Abreise

[98] Endlich ist der Tag gekommen,

Endlich ist die Stunde da,

Die ich stets unmöglich glaubte,

Weil der Schmerz die Kraft genommen,

Weil der Wahn den Entschluß raubte,

Da ich nur mein Leiden sah.


Welcher heitre Sommertag!

Diese Häuser, diese Gassen,

Die ich nun seit vielen Wochen

Täglich sah mit Zorn und Hassen,

Sollen mir entschwinden,

Und mein Blick die sonnbeglänzten Fluren finden.[98]

Einmal noch betracht' ich mir die alten

Häuser dort, bemerke die Gestalten

An den Fenstern drüben; wie ein Vorhang

Fällt es zu, der liebste Freund

Sitzt schon neben mir im Wagen,

Abschiedsworte, – und es jagen

Häuser, Gassen, Thore, schwindelnd mir vorüber.

Welch Entzücken! welche Wehmuth!

Bin ich's noch, der wie an Ketten

Dort in trüben Mauern saß?

Ja, der Schmerz ist mir gefolgt

Und spannt über Feld und Wald

Einen schwarzen Schleyer aus.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 3, Heidelberg 1967, S. 98-99.
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