Die zwo Jungfraun

[95] Zwo Jungfraun sah ich auf dem Hügel droben,

Gleich lieblich von Gesicht, von zartem Baue;

Sie blickten in die abendlichen Gaue,

Sie saßen traut und schwesterlich verwoben.


Die eine hielt den rechten Arm erhoben,

Hindeutend auf Gebirg und Strom und Aue;

Die andre hielt, damit sie besser schaue,

Die linke Hand der Sonne vorgeschoben.
[95]

Kein Wunder, daß Verlangen mich bestrickte

Und daß in mir der süße Wunsch erglühte:

O säß ich doch an einer Platz von beiden!


Doch wie ich länger nach den Trauten blickte,

Gedacht ich im besänftigten Gemüte:

Nein! wahrlich, Sünde wär es, sie zu scheiden!


Quelle:
Ludwig Uhland: Werke. Band 1, München 1980, S. 95-96.
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