Der Erlöser

[194] Ich irr um traurige Cypressen,

Am leichenvollen Golgatha:

Wie kann ich schweigen und vergessen,

Was hier zu meinem Heil geschah?

Denn nicht das Blut von tausend Rindern

Ward hier vergossen, sondern Blut,

Das ganzen Welten Gutes thut,

Des Mittlers zwischen Gott und Sündern.


Ich will, ich muß von Jesu singen!

Aus Liebe kam er auf die Welt.

Die Wahrheit flog mit güldnen Schwingen

Ihm göttlich strahlend beygesellt:

Als Finsterniß der dicksten Schatten

Noch über allen Völkern lag,

Und auch die Weisen keinen Tag,

Kaum eine schwache Dämmrung hatten.
[194]

Ihr Völker, in Judäens Gränzen

Erscheint ein wunderbares Licht!

Des Jordans weiße Fluthen glänzen,

Wie von der Sonnen Angesicht.

Ich sehe Cedern sich vergülden,

Die Cedern auf dem Libanon!

Der neue Morgen schimmert schon

Den allerdunkelsten Gefilden.


Gott kömmt vom Himmel, euch zu lehren:

Seht, wie vor ihm die Erde schweigt!

Die Heiden drängen sich, zu hören,

Da sich der große Lehrer zeigt.

Er lehret uns die Gottheit kennen,

Und ladet uns zum neuen Bund:

Durch ihn darf unser scheuer Mund

Gott wieder unsern Vater nennen.


Da unser schuldiges Geschlechte

Dem Tode heimgefallen war:

Stellt sich der einzige Gerechte

Zum Opfer der Versöhnung dar.

Verlohren waren Adams Kinder!

Der Sohn des Gottes Zebaoth

Erniedrigt sich zum Kreuzestod,

Und stirbt für abgefallne Sünder.


Er stirbt! Und war aus Gott gebohren!

Weg, Zweifel, der mir Jesum raubt!

Wie grimmig zischt vor meinen Ohren

Die Natter schwellend um dein Haupt![195]

Ich bete, Herr, vor dir im Staube!

Du redest, und ein himmlisch Licht

Strahlt sieghaft mir ins Angesicht:

Du redest, und, o Gott, ich glaube!


Wie? Der für mich am Kreuz erblaßte,

Eröffnete des Tauben Ohr,

Rief, die des Todes Arm umfaßte,

Allmächtig aus dem Grab hervor,

That über menschliches Vermögen;

Und dieser sollte Mensch allein,

Nicht Gott, nicht mein Erlöser seyn,

Und hundert Wunderwerke lögen?


Er ists, er kann sich nicht verhehlen,

Er ist es, Gott von Ewigkeit!

Ich schwör es bey den großen Seelen,

Den Märtyrern der alten Zeit,

Die sich nach diesem Jesu nannten,

Und mit erhabnem Heldenmuth

Auch auf der Folter, in der Glut,

Verfolgter Christen Gott bekannten!


Verehrt, verehrt ihn, alle Lande!

Der Jesus, der im Grabe liegt,

Zerbricht des Todes ehrne Bande,

Lebt ewig, und sein Glaube siegt.

Sein Glaube, diese zarte Pflanze,

Grünt aus verströmtem Blut hervor,

Und hebt im Sturm das Haupt empor,

Mit immer ungeschwächtem Glanze.
[196]

Was lehnen wüthende Nerone

Sich wider den Meßias auf?

Ihr Ungeheuer auf dem Throne;

Tyrannen, sammelt euch zu Hauf!

Wo seyd ihr? Doch sie sind verschwunden;

Und alle Heiden müssen sehn,

Daß Menschen Gott nicht widerstehn,

Und unser Jesus überwunden.

Quelle:
Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke, Stuttgart 1890, S. 194-197.
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