599. Von inwendiger Bloßheit und Gelassenheit unsrer selbst und aller Dinge

[181] Ein neues Lied ich von der Bloßheit dicht',

Denn rechte Lauterkeit, die denket nicht,

Wie mögen da Gedanken sein,

Da ich verloren hab' das Mein'?

Ich bin entworden.
[181]

Wer wahrlich steht im Geist entblößt,

Von allen Sorgen ist erlöst.

Wohl oder übel gilt mir gleich,

Ich will so gern arm sein als reich;

Mit Bildern mag ich nicht umgehn,

Muß meiner selbst gar ledig stehn:

Ich bin entworden.


Fragt ihr, wie ich zur Bilderfreiheit kam:

Wie ich die Einheit recht in mir vernahm

Und rechte Einheit dies einprägt',

Daß mich nicht Lieb' noch Leid bewegt'.

Ich bin entworden.


Wer wahrlich steht im Geist entblößt,

Von allen Sorgen ist erlöst;

Fragt ihr, wie ich dem Geiste so entkam:

Wie ich nicht dies noch das in mir vernahm

Als bloße Gottheit ohne Grund,

Da konnt' ich länger schweigen nicht,

Ich mußt' es machen kund:

Ich bin entworden.


Wer wahrlich steht im Geist entblößt,

Von allen Sorgen ist erlöst;

Seitdem ich so verlor'n in 'n Abgrund kommen,

Kann ich auch reden nicht, ich muß verstummen,

Die klare Gottheit mich

Verschlinget so in sich:

Ich bin entworden.
[182]

Doch diese Finsternis macht tief erquickt und froh,

Nachdem ich dring' durch alles so.

Bei meinem Ursprung werd' ich nimmer alt,

Nein, wie der Adler ich verjünge bald,

So sind all meine Kräft' fürwahr

Verschlungen und erstorben gar.


Wer wahrlich steht im Geist entblößt,

Von allen Sorgen ist erlöst;

Wer dergestalt nur ist verschwunden

Und innig hat die Finsternis befunden,

Der ist ohn' allen Kummer reich fürwahr,

Das Liebefeu'r mich so entzünd't hat gar,

Daß ich erstorben.


Wer wahrlich steht im Geist entblößt,

Von allen Sorgen ist erlöst;

Auf dieses Sterben und Entwerden

Wird uns nun offenbart auf Erden

Der Vater, Sohn und beider Geist;

Ich Christus Jesus ist und heißt,

(Gal. 2, 20)

Alles Guten Wonn' und Weide

Weit, weit über alle Maßen:

Doch der, welcher ungelassen,

Bleibt zur Straf' im Leide.


Nach Tauler[183]

Quelle:
Gerhard Tersteegen: Geistliches Blumengärtlein. Stuttgart 1956, S. 181-184.
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