Amor

[150] Mädgen lernet Amorn kennen!

Läßt er sich nur Freundschaft nennen:

Seht ihm ins Gesicht.

Seht ihr feuervolle Blicke,

Voll Zerstreuung, voller Tücke,

Das ist Amor, zweifelt nicht.
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Seht ihr einen Proteus lauern,

Der bald lacht, bald nur von Trauern,

Halb verzweifelt spricht;

Heute lauft und morgen schleichet,

Und sich keine Stunde gleichet,

Das ist Amor, zweifelt nicht.


Artig weis er liebzukosen:

Seine Lippen düften Rosen,

Wenn er mit euch spricht.

Seht ihr ihn urplötzlich wüthen,

Anfangs bitten, dann gebiethen,

Das ist Amor, zweifelt nicht.


Kommt er ohne Pfeil und Bogen,

Wie die Unschuld selbst, geflogen:

Seht ihm ins Gesicht.

Seht ihr ihn, bey Scherz und Spielen,

Nach dem Busen lüstern schielen,

Das ist Amor, traut ihm nicht.

Quelle:
Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke, Stuttgart 1890, S. 150-151.
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Sämtliche poetische Werke. Hrsg. von A. Sauer