Eilftes Bild

Malegys errettet die Brüder aus dem Gefängnisse

[216] König Karl ließ nunmehr seinen Rat versammeln, um über die drei gefangenen Brüder ein Urteil zu sprechen. Er ließ sie in den Saal bringen und ihnen wie Missetätern die Hände auf den Rücken binden. Darwider setzte sich Bischof Turpin und behauptete, daß sich das nicht gezieme, weil diese Herren von fürstlichem Geblüte seien. Karl aber tat einen Schwur, daß er sie wollte henken lassen, weil sie seinen Sohn Karlmann umgebracht hätten. Turpin versetzte dagegen, daß er es nimmermehr zugeben würde, und daß gewiß der größte Teil der Ritterschaft seiner Meinung wäre, weil die meisten mit den Gefangenen verwandt wären. Darüber wurde König Karl zornig und schlug nach Bischof Turpin, der Bischof aber ergriff den König beim Halse und hätte ihn beinahe erwürgt, wenn nicht Roland und andre Genossen hinzugesprungen wären und die Einigkeit wieder hergestellt hätten. Es wurde endlich beschlossen, daß die Gefangenen noch auf einige Zeit verwahrt gehalten werden sollten, worauf man sich denn nachher noch einmal bedenken wollte.

So entgingen die Brüder noch dem Tode, denn die ser Tag war für sie ein gefährlicher Tag gewesen, und sie hatten ihr Leben schon für verloren geachtet.

In der Nacht machte sich Malegys auf und ging nach dem Gefängnisse. Vor seiner Kunst sprangen sogleich alle Türen auf, auch fielen den Gefangenen die Ketten von den Händen. Er gab sich ihnen zu erkennen und führte sie bis an die Brücke vor Paris, dann sagte er: »Ich muß nun noch zum König Karl gehn, denn ich habe vergessen ihn um Erlaubnis zu fragen.« Ritsart antwortete: »Ach, Vetter, diese Erlaubnis wird er Euch nimmermehr geben, denn er hat seine Freude daran, daß er uns will henken lassen.«

Aber Malegys ging vor das Bett des Königs Karl, der noch im tiefsten Schlafe lag, und fragte ihn, ob er ihm erlauben wolle die Brüder aus dem Gefängnisse zu führen. Karl antwortete: »Führe sie, wohin du Lust hast, denn mich kümmert es nicht«; es wußte nämlich der König nicht, was er redete oder sagte. Somit nahm Malegys zugleich auch das Schwert und die Krone Karls, so daß dieser es sah, dann verließ er ihn und eilte mit den erretteten Brüdern nach Montalban.

König Karl war sehr ergrimmt, als er am Morgen seine Krone, sein Schwert und seine Gefangenen vermißte.[216]

Quelle:
Ludwig Tieck: Werke in vier Bänden, Band 1, München 1963, S. 216-217.
Lizenz:
Kategorien: