Bei der Abreise einer Freundin

[104] Vergänglichkeit! muß denn in allem Schönen,

Das uns erfreut, dein Spott uns auch begrüßen?

Kaum hören wir der Nachtgall Lied ertönen,

Kaum sehen wir die Frühlingsblumen sprießen,

So müssen wir uns schon der Lust entwöhnen,

Ja diese kurze Lust mit Trauer büßen,

Ein Liebesgeist reicht kosend uns die Hand,

Wir schaun ihn an, indem er schon entschwand.
[105]

Es tritt ein lieber Mensch in unsre Kreise,

Und nah und näher fühlt man sich verbunden,

Die holde Freundschaft wirkt nach alter Weise,

Es spricht das Herz, Vertraun hat sich gefunden,

Und wie man scherzt und lacht ist lieblich leise

Ein zartes Band und Geist und Herz gewunden,

Schon unentbehrlich ist, eh' wir es wissen,

Der Freund, und sieh! da wird er uns entrissen.


Nun wirkt Erinnerung, Schmerz und will uns sagen,

Daß wir wie Kinder nur die Zeit verspielt,

Wir sehn zurück nach den verlohrnen Tagen,

Wo Frohsinn uns und Ernst zusammenhielt;

Dir Trennung, dünkt uns, sey nicht zu ertragen,

Die Stunde, die sich nah und näher stiehlt,

Man fragt sich: kannten wir uns schon seit Jahren?

Jetzt möchten wir mit Wochen, Tagen sparen.
[106]

Dann fällt die Angst auf alle unsre Sinne,

Wie wir so leicht das Theuerste verschwenden,

Wir sammeln nur die kleinlichen Gewinne,

Und streuen Schätze aus mit vollen Händen;

Daß nicht ein kleiner Augenblick zerrinne,

Daß uns Minuten Scherz, Zerstreuung senden,

Wird gern der höchste Schatz, das ganze Leben

So unbedacht und schnell dahin gegeben.


Doch nichts verschwindet ganz, was einst gewesen,

Erinnerung hält in Armen und bewahrt

Die Kleinod' unsrer Seele, läßt uns lesen

Mit süßem Schmerz, was sie uns aufgespart,

Oft dünkt uns dann, als seyen wir genesen,

Vergangenheit wird liebe Gegenwart,

Und zärtlich mischt sich mit sehnsücht'gem Leide

Im rührenden Erinnern heitre Freude.
[107]

So lebt mit uns durch Denkmal, Schrift und Zeichen

Die alte längst entschwundne Herrlichkeit,

Wir sehn in Bildern, welche nie erbleichen,

In Poesie die alte schöne Zeit,

Den breiten Strom zu uns herüber reichen,

Ton, Blume, Glanz, und trotz des Todes Neid

Lebt alles Große in der Welt Geschichten,

Schmilzt jedes Herz den ewigen Gedichten.


So schenkt der Freund dem Freunde, wenn er scheidet,

Des Haupthaars Locke oder Blumensterne,

Die Rose lächelt welk noch, wie er leidet

Kann sie ihn trösten in der weiten Ferne,

Und wie er sich am Angedenken weidet

Verliert er auch das kleinste Blatt nicht gerne,

Nennt es die Vorzeit doch mit stillem Schimmer:

Was wir im Herzen halten welkt uns nimmer.
[108]

Dein Angedenken wird uns nie verschwinden,

Vergönne diesem Blatt, am fernen Ort,

Durch seinen Laut dich uns noch zu verbinden,

Willst du uns einst vergessen, mag dies Wort

Dein sinnend Aug' nicht ungern wieder finden,

Doch lieber führe dich recht bald von dort

Ein freundlich Schicksal unserm Wunsch zurücke:

Beglückt sei stets, und unser denk' im Glücke.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 2, Heidelberg 1967, S. 104-109.
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