Neuntes Kapitel.

[296] Eine große Debatte in der allgemeinen Versammlung der Hauyhnhnms und was darin beschlossen wird. Die Gelehrsamkeit der Hauyhnhnms. Ihre Gebäude. Ihre Begräbnisart. Die Mangelhaftigkeit ihrer Sprache.


Einmütigkeit herrscht allgemein in den Entscheidungen der Versammlungen der Hauyhnhnms, sogar dann, wenn die Mitglieder mit verschiedenen Ansichten zusammenkommen, denn kein Hauyhnhnm schämt sich, zur besseren Einsicht und Vernunft bekehrt zu werden.

Eine dieser großen Versammlungen wurde zu meiner Zeit, ungefähr drei Monate vor meiner Abreise, gehalten; mein Herr, als Repräsentant seines Distrikts, nahm daran teil. In dieser Versammlung wurde die alte Debatte wieder aufgenommen, die beinahe die einzige in dem Lande ist. Mein Herr gab mir darüber nach seiner Rückkehr einen sehr ausführlichen Bericht.

Die Frage betraf die Vertilgung der Yähus von der Erde. Ein Parlamentsmitglied sprach dafür und führte mehrere gewichtige Gründe für seine Meinung an. Es behauptete: So wie die Yähus die schmutzigsten, unruhigsten und häßlichsten Tiere seien, welche die Natur jemals hervorgebracht habe, so zeigten sie sich auch störrisch, ungelehrig und boshaft. Heimlich sögen sie Milch aus den Eutern der Kühe, die den Hauyhnhnms gehörten, töteten und fräßen ihre Katzen, zerträten Hafer und Gras, wenn man nicht ein genaues Auge auf sie habe, und begingen tausend andere Ungehörigkeiten. Der Redner führte dann die allgemeine Tradition an.

Yähus habe es nicht von jeher in seinem Vaterlande gegeben. Vor längerer Zeit seien zwei dieser Tiere auf einem Berge erschienen. Ob sie von der Hitze der Sonne aus verfaultem Morast und Schlamm oder aus dem Schlick und dem Schaum der See entstanden seien, bleibe ungewiß; die Yähus hätten eine Nachkommenschaft gezeugt, die bald so zahlreich geworden sei, daß sie die ganze Nation angreifen konnte; die Hauyhnhnms, um das Übel loszuwerden,[297] hätten eine allgemeine Jagd angestellt und zuletzt die ganze Herde eingeschlossen; die älteren seien getötet worden; jeder Hauyhnhnm habe zwei Junge in seinem Stall gehalten und sie zu einem solchen Grade von Zahmheit, wie sie ein von Natur so wildes Tier nur erlangen könne, dadurch gebracht, daß er sie zum Ziehen und Lasttragen verwandt habe.

Diese Tradition scheine wahr zu sein, denn jene Geschöpfe konnten nicht Ylnhiamshy (Ureinwohner) des Landes sein, weil die Hauyhnhnms wegen des heftigen Hasses, den sie wie andere Tiere mit vollem Rechte gegen die Yähus hegten, unmöglich zu der von ihnen tatsächlich erreichten Höhe hätten gelangen können; wären Yähus die Ureinwohner, so wären die Hauyhnhnms wahrscheinlich ausgerottet worden. Die Einwohner hätten hierauf eine besondere Vorliebe für den Dienst der Yähus gefaßt und dadurch unvorsichtigerweise die Fortpflanzung der Esel vernachlässigt, die artige, weit ordentlichere und zahme, leicht zu bewachende Tiere seien, die auch keinen unangenehmen Geruch besäßen. Sie seien ferner auch stark genug zur Arbeit, obgleich sie den Yähus an Behendigkeit nachstünden; sei auch ihr Geschrei kein angenehmer Schall, so müsse man es doch dem furchtbaren Geheul der Yähus vorziehen.

Mehrere andere sprachen ihre Ansicht in derselben Weise aus, worauf mein Herr der Versammlung einen Vorschlag machte, wofür ich ihm in der Tat einen Wink gegeben hatte. Er gestand die Wahrheit der Tradition zu, die das ehrenwerte Parlamentsmitglied, das soeben gesprochen, angeführt habe. Jedoch die beiden Yähus, die man zuerst im Lande erblickte, müßten auf dem Meere hierher verschlagen und von ihren Gefährten verlassen worden sein. Sie hätten sich auf die Gebirge zurückgezogen, seien dort allmählich entartet und wilder als die Menschen geworden, von wo sie herkamen. »Den Grund zu dieser Behauptung«, fuhr der andere fort, »sehe ich in dem Umstande, daß ich jetzt einen wunderbaren Yähu besitze« – damit war ich gemeint –; »die meisten von[298] euch haben wohl schon davon gehört und viele ihn auch gesehen« – der Redner erzählte dann die Art, wie er mich gefunden habe. »Sein Körper ist mit einer künstlichen Zusammensetzung von Häuten und Haaren anderer Tiere bedeckt; er hat seine eigene Sprache, versteht jedoch auch die unsere. Er hat mir die Begebenheiten erzählt, die ihn hierherbrachten. Ich habe ihn auch ohne Bedeckung gesehen. Er ist ein vollkommener Yähu in jedem Körperteile, jedoch von weißer Farbe, weniger haarig und besitzt keine Klauen. Er hat sich bemüht, mich zu überreden, daß die Yähus in seinem Vaterlande die regierenden und vernünftigen Tiere sind und die Hauyhnhnms zu ihrem Dienste gebrauchen. Er hat alle Eigenschaften eines Yähu, ist aber durch einen Anflug von Vernunft ein wenig verfeinert; dieser ist jedoch in demselben Grade geringer als unsere Vernunft wie die der Yähus seines Vaterlandes im Vergleich mit der unsrigen. Er hat mir auch unter anderem einen Gebrauch davon erzählt, wonach die Hauyhnhnms in ihrer Jugend verschnitten werden, um sie zahmer zu machen, und diese Operation ist leicht und sicher. Auch ist es ja keine Schande, von Tieren zu lernen; Fleiß lernt man von der Ameise, das Bauen von der Schwalbe« – so übersetze ich das Wort Leihanhh, obgleich dieser Vogel etwas größer ist als der erwähnte. »So läßt sich diese Erfindung bei den jüngeren Yähus anwenden, die ohnedies leichter zu behandeln und zu gebrauchen sind. Dadurch wird das ganze Geschlecht ohne Tötung aufhören. Zugleich müssen aber die Hauyhnhnms die Zucht der Esel befördern, die in jeder Hinsicht wertvollere Tiere sind und zugleich den Vorteil gewähren, daß man sie schon im fünften Jahre gebrauchen kann, während dies bei den Yähus erst im zwölften möglich ist.«

Dies war alles, was mir mein Herr über den Vorgang in der Ratsversammlung damals sagen wollte. Er hatte die Güte, einen Umstand zu verhehlen, der sich auf mich bezog und dessen unheilvolle Wirkung ich bald empfand, wie der Leser am gehörigen Orte erfahren wird und wovon ich alle meine späteren Unglücksfälle herleite.[299]

Die Hauyhnhnms kennen keine Schrift, und deshalb beruht ihr ganzes Wissen auf Tradition. Da jedoch bei einem Volke, wo alle befreundet und von Natur aus zu jeder Tugend geneigt sind, das ferner ausschließlich durch Vernunft regiert wird und keinen Verkehr mit anderen Völkern hat; da sich bei einem solchen Volke nur wenige Ereignisse zutragen können, so wird der historische Teil des Wissens durch das Gedächtnis sehr leicht bewahrt. Ich bemerkte schon, daß die Hauyhnhnms keinen Krankheiten ausgesetzt sind und deshalb keine Ärzte brauchen. Sie haben jedoch ausgezeichnete Arzneimittel, die aus Kräutern bestehen, um zufällige Beulen und Risse im Fußgelenk oder in der Hufgabel, die durch scharfe Steine verursacht werden, sowie auch andere Verletzungen und Lähmungen an den verschiedenen Körperteilen zu heilen.

Das Jahr berechnen sie nach den Umlaufzeiten des Mondes und der Sonne, gebrauchen jedoch keine Unterabteilungen in Wochen. Sie sind mit den Bewegungen dieser beiden lichtgebenden Körper genau bekannt sowie auch mit den Ursachen ihrer Verfinsterungen. Hierauf aber beschränken sich alle ihre Erkenntnisse in der Astronomie.

Man muß zugestehen, daß sie in der Poesie alle übrigen Sterblichen übertreffen; die Richtigkeit ihrer Gleichnisse sowie die Genauigkeit ihrer Beschreibungen sind wirklich unübertrefflich. Ihre Verse haben an diesen beiden Eigenschaften Überfluß und behandeln gewöhnlich erhabene Begriffe von Freundschaft und Wohlwollen oder den Ruhm der Sieger beim Wettrennen oder bei anderen körperlichen Übungen. Ihre Gebäude sind, obgleich roh und einfach und nicht sehr zierlich, doch sehr gut eingerichtet, um vor jeder schädlichen Einwirkung von Kälte und Hitze zu schützen. Sie besitzen einen Baum, der, sobald er vierzig Jahre alt ist, an der Wurzel lose wird und beim ersten Sturme umstürzt. Er wächst ganz gerade in die Höhe und wird mit scharfen Steinen (der Gebrauch des Eisens ist den Hauyhnhnms; unbekannt) wie ein Pfahl zugespitzt; die so vorgerichteten Stämme werden in der Entfernung von zehn Fuß nebeneinander aufgestellt, mit[300] Haferstroh und bisweilen mit Zweigen verflochten. Dach und Tür werden in derselben Art verfertigt.

Die Hauyhnhnms gebrauchen den hohlen Teil ihres Vorderfußes, zwischen dem Hufe und dem Fußgelenk, in derselben Weise wie wir unsere Hände, und zwar mit größerer Geschicklichkeit, als ich zuerst glauben konnte. Ich habe gesehen, wie eine weiße Stute aus unserer Familie mit diesem Gelenke eine Nadel einfädelte, die ich ihr zu dem Zwecke geliehen hatte. Auf dieselbe Weise melken sie ihre Kühe, ernten sie ihren Hafer und verrichten jede Arbeit, die eine Hand erfordert. Sie haben ferner eine Art Feuerstein, den sie durch Schleifen an anderen Steinen zu Instrumenten herrichten, deren sie sich als Keile, Äxte und Hämmer bedienen. Mit Werkzeugen aus diesen Feuersteinen schneiden sie auch das Heu und den Hafer ab, der auf ihren Feldern wächst; dann ziehen Yähus die Garben auf Wagen nach Hause, und die Diener treten in geeigneten Hütten so lange darauf, bis das Korn herausgedroschen ist, das dann aufbewahrt wird. Sie verfertigen ferner eine rohe Art hölzerner und irdener Gefäße und trocknen letztere an der Sonne.

Wenn die Hauyhnhnms zufällige Unglücksfälle vermeiden können, so sterben sie nur im höchsten Alter und werden dann an den dunkelsten Orten, die man finden kann, begraben, wobei Freunde und Verwandte weder Kummer noch Freude zeigen. Auch äußert die sterbende Person nicht den geringsten Schmerz, daß sie die Welt verlassen muß, sondern zeigt eine Stimmung, als kehre sie von einem Besuche bei Nachbarn nach Hause zurück. Ich erinnere mich, daß mein Herr mit einem Freunde und dessen Familie einst die Verabredung getroffen hatte, in seinem Hause eine wichtige Angelegenheit zu besprechen. An dem festgesetzten Tage kam die Gemahlin des Freundes mit ihren zwei Kindern, jedoch sehr spät. Sie brachte zwei Entschuldigungen vor. Die erste betraf ihren Mann, der, wie sie sagte, den Morgen gerade Shnuwnh wäre; dieses Wort ist sehr ausdrucksvoll in der Sprache und läßt sich nicht leicht ins Englische übersetzen. Es bedeutet: sich[301] zu seiner ersten Mutter zurückzuziehen. Die zweite Entschuldigung, weil sie nicht früher kam, betraf sie selbst. Als ihr Mann spät am Morgen gestorben sei, habe sie sich mit ihren Bedienten beraten, an welchem passenden Platz der Leichnam wohl beerdigt werden könne. Ich bemerkte, daß sie sich in unserem Hause so heiter benahm wie die übrigen, sie starb ungefähr drei Monate nachher.

Die Hauyhnhnms leben gewöhnlich bis zum siebzigsten oder fünfundsiebzigsten, selten bis zum achtzigsten Lebensjahre. Einige Wochen vor ihrem Tode fühlen sie eine allmähliche Abnahme ihrer Kräfte, jedoch ohne Schmerz zu empfinden. Während dieser Zeit werden sie häufig von ihren Freunden besucht, weil sie nicht mehr mit der gewöhnlichen Bequemlichkeit und Heiterkeit ausgehen können. Zehn Tage vor ihrem Tode, dessen Augenblick sie mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen können, erwidern sie die Besuche den nächsten Nachbarn, indem sie von Yähus in einem bequemen Sessel getragen werden. Diese Sessel gebrauchen sie nicht allein bei dieser Gelegenheit, sondern überhaupt, wenn sie alt werden oder auf großen Reisen oder wenn sie durch Zufall gelähmt sind. Die sterbenden Hauyhnhnms, die diesen Besuch abstatten, nehmen feierlichen Abschied von ihren Freunden, als ob sie sich in einen entfernten Teil des Landes begäben, wo sie die letzte Zeit ihres Lebens zubringen wollten.

Ich weiß nicht, ob es der Mühe wert ist, hier noch zu bemerken, daß es kein Wort in ihrer Sprache für den Begriff »böse« gibt, mit Ausnahme einiger Ausdrücke, die von der Häßlichkeit oder den schlechten Eigenschaften der Yähus hergenommen sind. So bezeichnen sie die Dummheit eines Bedienten, die Unart eines Kindes, einen Stein, der ihren Fuß ritzt, lange Dauer des schlechten Wetters und ähnliche Dinge durch die Hinzufügung des Beiwortes Yähu. Zum Beispiel hhnm Yähu, whnaholm Yähu, ylnhmndwihlma Yähu; ein schlechtgebautes Haus heißt ynholmhnmrohlnw Yähu.

Ich würde mit großem Vergnügen die Sitten und Tugenden dieses ausgezeichneten Volkes noch ausführlicher beschreiben,[302] habe jedoch die Absicht, in kurzer Zeit ein besonderes Buch über diesen Gegenstand herauszugeben, und muß den Leser deshalb hierauf verweisen. Mittlerweile will ich hier meine traurige Katastrophe erzählen.

Quelle:
Swift, Jonathan: Gullivers Reisen zu mehreren Völkern der Welt. Leipzig [o. J.], S. 296-303.
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