Der allgegenwärtige Gott

[189] Allgegenwärtiger! ich bin

Dir nicht verborgen, wo ich bin,

Wollt auch auf schnellen Schwingen

Mich an die fernsten Meere hin

Die Morgenröthe bringen.


Flieg' ich zum Himmel hoch empor,

Mich unter seinem Sternenchor

Im Glanze zu verstecken:

So bist du da, ziehst mich hervor,

Und Schande wird mich decken.


Steig' ich vor deinem Zorn hinab

Ins Haus der Finsterniß, das Grab:

Du bist auch da zugegen,

Und schwingest deinen Richterstab

Auf schauervollen Wegen.
[189]

Der alles schuf, ist überall!

O fürchterlicher Donnerschall

In aller Sünder Ohren!

Sie furchten keinen Ueberfall:

Nun zittern sie, die Thoren!


Der Gott des Himmels ist so nah?

Das Heiligste der Wesen sah,

Was wir im Herzen dachten?

Was in verschwiegner Nacht geschah,

Wann wir und Satan wachten?


Wir Narren haben wohl gedacht,

Du würdest uns, o Mitternacht,

Mit schwarzen Flügeln decken!

Umsonst! Gott wacht um uns, er wacht

Mit allen seinen Schrecken!


Noch keines Herzens böser Rath,

Ihr Sünder, keine schnöde That

Ist seinem Aug entronnen!

Er kennet den geheimen Pfad

Des Staubes und der Sonnen.


O gehe nicht, Herr, ins Gericht,

Wenn wider die gelobte Pflicht

Wir, deine Knechte, handeln!

Laß uns vor deinem Angesicht

In frommer Ehrfurcht wandeln!


Daß deinem Auge nichts entflieht,

Was war, und ist, und einst geschieht,

Sey meine Ruh und Freude!

Ein Gott, der alles weis und sieht,

Der sieht auch, wenn ich leide.

Quelle:
Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke, Stuttgart 1890, S. 189-190.
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Sämtliche poetische Werke
Sämtliche poetische Werke. Hrsg. von A. Sauer

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