, und an der Tanzerei dieser vier oder fünf schlecht gekleideten Homburger Bürgerstöchter ist auch nicht viel zu sehen; seid ihr nicht derselben Ansicht? Laßt uns gehen.«[81]

Nun, gegangen mußte werden, denn die Fürstin hatte ja zu entscheiden, aber derselben Ansicht war ich sicher nicht. Der hitzestrahlende Kronleuchter war mir eine Zaubersonne, der Blechinstrumentenlärm eine Sphärenmusik – ein herrlicheres Fest hatte ich noch nie erlebt.

Die Fürstin und ihr Cousin begleiteten mich bis vor mein Haustor. Dieses stand noch offen.

»A demain, chérie!« sagte die Fürstin, mich auf die Stirne küssend. »Aber nicht zum Brunnen,« fügte sie hinzu; »kommen Sie um zwei Uhr.«

Meine Mutter war noch auf.

»Wie spät du kommst! Das Theater ist ja schon längst aus.«

»Wir haben noch dem Ball zugesehen, Mama!«

»Wie hast du dich amüsiert? Erzähle mir.«

»Morgen, liebe Mama!«

Ich küßte meine Mutter und ging zur Ruhe.

Ruhe? »Wer nie die kummervollen Nächte an seinem Bette weinend saß,« heißt es in dem bekannten Gedicht. Aber wer nicht eine lange Nacht hindurch, alle zehn Minuten erwachend, sich von einer Seite des Bettes auf die andere warf, einen geliebten Namen auf den Lippen, eine heiße Seligkeit im Herzen, auch der »kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!«

Hundertmal fuhr ich aus dem Schlummer auf, und wenn ich da nicht gleich wußte, warum ich gar so glücklich war und wen ich gar so lieb hatte, so gab mir der Sandelholzfächer, der neben mir auf dem Nachttisch lag, schnell Bescheid. Sein Duft spielte die »Morgenblätter«, strömte das heiße Licht des Ballüsters aus und drückte sanft und bebend einen schwarzen Tuchärmel an einen weißen Musselinärmel an. Darauf schlief ich wonnig ein, um bald durch einen heftigen Schlag des Herzens wieder zu erwachen. Und das ging so fort bis zum Morgen.

Wieder einmal wie damals, als ich für Friedrich von Hadeln schwärmte, ergriff mich beim Erwachen das Bewußtsein, das beglückende: »Ich liebe« und das noch beglückendere dazu: »Ich werde geliebt.« Warm, greifbar fast quillt es vom Herzen auf, süß, zärtlich, sehnsuchtsvoll und doch besitzesfroh – denn selbst die Sehnsucht ist ein Besitz. Es gibt also etwas auf Erden, das einem gestern noch fremd, noch nicht vorhanden war und das heute sozusagen die Welt ausfüllt, das unsäglich Teuere, das so ganz und gar »das Wichtige« ist.

Drei Tage sollte ich ihn nicht sehen. Er war auf diese Zeit nach Paris gefahren. Ich füllte sie mit Studien über den Kaukasus[82] und seine Geschichte. Sowohl was mir Dedopali erzählen konnte, als was ich im Lexikon und im Dumasschen Buche »Le Caucase« fand, gab mir einen Einblick in das ferne, fabelhafte Königreich, dessen Thron meinem Prinzen Heraclius gebührt hätte.

Am zweiten Tage erhielt ich aus Paris ein Paket und einen Brief. Das Paket enthielt eine gefüllte Bonbonniere von Boissier, der Begleitbrief einige höfliche Zeilen. Es stand nichts Besonderes darin – aber er berauschte mich förmlich, denn er war mit dem Namen Heraclius von Georgien gezeichnet, und seinem dicken, mit einer Fürstenkrone geschmückten Papier entströmte ein leiser, aber ganz eigentümlich süßer Duft. Dieses Briefblatt und der Sandelholzfächer – beide erzählten mir unübersetzbare Dinge.

Am dritten Tage ging ich hochklopfenden Herzens zu Dedopali hinüber. Ich fand sie auf ihrem gewöhnlichen Plätzchen im kleinen Salon.

»Ah, bon jour, Contessina – ich habe Ihnen einen Gruß zu entrichten. Mein Cousin schreibt mir aus Paris ... er sollte heute selber hier sein – aber, das überrascht mich übrigens nicht von ihm, er ist ein launenhafter Mensch – – statt zu kommen, schreibt er, um sich für dieses Jahr zu verabschieden. Er ist gestern direkt von Paris nach Tiflis abgereist.«

Und ich – dummes Ding – ich brach in Tränen aus.

»Um Gottes willen, was ist Ihnen, Contessina?«

»Ach, Dedopali – es ist zu grausam!«

»Was? ... Daß mein Cousin heimgekehrt ist? Sie lieben ihn also? ... Vielleicht ist es doch Ihr Schicksal – er kann ja wiederkommen; weinen Sie nicht. Daß ein Mädchen um ihn weint, verdient überhaupt kein Mann, der imstande ist, so an seinem eigenen Glück vorbeizugehen. Uebrigens es kann sich noch alles so wenden, wie Ihr Herz es wünscht.«

Diese Worte waren mir Balsam. Nur hoffen dürfen – mehr verlangt die Jugend nicht. Und so hoffte ich, daß Heraclius mir aus Georgien schreiben würde. Aber es geschah nicht. –

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 78-83.
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