118. Der Wettlauf um das Opfergeld.

[158] Vor der Stadt Greifswald stand ehedem eine Capelle, so der heiligen Gertrud geweihet war. Einstmals war das Fest der Heiligen gefeiert, und es waren von den Gläubigen viele und reiche Gaben eingekommen. Diese lagen noch auf dem Hochaltar ausgebreitet, wo sie der Priester, welcher bei der Kapelle angestellt war, einsammeln sollte, um sie zu dem Gotteskasten abzuliefern. Wie dieser Priester nun aber nach beendigtem Feste ganz allein in der Kirche war, da faßte ihn der schnöde Geiz, und er trachtete, die frommen Gaben sich anzueignen. Er nahm deshalb, weil er zugleich ein frecher, übermüthiger Gesell war, das Bild der Heiligen von dem Altare, auf welchem es hing, und stellte es an den Eingang der Capelle, dem Hochaltare gegenüber. Dann sprach er zu dem Bilde: Nun wollen wir in die Wette laufen, und wer von uns Beiden der Erste bei dem Altare ist, dem sollen alle die Gaben zu eigen seyn. Nachdem er die Worte gesprochen, fing er an zu laufen; aber auf einmal erhob sich auch das Bild und lief neben ihm vorbei, und war früher wieder an seinem Platze auf dem Altare, als der Priester nur bis mitten in die Capelle gekommen war. Den geizigen Menschen erschreckte dies Wunder aber nicht; er wurde vielmehr zornig, und nahm das Bild wieder von seinem Platze, und stellte es wieder an den Eingang der Capelle und lief abermals mit ihm zur Wette nach den Gaben. Doch das Bild war noch geschwinder auf seiner alten Stelle, denn das erste Mal. Auch das konnte den schlechten Gesellen nicht bessern. Er nahm das Bild zum dritten Male vom Altar, stellte es an die Thür und forderte es mit höhnischen Worten auf, noch einmal mit ihm den Wettlauf zu machen. Darauf lief er wieder, und diesmal blieb er der[159] Sieger. Denn das Bild der Heiligen erhob sich nicht von seiner Stelle, und in seinen Augen sah man helle Thränen über die Bosheit der Menschen. Der Priester nahm nun alle Opfer, die da lagen, und trug sie nach seinem Hause.

Aber schon in der nächsten Nacht wurde er plötzlich krank, und legte sich hin, und war in drei Tagen todt. Er wurde begraben draußen auf dem Gertruden-Kirchhof, dicht bei der Capelle.

Wie nun die nächste Mitternacht gekommen war, da erschien auf einmal der Teufel auf dem Kirchhofe. Der klopfte an das Grab des Priesters, und rief ihm zu: Stehe auf, du Pfaff, und mache doch mit mir den Wettlauf! Da hatte der Todte keine Ruhe mehr im Sarge, und er mußte aufstehen. Und als er aus dem Grabe hervorstieg, da packte ihn der böse Feind mit glühenden Krallen an, um ihn fortzuziehen in sein höllisches Reich. In seiner großen Herzensangst versuchte der Geistliche zwar, die Thür der Capelle zu erfassen, vermeinend, daß die Heilige ihn schützen solle. Aber es half ihm nichts, der Teufel zerrte ihn fort, an der Capelle vorbei, über die Kirchhofsmauer hinweg, und entführte ihn unter schrecklichem Sturm und Unwetter.

Der Müller auf der benachbarten Windmühle hatte das angesehen. Er machte am anderen Tage dem Rath die Anzeige, und wie man nun hinging, so fand man die Spuren, wie der Unglückliche in die Thür der Capelle und in die Mauer des Kirchhofs hineingegriffen hatte; die Finger waren in dem harten Gestein und Holze deutlich abgedrückt. Auch die Fußstapfen des Teufels sah man tief in die Erde getreten, und wie das Gras ringsumher versengt war. Alle diese Spuren sind geblieben, und die Stellen, wohin der Teufel getreten, sind niemals wieder[160] mit Gras bewachsen, bis nachher die ganze Kapelle mit dem Kirchhofe verschüttet ist.


Micrälius, Altes Pommerland, II. S. 407.

Freyberg, Pommersche Sagen, S. 32-35.

Quelle:
Jodocus Deodatus Hubertus Temme: Die Volkssagen von Pommern und Rügen. Berlin 1840, S. 158-161.
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