Die Lieder der Vorzeit

[131] 1807


Als Knabe stieg ich in die Hallen

Verlaßner Burgen oft hinan;

Durch alte Städte tät ich wallen

Und sah die hohen Münster an.

Da war es, daß mit stillem Mahnen

Der Geist der Vorwelt bei mir stand,

Da ließ er frühe schon mich ahnen,

Was später ich in Büchern fand:


Daß Jungfraun dort von ew'gem Preise,

Die heil'gen Lieder, einst gewohnt

Und in der Edelfrauen Kreise

Beim Feste des Gesangs gethront.

Da kam der Krieger wild Geschlechte[131]

Und warf den Brand ins frohe Haus.

Die Schwestern flohn im Graun der Nächte

Nach allen Seiten zagend aus.


Wie manche schmachtet, hart gefangen,

In eines Kerkers dunklem Grund!

Zu keinem milden Ohr gelangen

Die Kläng aus ihrem zarten Mund.

Ach, jene, die auf öden Wegen

Umhergeirret krank und müd,

Sie ist dem schweren Gram erlegen

Und sang noch einmal, eh sie schied.


In eines armen Mädchens Kammer

Ist einer andern Aufenthalt,

Sie mischt sich in der Freundin Jammer,

Wann still der Mond am Himmel wallt.

Auch manche wagt der Märterinnen

Sich in des Marktes frech Gewühl,

Sie will der Menschen Herz gewinnen

Und singet sanft zum Saitenspiel.


Getrost! schon sinken eure Bande,

Und Boten ziehn nach Ost und West,

In eine Stadt am Neckarstrande

Zu laden euch zum neuen Fest.

Ihr Heitern, kommt zu Tanzes Feier,

Laßt wehn das rosige Gewand!

Ihr Ernsten, wallt im Nonnenschleier,

Die weiße Lilie in der Hand!


Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 131-132.
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