Fünfzehenter Brief.

Fiekchen an Ernestinchen.

[114] Liebes Ernestinchen!


Seit wir in L** sind, ist es mir ziemlich knapp gegangen; aber nun geht es wieder besser. Ich möchte dir nicht gerne alle unsere Fatalitäten beschreiben. Aus Noth habe ich auf einem elenden Sechsdreiertanzboden als Vortänzerin müssen Dienste nehmen, und der war gleichwohl noch mein Glücke.

Es kam vor einiger Zeit ein alter Herr darauf, zuzusehen. Er faßte mich ins Auge, und ich gefiel ihm. Um ein Achtgroschenstücke gab ihm der Tanzmeister von meinen Umständen Nachricht, und er sprach mich selbst, und verhieß mir seine Unterstützung; wobei er mich auf den andern Tag zu sich[115] bestellte. Da ich hin kam, trug er mir für seine Kurzweile einen Kouvenzionsthaler an; das war für mich Marzepan. Allein seine Manipulirung war ganz besonders. Er legte mich über einen Sessel, und klitschte mir den nackichten Hintern mit der Hand ab, daß er braun und blau wurde. Hierauf gab er mir den Thaler, und bestellte mich auf den andern Tag wieder. Er hatte eine schöne goldene Perlocke an seinem Uhrbande hängen. Diese biß ich ihm währender Klitscherei ab, und behielt sie im Munde, bis ich nach Hause kam, und verkaufte sie für eine Dückedonne; hütete mich aber gar sehr, wieder hinzugehen.

An eben dem Tage führte man einen armen Sünder zum Galgen; da ich noch sehr wenige Exekuzionen gesehen, gieng ich mit hinaus. Ich mengte mich unter die Leute, die um den Galgen standen, und hatte einen Herrn von mittelmäßigen Jahren neben mir. Der[116] Delinquent war noch zurück: und da noch nichts zu sehen war, redete er mich an, und frug, wo ich wohnte; ich gab ihm auch gleich richtige Addresse. Das Gedränge wurde immer stärker. Der Haufe bog sich hin und her, wie ein reifes Kornfeld; und da Jeder seinen Platz zu behaupten suchte, gab es ziemliche Fußtritte. Unter dem Vorwande, mich vest zu halten, schlang er seine Arme um mich; erkühnte sich aber unbekannter weise unter meine Schürze zu schlüpfen, und den Schlitz zu suchen.

Ich wollte keinen Lärm machen, und ließ es willig geschehen. Er bohrte mit den Fingern zwischen meinen Beinen hinein, und wollte mir gerne auf's Punktum kommen. Du weißt, ich bin eine gute Seele. Ich vergönnt' ihm diesen Spaß nicht nur herzlich gern, sondern bedauerte ihn sogar, daß er mich nicht auf der Stelle buchstabiren konnte.[117]

Während deme war der arme Sünder schon auf den Galgen gestiegen; aber stelle dir mein Entsetzen vor, als ich den Henker für den nemlichen Passagier erkannte, der auf der Poststazion vom Ziegenbock in die Mistpfütze geworfen worden war. Ich that für Schrecken einen lauten Schrei, und die Menschen um mich herum öffneten sich, um zu sehen, was mir wäre. Mein Nachbar wollte geschwind die Hand aus dem Schlitze ziehen: weil er aber mit dem halben Ärmel darinnen stak; so blieb er mit dem Aufschlagknopf am Hemde hängen, und riß es mit heraus. Das war denn ein gräuliches Spektackel. Alles hub laut zu lachen an, und ich wußte in der Angst nicht, was ich thun sollte.

Endlich begab ich mich auf's Laufen, machte es aber dadurch nur noch schlimmer. »Eine Hure! eine Gassenhure!« schrien sie: und die Buben liefen hinter mir her, und warfen mir mit[118] Koth und Steinen nach. Ein Stein traf mich auf den linken Hinterbacken, und eine Hand voll Koth patschte mir so derb ins Genick, daß mir Hören und Sehen vergieng, und ich beinahe niedergestürzet wäre. Ich nahm alle meine Kräfte zusammen, verlor aber bei der Gelegenheit einen Schuh, der jedoch ohnedem keinen Absatz mehr hatte. Da nun die Buben sahen, daß ich gute Füße in Kompagnie führte, und sie vermuthlich meinetwegen nicht gerne das Hängen versäumen wollten; ließen sie von mir ab, und kehrten wieder um. Das war auch mein Glück: denn wäre es schon vorbei gewesen, so würde ich schwerlich ganzbeinicht davon gekommen seyn.

Als ich zu Hause ankam, gieng ich gleich in meine Kammer, und dachte so meinem Schicksale nach. – »Daß Gott tausendmal erbarme! – sagt' ich zu mir selbst: so bist du schon unter Schinders Händen gewesen, und ein[119] Spott der Buben geworden? – Weit, weit, armes Fiekchen, ist es mit dir gekommen.« ... Bei diesen Worten fieng ich bitterlich an zu weinen, und konnte mich gar nicht zufrieden geben.

Indem kam Wilhelm, und befrug mich um die Ursache meiner Traurigkeit. »Soll ich nicht traurig seyn, erwiedert ich: da ich mich hier in einer fremden Stadt sehe, und kaum des Hungers erwehren kann?« Er tröstete mich, und zog ein Stücke Brod aus der Tasche, das ihm der Hausknecht verehret hatte. Mein Appetit war itzt zu schlecht, als daß ich darein gebissen hätte. Ich hieß' es ihn auf den Tisch legen, und blieb mit unterstütztem Haupte sitzen, ohne ein Wort zu reden. Endlich ersucht ich ihn, mir einen Trunk Wasser zu holen, und er gieng.

Kaum mochte er den Hof erreicht haben, so pochte man an meine Thüre, und es trat ein junger Herr herein, der,[120] wie ich nachher erfuhr, Magister war. Er grüßte mich sehr höflich, und entschuldigte sich wegen seiner Freiheit. Er sagte, er hätte mir so übel mitspielen gesehen, und mich bedauert; und da ihm mein Gesicht gefallen hätte, wäre er mir nachgegangen, mich mit seinem Tröste aufzurichten.

Ich bat ihn um alles in der Welt, wenn Wilhelm käme, ja nichts von dem Vorgange zu erwähnen, und wir verglichen uns kürzlich dahin, daß ich ihn für einen Herrn Vetter, der einige Stunden von meinem Vaterorte her wäre, ausgeben durfte.

Wilhelm machte bei seinem Eintrite große Augen, als er einen fremden Herrn bei mir sah, erheiterte sich aber gleich, als ich ihn Herr Vetter nannte, und von der Frau Muhme Stipenius an zu reden fieng; noch mehr aber, als der schlaue Herr Vetter ihm einen halben Gulden gab, für welchen er ihn[121] eine Bouteille Pontack, Semmeln, und etwas holländischen Käse zu bringen ersuchte.

Gleich nahm er seinen Huth, und ließ uns allein. Der Herr Magister machte sich die Zeit zu nutze, und stellte mich vor sich, wo er saß. Ohne um Erlaubnis zu fragen, hob er mir den Rock auf; drehte mich über den Strohsack, und geigte mich recht dogmatisch und ehrbar. Wie er fertig war, stieg er herunter, packte zusammen, und gab mir (kannst du wohl glauben?) einen halben Louisd'or in Golde, mit der Versicherung, mich recht oft zu besuchen. Er sagte, er stikte mich gerne noch einmal; weil er aber heute bei einem Kaufmanne speisete, möchte er sich zu sehr derangiren. »Nach Dero Belieben,« gab ich darauf, und neigte mich dazu.

Itzt brachte Wilhelm die Vicktualien. Wir hatten kein Glas, und ich[122] schenkte in die Kaffeschaale ein, und präsentirte sie ihm; aber er schlug es aus, gieng auch gleich darauf fort, und ließ es uns allein. Wir zehrten es mit größtem Appetit auf, und hätten darüber bald unser ganzes Unglück vergessen. Ich bin nun küriös, ob ich bald wieder Gelegenheit haben werde, dir etwas von diesem guten Herrn zu berichten, oder ob er gar etwa ein Windbeutel ist, und sich nicht mehr sehen läßt: welches ich aber kaum glauben kann; denn er hat ein gar zu ehrliches Gesichte.

Lebe wohl, bestes Ernestinchen. Ich wünsche dir viel Glück, und bin mit der größten Zärtlichkeit


Dein Fiekchen.

Quelle:
Karl Timlich: Priaps Normal-Schule die Folge guter Kinderzucht. [München] [1971], S. 114-123.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lohenstein, Daniel Casper von

Cleopatra. Trauerspiel

Cleopatra. Trauerspiel

Nach Caesars Ermordung macht Cleopatra Marcus Antonius zur ihrem Geliebten um ihre Macht im Ptolemäerreichs zu erhalten. Als der jedoch die Seeschlacht bei Actium verliert und die römischen Truppen des Octavius unaufhaltsam vordrängen verleitet sie Antonius zum Selbstmord.

212 Seiten, 10.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon