Romanze vom kleinen Däumling

[158] Kleiner Däumling! kleiner Däumling!

Allwärts ist dein Ruhm posaunet.

Schon die Kindlein in der Wiege

Sieht man der Geschichte staunen.

Welches Auge muß nicht weinen,

Wie du liefst durch Waldes Grausen,

Als die Wölfe hungrig heulten

Und die Nachtorkane sausten!

Welches Herz muß nicht erzittern,

Wie du lagst im Riesenhause

Und den Oger hörtest nahen,

Der nach deinem Fleisch geschnaubet!

Dich und deine sechs Gebrüder

Hast vom Tode du erkaufet,

Listiglich die sieben Kappen

Mit den sieben Kronen tauschend.

Als der Riese lag am Felsen,

Schnarchend, daß die Wälder rauschten,[158]

Hast du keck die Meilenstiefel

Von den Füßen ihm gemauset.

Einem vielbedrängten König

Bist als Bote du gelaufen;

Köstlich war dein Botenbrot:

Eine Braut vom Königshause.

Kleiner Däumling! kleiner Däumling!

Mächtig ist dein Ruhm erbrauset.

Mit den Siebenmeilenstiefeln

Schritt er schon durch manch Jahrtausend.


Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 158-159.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe letzter Hand)
Gedichte und Reden