II. Der Nordpol.

[442] Anjou und Wrangell. – Die »Polynja«. – James Roß' erste Expedition. – Die Baffins-Bai geschlossen!-Edward Parry's Entdeckungen während seiner ersten Reise. – Die Erforschung der Hudsons-Bai und Auffindung der Fury- und Hekla-Straße. – Parry's dritte Reise. – Vierte Reise. Im Schlitten über das Eis, im offenen Meere. – Erste Reise Franklin's. – Unglaubliche Leiden der Forscher. – Zweite Expedition. – John Roß. – Vier Winter im Eise. – Die Fahrt Dease's und Simpson's.


Wir hatten wiederholt Veranlassung, von der großen Rührigkeit auf geographischem Gebiete zu sprechen, zu welcher Peter I. den Anstoß gab. Eines der dadurch zuerst erreichten Resultate war Behring's Entdeckung der Meerenge, welche Asien von Amerika trennt. Das freilich erst nach Verlauf von dreißig Jahren nachfolgende wichtigste Ergebniß war die Untersuchung des Liakow-Archipels oder Neu-Sibiriens im Polarmeere.

Im Jahre 1770 hatte ein Kaufmann, Namens Liakow, auf dem von Norden herabtreibenden Eise eine große Renthierheerde ankommen sehen. Er sagte sich darauf hin, daß diese Thiere nur aus einem Lande kommen könnten, wo[442] sie hinreichende Weideplätze zu ihrer Ernährung fanden. Einen Monat später reiste er zu Schlitten ab und entdeckte nach einer Fahrt von fünfzig Meilen, zwischen den Mündungen der Lena und der Indighirka, drei große Inseln, deren unerschöpfliche Lager fossilen Elfenbeins bald Weltberühmtheit erlangten.

Im Jahre 1809 war Hedenström beauftragt worden, eine Karte derselben zu bearbeiten. Er hatte oft wiederholte Schlittenfahrten über das gefrorene Meer unternommen, sah sich dabei aber stets durch halbgeschmolzene, nicht mehr tragfähige Schollen aufgehalten. Er schloß daraus auf ein weiter draußen vorhandenes offenes Meer und begründete diese Annahme mit der ungeheueren Menge zehn Grad warmen Wassers, welche die großen Ströme Asiens dem Eismeere zuführen.

Im März 1821 drang der Lieutenant (und spätere Admiral) Anjou auf dem Eise bis zweiundvierzig Meilen nördlich von der Insel Katelnoï vor und sah unter 76°38' Dunstmassen, die bei ihm den Glauben an ein offenes Polarmeer erweckten. Bei einem anderen Ausfluge sah er dieses Meer mit Treibeis erfüllt und kehrte mit der Ueberzeugung zurück, daß es unmöglich sei, wegen der geringen Dicke des Eises und wegen der Existenz jenes offenen Meeres (zu Schlitten) weiter vorwärts zu dringen.

Während Anjou sich mit diesen Untersuchungen beschäftigte, sammelte ein anderer Marineofficier, der Lieutenant Wrangell, die Erzählungen und verläßlicheren Nachrichten über das Vorhandensein eines, dem Cap Yakan gegenüber gelegenen Landes.

Von dem Häuptlinge eines Tschuktschenstammes hatte er erfahren, daß man in der Nähe der Küste von gewissen, vor der Mündung eines Flusses gelegenen Rissen aus bei schönem Sommerwetter weit, weit im Norden mit Schnee bedeckte Berge erkennen könne; im Winter waren diese natürlich nicht zu sehen. Früher kamen über das zugefrorene Meer wohl auch Renthierheerden von diesem Lande her. Der erwähnte Häuptling hatte einmal selbst eine Renthierheerde auf demselben Wege nach Norden zurückkehren sehen und war ihr im Schlitten einen ganzen Tag lang gefolgt, dann aber wegen der Eisverhältnisse gezwungen gewesen, sein Unternehmen aufzugeben.

Sein Vater hatte ihm auch erzählt, daß ein Tschuktsche mit mehreren Begleitern einmal in einem Lederboote dahin gesegelt sei; er wußte aber weder, was diese dort vorgefunden hatten, noch was überhaupt aus ihnen geworden wäre. Er vermuthete, daß jenes Land bewohnt sein müsse, und erzählte in Bezug darauf, daß an der Insel Aratane einst ein todter Walfisch auf den[443] Strand geworfen worden sei, der von Lanzen mit Schieferspitzen durchbohrt war, eine Waffe, deren sich die Tschuktschen niemals bedienten.

Diese Mittheilungen erschienen merkwürdig genug, um Wrangell's Verlangen, nach jenen unbekannten Gebieten vorzudringen, nur noch zu verstärken; sie sollten jedoch erst in unseren Tagen richtig gestellt werden.

Von 1820 bis 1824 unternahm Wrangell, der sich an der Mündung der Kolyma dauernd aufhielt, vier Schlittenreisen über das Eis. Zunächst untersuchte er die Küste von der Mündung der Kolyma bis zum Cap Tchelagskoï und mußte dabei bis fünfunddreißig Grad Kälte aushalten.

Im zweiten Jahre wollte er versuchen, wie weit er über das Eis hinauf gelangen könne, und kam dabei bis einhundertvierzig Meilen vom Lande weg.

Im dritten Jahre, 1822, reiste Wrangell im März ab, um die Angaben eines Eingebornen zu prüfen, welcher das Vorhandensein eines Landes, weit draußen im Meere, behauptete.

Er erreichte dabei ein Eisfeld, auf dem er ohne Hindernisse vorwärts gelangen konnte. Weiterhin erwies sich das »Ice-field« freilich weniger widerstandsfähig. Da es dem Eise an Festigkeit mangelte, eine Karawane zu tragen, so belud man zwei kleine Schlitten mit einem Nachen, einigen Planken nebst den nöthigsten Geräthen und wagte sich nun auf das unter den Füßen krachende Eis hinaus.

»Zuerst zogen wir, sagt Wrangell, sieben Werst weit über eine Salzschicht; weiterhin unterbrachen breite Spalten die Oberfläche, über welche wir nur mit Hilfe unserer Planken gelangen konnten. Hier sah ich auch kleine Hügel von so zerfließlichem Eise, daß der geringste Stoß hinreichte, diese zu zertrümmern und den Hügel in ein rundes Loch zu verwandeln. Das Eis, auf dem wir uns bewegten, war ohne Halt, kaum einen Fuß dick und außerdem mit zahlreichen Löchern durchsetzt. Das Aussehen des Meeres glich damals einem ungeheueren Morast; das kothige Wasser, welches aus den sich in allen Richtungen durchschneidenden Sprüngen emporquoll, der mit Sand und Erde vermengte schmelzende Schnee, jene kleinen Hügel, von welchen einzelne Wasserfäden herabrannen, Alles trug dazu bei, diese Täuschung zu verstärken.«

Wrangell hatte sich zweihundertachtundzwanzig Kilometer von der Küste entfernt und dabei den Rand des offenen sibirischen Meeres berührt, jener ausgedehnten »Polynja« – so lautet der Name, den er den weiten Strecken offenen Wassers gab – auf welche Leontjew schon 1764 und Hedenström 1810 hinwiesen.[444]

Zur vierten Reise brach Wrangell von dem Cap Yakan, das heißt dem, den Ländermassen im Norden am nächsten gelegenen Punkte auf. Seine kleine Gesellschaft überschritt das Cap Tchelagskoï und wandte sich dann nach Norden; ein heftiger Sturm brach aber das nur drei Fuß dicke Eis auf und versetzte die Reisenden in die höchste Gefahr. Bald auf einer noch zusammenhaltenden großen Scholle hintreibend, bald halb im Wasser auf einer beweglichen Planke, welche einmal nur schwankte, ein andermal gänzlich überfluthet wurde, oder auf einem Eisblocke zusammengedrängt, der ihnen als Fähre diente und den die Hunde schwimmend fortschleppten, erreichten sie endlich das Ufer quer durch Eisschollen, welche im Meere donnernd und krachend aufeinander prallten. Ihre Rettung verdankten sie nur allein der Schnelligkeit und Kraft der Hundegespanne.

So endeten die Versuche, die zur Erreichung der Länder im Norden Sibiriens angestellt wurden.

Die polare Calotte der Erde wurde aber gleichzeitig von einer anderen Seite mit ebenso viel Energie, aber mit noch mehr Ausdauer angegriffen.

Man erinnert sich, mit welchem Eifer und welcher Ausdauer die vielgenannte Nordwest-Passage aufgesucht worden war. Die Friedensverträge von 1815 hatten kaum Veranlassung gegeben, eine Menge englischer Schiffe außer Dienst zu stellen und sehr viele Officiere auf Halbsold zu setzen, als die Admiralität, bestrebt, die Carriere mancher verdienstvollen Seeleute nicht zu unterbrechen, auf Mittel sann, für dieselben Verwendung zu finden. Diese Umstände gaben Veranlassung, die Aufsuchung einer nordwestlichen Durchfahrt wieder aufzunehmen.

Die »Alexandre« von zweihundertfünfzig Tonnen, und die »Isabelle« von dreihundertfünfundneunzig, wurden unter dem Befehle John Roß', eines bewährten Officiers, und des Lieutenant William Parry von der Regierung abgesendet, um die Bassins-Bai zu untersuchen. Mehrere Officiere, wie James Roß, Back und Belcher, die sich durch die Polarfahrten einen geachteten Namen erwerben sollten, gehörten zu den Besatzungen. Die Schiffe gingen am 18. April unter Segel, ankerten bei den Shetlands-Inseln, suchten vergebens nach dem untergegangenen Baß-Lande, das man nach 57°28' nördlicher Breite verlegte, und trafen am 26. Mai auf das erste Eis. Am 2. Juni kam die Küste von Grönland in Sicht. An der, auf den Karten nur lückenhaft verzeichneten Westküste fand man sehr beträchtliche Eismassen, und der Gouverneur der dänischen Niederlassung Whale-Island versicherte den Engländern, daß die Strenge der Winter seit den elf Jahren. während der er das Land bewohnte, bemerkbar zugenommen habe.[445]

Bisher hatte man geglaubt, daß das Land jenseits des 75. Breitengrades unbewohnt sei. Die Reisenden erstaunten deshalb nicht wenig, einen ganzen Eskimostamm über das Eis ankommen zu sehen. Diese Halbwilden kannten kein anderes Volk als ihr eigenes. Sie betrachteten die Engländer, ohne sich in ihre Nähe zu wagen, und einer derselben rief die Schiffe mit lauter, fast feierlicher Stimme an.

»Wer seid Ihr? Woher kommt Ihr? Von der Sonne oder vom Monde?«

Obgleich dieser Stamm in gewisser Hinsicht weit unter den Eskimos stand, welche die häufige Berührung mit Europäern schon zu civilisiren begonnen hat, so kannte er doch den Gebrauch des Eisens, aus dem es einzelnen seiner Mitglieder sogar gelungen war, Messer herzustellen. Dasselbe rührte, soviel man zu begreifen glaubte, von einem Berge her, dem jene Leute es entnahmen. Wahrscheinlich war es Meteoreisen.

Während der ganzen Reise legte John Roß – und hierüber täuschte sich die öffentliche Meinung in England auch schon vor dem Bekanntwerden der Ergebnisse derselben nicht – neben ausgezeichneten seemännischen Tugenden, doch eine unglaubliche Gleichgiltigkeit und Flüchtigkeit an den Tag. Er schien sich im Ganzen sehr wenig um die Lösung der geographischen Probleme zu kümmern, welche die Ausrüstung der Expedition veranlaßt hatten.

Ohne sie zu untersuchen, segelte er an den Wolstenholme- und Walfisch-Baien, ebenso wie an dem Smith-Sunde, der sich im Grunde der Bassins-Bai befindet, und noch dazu in so großer Entfernung vorüber, daß nichts davon zu erkennen war.

Als er dann an der Westseite der Bassins-Bai hinabsegelte, zeigte sich den spähenden Blicken der Forscher ein tief eingeschnittener Meeresarm, dessen Breite kaum unter fünfzig Meilen betragen mochte. Die beiden Schiffe fuhren am 29. August in denselben ein, sie hatten aber kaum dreißig Meilen zurückgelegt, als Roß Befehl zum Umkehren gab unter dem Vorwande, er habe deutlich eine hohe Bergkette gesehen, die sich im Hintergrunde erhöbe, und der er den Namen Croker-Berge beilegte. Diese Ansicht theilten freilich die Officiere, die nicht den geringsten Hügel wahrgenommen hatten, keineswegs, weil der Meeresarm, auf dem sie sich befanden, nichts Anderes war, als der von Bassin getaufte Lancaster-Sund, der nach Westen zu mit dem Meere zusammenhängt.

So mochte es sich überhaupt mit allen Buchten dieser so tief eingeschnittenen Küste verhalten, an der man übrigens meist in solcher Entfernung hinsegelte,[446] daß Einzelheiten unerkennbar blieben. So machte die Expedition, an der Einfahrt nach Cumberland angekommen, gar keinen Versuch, diesen so wichtigen Punkt eingehender zu erforschen, und Roß kehrte, gleichgiltig gegen den Ruhm, den er hätte erwerben können, nach England zurück.

Der Leichtfertigkeit und Vernachlässigung seiner Aufgabe angeklagt, antwortete Roß mit stolzem Selbstbewußtsein:

»Ich wage mir zu schmeicheln, die Zwecke meiner Reise in allen wichtigen Punkten erfüllt zu haben, da ich die Existenz einer Bai, die sich von Disco bis zur Cumberland-Enge erstreckt, nachgewiesen und die Frage wegen einer nordwestlichen Durchfahrt in dieser Richtung für immer entschieden habe.«

Schlimmer könnte man sich allerdings kaum täuschen.

Der Mißerfolg dieses Versuches konnte aber die Forscher nicht entmuthigen. Die Einen sahen darin die eclatante Bestätigung der Entdeckungen des alten Baffin, Andere wollten in den unzähligen Einfahrten, in denen das Meer so tief und die Strömung so stark war, etwas anderes als Baien erkennen. Für sie waren das Meerengen, und alle Hoffnung, die ersehnte Durchfahrt aufzufinden, schien nicht verloren.

Von solchen Anschauungen frappirt, rüstete die Admiralität sofort zwei kleine Fahrzeuge aus, die Bombarde »Hekla« und die Brigantine »Griper«. Am 5. Mai 1819 verließen diese die Themse unter der Führung des Lieutenants William Parry, der mit seinem früheren Chef bezüglich der Nordwest-Passage ebenfalls nicht übereinstimmte. Ohne außergewöhnliche Vorkommnisse gelangten die Schiffe bis zu dem Sunde Sir James Lancaster's; nach siebentägiger Einschließung inmitten starker, in einer Länge von achtzig Meilen aufgehäufter Eismassen segelten sie in jene Bai ein, die nach John Roß von einer Bergkette abgeschlossen sein sollte.

Nicht allein jene Berge existirten aber nur in der Einbildung des genannten Seefahrers, sondern alle Anzeichen deuteten mit voller Verläßlichkeit darauf hin, daß man sich in einer Meerenge befand. Bei dreihundertzehn Faden zeigte sich noch kein Grund; allmählich machte sich ein hohler Seegang bemerkbar; die Temperatur des Wassers hob sich bis auf sechs Grad und im Laufe eines einzigen Tages begegnete man nicht weniger als achtzig großen Walfischen.

Als die Reisenden am 31. Juli in der Possessions-Bai, die sie im vergangenen Jahre besucht hatten, an's Land gingen, fanden sie noch ihre eigenen Fußspuren wieder, ein Beweis für die geringe Menge Schnee und den wenigen[447] Reif des letztvergangenen Winters. In dem Augenblicke, als die Schiffe mit vollen Segeln und unter günstigem Winde in den Lancaster-Sund einfuhren, schlugen wohl Aller Herzen schneller.

»Es ist leichter, sagt Parry, sich die ängstliche Erwartung vorzustellen als zu beschreiben, die sich in diesem Augenblick auf allen Gesichtern malte, während wir mit immer zunehmender Geschwindigkeit in die Meerenge mit auffrischender Brise einfuhren; den ganzen Nachmittag über standen Officiere und Matrosen auf den Stengen, und ein uninteressirter Zuschauer, wenn es unter den gegebenen Verhältnissen einen solchen hätte geben können, müßte sich amüsirt haben über die Begierde, mit welcher jede neue Meldung aufgenommen wurde; bisher lauteten alle sehr günstig, selbst für unsere ehrgeizigsten Hoffnungen und Wünsche.«

Die beiden Ufer liefen parallel zu einander weiter, so weit das Auge ihnen, etwa bis auf fünfzig Meilen, zu folgen vermochte. Die Höhe der Wogen, das Fehlen des Eises, kurz Alles bestärkte die Engländer in der Annahme, daß sie das offene Meer erreicht und die gesuchte Durchfahrt gefunden hätten, als eine Insel, an der ungeheuere Eismassen aufgethürmt lagen, ihnen den ferneren Weg versperrte.

Ein Meeresarm von etwa zehn Meilen Breite öffnete sich jedoch im Süden derselben. Hier hoffte man nun einen von Eis weniger verstopften Weg zu entdecken. Merkwürdiger Weise hatten sich die Bewegungen der magnetischen Nadel, je weiter nach Westen man durch den Lancaster-Sund vordrang, immer mehr verstärkt; jetzt bei einem Kurse nach Süden schien das Instrument alle gewohnten Eigenschaften verloren zu haben, und man sah in Folge merkwürdiger Ursachen die richtende Kraft der Magnetnadel sich so weit verringern, daß sie der von den Schiffen geübten Anziehung nicht mehr die Waage hielt, so daß dieselbe eigentlich nur noch den Nordpol der »Hekla « oder der »Griper« anzeigte.

Der Meeresarm erweiterte sich, je mehr die Fahrzeuge nach Westen vordrangen, und das Ufer verlief deutlich nach Südwesten zu; nach Zurücklegung von hundertzwanzig Meilen in dieser Richtung sahen sie sich plötzlich durch eine Eisbank aufgehalten, welche jedem weiteren Vordringen ein Ziel setzte. Sie fuhren also nach der Barrow-Straße zurück, zu der der Lancaster-Sund eigentlich nur die Schwelle bildet, und sahen jetzt dasselbe Meer eisfrei, das sie wenige Tage vorher voller Schollen gefunden hatten.

Unter 72°15' der Breite entdeckten sie einen neuen, etwa acht Meilen breiten Wasserarm, den Wellington-Kanal; vollständig frei von Eis, schien dieser durch keine Landmasse verschlossen zu sein. Alle diese Meerengen überzeugten die Seefahrer, daß sie inmitten eines ausgedehnten Archipels segelten, und ihr gutes Vertrauen gewann dadurch neue Nahrung.[448]

Die Fahrt bei fortwährendem Nebel war indeß ziemlich schwierig; die Anzahl kleiner Inseln und Untiefen nahm immer mehr zu, die Eismassen thürmten sich höher an, doch konnte nichts Parry entmuthigen, seinen Weg nach Westen fortzusetzen. Auf einer größeren Insel, die den Namen Bathurst erhielt, fanden die Matrosen Reste von Eskimohütten und Spuren von Renthieren. An dieser[449] Stelle wurden magnetische Beobachtungen vorgenommen, welche zu der Ueberzeugung führten, daß man im Norden des magnetischen Poles vorübergekommen sei. Bald kam eine an dere große Insel, Melville, in Sicht, und trotz der Hindernisse, welche Eis und Nebel dem Vordringen der Expedition in den Weg stellten, gelang es dieser doch, den 110. Grad westlicher Länge zu überschreiten und damit die von dem Parlamente ausgesetzte Belohnung von hunderttausend Pfund Sterling zu verdienen.


Er lud Proviant und Boote auf Schlitten. (S. 454.)
Er lud Proviant und Boote auf Schlitten. (S. 454.)

Er lud Proviant und Boote auf Schlitten. (S. 454.)


Ein in der Nähe dieses Punktes gelegenes Vorgebirge erhielt deshalb den Namen Munificenz-Cap; eine schöne Rhede in der Nachbarschaft wurde die Hekla- und Griper-Bai genannt. Im Grunde dieser Bai, dem Winter-Harbour, verbrachten die beiden Schiffe den Winter. Abgetakelt, von wattirten Matten eingehüllt, lagen sie unter einer dicken Schneedecke, während im Innern derselben Oefen und Caloriferen aufgestellt wurden. Die Jagd hatte keine anderen Erfolge, als daß verschiedene Theilnehmer der Expedition dabei einige Glieder erfroren, denn bis auf Wölfe und Füchse hatten alle übrigen Thiere die Insel Melville gegen Ende des Octobers verlassen.

Wie sollte man nun die lange Winternacht ohne gar zu große Langeweile verbringen?

Die Officiere kamen auf den Gedanken, ein Theater zu errichten, auf dem die erste Vorstellung am 6. November stattfand, an dem Tage, da die Sonne für drei volle Monate von dem Horizonte verschwand. Nachdem dann zur Feier des Weihnachtsfestes ein besonderes Stück geschrieben worden war, gründeten sie eine Wochenschrift, welche die »Zeitung für Nord-Georgien, eine Winter-Chronik«, (The North Georgia gazette and winter chronicle) genannt wurde. Diese Zeitschrift, deren Redaction Sabine besorgte, erschien in einundzwanzig Nummern und hatte nach der Heimkehr auch noch die Ehre, durch den Druck veröffentlicht zu werden.

Im Monat Januar machte sich der Scorbut bemerkbar, und die Heftigkeit, mit der die Krankheit anfangs auftrat, verursachte nicht geringe Besorgnisse; die verständige Anwendung von antiscorbutischen Mitteln und die tägliche Vertheilung von frischem Senf und Kresse, welch' letztere es Parry gelang, in der Nähe seiner Oefen aufzuziehen, schnitten das Uebel bald an der Wurzel ab.

Am 7. Februar erschien die Sonne zum ersten Male wieder, und obwohl gewiß noch mehrere Monate vergehen mußten, bevor an eine Abreise zu denken war, wurden doch schon die Vorbereitungen zu derselben getroffen. Am 30. April[450] stieg das Thermometer bis Null Grad, und die Matrosen, welche diese so niedrige Temperatur schon für Sommerwetter ansahen, schickten sich an, die Winterkleider abzulegen. Der erste weiße Rainfarn erhob das Haupt am 12. Mai, und am nächsten Tage bemerkte man Spuren von Renthieren und Moschusziegen, welche wieder nach Norden auszuwandern begannen. Die größte Freude und eine ganz außerordentliche Ueberraschung bereitete den Seeleuten aber ein Regen, der am 24. Mai fiel.

»Wir waren, sagt Parry, so entwöhnt, Wasser in seinem natürlichen Zustande und vorzüglich solches vom Himmel herabfallen zu sehen, daß diese einfache Erscheinung für uns zum Gegenstand der lebhaftesten Neugier wurde. Ich glaube bestimmt, daß sich Niemand an Bord befand, der nicht auf das Verdeck gekommen wäre, um das so interessante und uns so neue Schauspiel zu genießen.«

Während der ersten Hälfte des Juni unternahm Parry in Begleitung mehrerer Officiere einen Ausflug über die Insel Melville, deren nördliches Ende er dabei erreichte. Bei seiner Rückkehr zeigte sich schon überall einige Vegetation, das Eis begann zu zerfallen und Alles deutete darauf hin, daß die Abfahrt nun bald stattfinden könne, was denn endlich am 1. August geschah; in der offenen See waren die Schollen aber noch lange nicht geschmolzen und die Fahrzeuge vermochten nach Osten nicht weiter vorzudringen, als bis zum Ende der Insel Melville. Der äußerste Punkt, den Parry in dieser Richtung erreichte, liegt unter 74°26'25'' der Breite und 113°46'43'' der Länge. Die Rückkehr ging ohne Unfall von statten und gegen Ende November trafen die Schiffe glücklich wieder in England ein.

Die Ergebnisse dieser Reise waren sehr beträchtlich; es wurden durch dieselbe nicht allein sehr ausgedehnte Gebiete der Polarregion erschlossen, sondern man hatte auch werthvolle physikalische und magnetische Beobachtungen angestellt und ebenso über die Kälte-Erscheinungen, über das arktische Klima und das animalische und vegetabilische Leben in jenen Gegenden Auskunft erlangt.

Bei einer einzigen Fahrt erreichte Parry mehr als Alle, die ihm im Laufe von dreißig Jahren auf seiner Fährte folgen sollten.

Sehr befriedigt von diesen Erfolgen Parry's, vertraute ihm die Admiralität im Jahre 1821 das Commando zweier Schiffe, der »Hekla« und der »Fury« an, das letztere nach dem Modell der »Hekla« erbaut. Diesesmal erforschte der Seefahrer die Ufer der Hudsons-Bai und mit größter Sorgfalt auch die Küsten[451] der Halbinsel Melville, nicht zu verwechseln mit der Insel gleichen Namens. Man überwinterte auf der Winter-Insel, nahe der Ostküste jener Halbinsel, und griff dabei auf dieselben Unterhaltungen zurück, die sich bei der früheren Fahrt so gut bewährt hatten. Die angenehmste Zerstreuung in der Monotonie des Winters war jedoch der Besuch einer Gesellschaft Eskimos, welche am 1. Februar über das Eis ankamen. Ihre Hütten, die man bisher nicht bemerkte, waren am Ufer errichtet; man stattete auch diesen vielfache Besuche ab, und der achtzehnmonatliche Verkehr der Besatzung mit jenen trug nicht wenig dazu bei, eine ganz andere Anschauung über diese Völker, ihre Lebensweise und ihren Charakter zu verbreiten, als man eine solche bisher hatte.

Die Untersuchung der Fury- und Hekla-Engen, welche die Halbinsel Melville von dem Cockburn- Lande trennen, nöthigte die Reisenden, noch einen Winter über in den arktischen Gebieten zu verweilen. Wenn dazu auch noch bessere Maßnahmen getroffen wurden, so verlief diese Zeit doch in etwas gedrückterer Stimmung, weil Officiere und Matrosen das Gefühl grausamer Enttäuschung nicht überwinden konnten, sich gerade in dem Augenblicke aufgehalten zu sehen, wo sie nach der Behrings-Straße abzusegeln hofften.

Am 12. August öffnete sich wieder ein Weg durch das Eis. Parry wollte seine Schiffe nach Europa zurücksenden und auf dem Landwege eine Untersuchung der von ihm entdeckten Länder vornehmen; er mußte jedoch den Vorstellungen des Kapitän Lyon nachgeben, der ihm die ganze Tollkühnheit dieses verzweifelten Planes vor Augen legte. Die beiden Fahrzeuge kehrten also nach einer Abwesenheit von siebenundzwanzig Monaten nach England zurück und hatten während dieser Zeit von hundertacht Mann nur fünf verloren, obwohl sie zwei Winter nach einander in den hyperboräischen Regionen zubrachten.

Gewiß erreichten die Ergebnisse dieser zweiten Fahrt die der ersten nicht an Bedeutung, dennoch darf man sie keineswegs für werthlos ansehen. Man wußte nun, daß die eigentliche Küste Amerikas nicht über den 70. Grad hinaufreicht, daß der antarktische Ocean mit dem Polarmeere durch eine Menge Meerengen und Kanäle zusammenhängt, von denen die meisten, wie die der Fury, der Hekla, die Fox-Enge und andere, freilich vielfach durch Eismassen verschlossen sind, welche heftige Strömungen in denselben aufhäufen.

Wenn das an der Südostspitze der Halbinsel Melville gesehene Eis hier permanent zu lagern schien, so war das mit dem am Eingange der Regent-Straße offenbar nicht der Fall. Es bot sich demnach einige Aussicht, nach dem[452] Polarbecken vordringen zu können. Die »Fury« und die »Hekla« wurden deshalb noch einmal ausgerüstet und Parry zur Führung überlassen.

Diese Reise war leider die mindest glückliche von allen, welche der erfahrene Seemann unternahm, nicht, daß er sich dabei seiner Aufgabe nicht gewachsen gezeigt hätte, wohl aber wurde er das Opfer unglücklicher Zufälligkeiten und mißlicher Verhältnisse. So bedrängte ihn z. B., als er kaum in die Bassins-Bai eingelaufen war, eine so ungeheuere Masse Eis, daß er die größte Mühe hatte, nur den Eingang zu der Prinz Regent-Straße wieder zu erreichen. Wäre er hier drei Wochen früher eingetroffen, so hätte es ihm vielleicht gelingen können, längs der Küste Amerikas hinzusegeln, jetzt blieb ihm aber nichts Anderes übrig, als sofort Anstalten zu treffen, um unter den geringsten Beschwerden den Winter zu verbringen.

Für diesen Officier, der schon gewöhnt war, den Winter der Polarzone auszuhalten, hatte das nichts Erschreckendes an sich. Er kannte die nöthigen Maßregeln zur Erhaltung der Gesundheit der Mannschaften, selbst zur Sicherung eines gewissen Wohlbehagens, und war nicht in Verlegenheit wegen Beschäftigungen und Zerstreuungen, welche so mächtig dazu beitragen, die Langeweile einer dreimonatlichen Nacht zu verkürzen.

Mancherlei von den Officieren ertheilte Unterrichtskurse, auch Maskeraden und Theatervorstellungen, nebst einer gleichmäßigen Wärme von 50° Fahrenheit (–10° C.) erhielten die Leute so frisch und munter, daß Parry, als ihm das Thauwetter am 20. Juli 1825 die Wiederaufnahme seiner Operationen gestattete, keinen einzigen Kranken an Bord hatte.

Er schlug nun einen Weg längs des östlichen Ufers der Einfahrt in die Prinz Regent-Straße ein; da trieben aber zahlreiche Schollen heran und drängten die Fahrzeuge gegen das Land. Die »Fury« wurde so schwer beschädigt, daß sie, obschon vier Pumpen stets in Thätigkeit blieben, kaum flott erhalten werden konnte. Parry machte zwar den Versuch, sie wieder in Stand zu setzen; nachdem sie aber mit großer Beschwerde auf ein ungeheueres Stück Eis gehoben worden war, entstand ein heftiger Sturm, der die temporäre Unterlage zertrümmerte und das Schiff auf den Strand warf, wo man es endgiltig aufgeben mußte. Seine Besatzung wurde von der »Hekla« mit aufgenommen, die in Folge dieser Katastrophe den Rückweg nach England einschlug.

Der gegen Gefahren so abgehärtete Parry ließ sich auch hierdurch von weiteren Projecten nicht abhalten. Wenn es sich unmöglich erwies, das Eismeer[453] auf diesem Wege zu erreichen, so konnte es doch noch andere dahin geben. Vielleicht bot z. B. die ungeheuere Meeresfläche zwischen Grönland und Spitzbergen eine minder gefährliche Straße, die von Eisbergen, welche sich ja nur an Küsten bilden, weniger heimgesucht war.

Die frühesten Fahrten in diese Gegenden, von denen man Kenntniß besitzt, sind die Scoresby's, der diese Meere zum Zwecke der Walfischjagd lange Zeit besuchte. Im Jahre 1806 gelangte er dabei sehr hoch nach Norden, ja, so hoch, wie es auf diesem Wege noch keinem Schiffe gelungen war. Er befand sich nämlich am 24. Mai unter 81°30' der Breite und 16° östlicher Länge von Paris, das heißt, ziemlich genau im Norden von Spitzbergen. Das Eis erstreckte sich in der Richtung nach Ostnordosten hin. Zwischen dieser Richtung und dem Südosten war das Meer auf eine Strecke von dreißig Meilen vollkommen frei, und auch auf die Entfernung von hundert Meilen Land nicht zu sehen.

Man muß bedauern, daß sich der Walfänger diesen günstigen Umstand nicht zunutze machte, um noch weiter nach Norden vorzudringen; unzweifelhaft hätte er manche wichtige Entdeckung gemacht, oder vielleicht gar den Pol selbst erreicht.

Was nun geschäftliche Rücksichten dem Walfänger Scoresby nicht zu unternehmen gestatteten, das wollte Parry auszuführen versuchen.

Er segelte mit der»Hekla« am 27. März 1827 von London ab, kam nach dem norwegischen Lappland, nahm in Hammerfest Hunde, Renthiere nebst Booten ein und setzte seine Fahrt nach Spitzbergen weiter fort.

Der Hafen Smeerenburg, den er anzulaufen gedachte, war noch mit Eis erfüllt, und die »Hekla« kämpfte gegen dasselbe bis zum 27. Mai. Parry verließ alsdann sein Schiff in der Hinlopen-Straße und fuhr mit zwei Booten nach Norden weiter, auf denen er Roß und Crozier, je zwölf Mann Besatzung und Lebensmittel für einundsechzig Tage mitnahm. Nach Hinterlassung eines Lebensmitteldepois auf den Sieben Inseln, lud er den übrigen Proviant und die Boote auf Schlitten, welche für diesen Zweck ganz besonders hergerichtet waren. Er hoffte auf diese Weise über das feste Eis gelangen und jenseits desselben ein, wenn auch nicht ganz freies, doch wahrscheinlich fahrbares Meer erreichen zu können.

Das Packeis bildete aber nicht, wie Parry vorausgesetzt, eine vollkommen gleichartig zusammengesetzte Masse. Dazwischen fanden sich sowohl breite offene Spalten, über die er setzen mußte, als auch steile Hügel, die man mit den[454] Schlitten nur schwer erklimmen konnte. So kam er in vierzehn Tagen nur vierzehn Kilometer nach Norden vorwärts.

Am 2. Juli wies das Thermometer bei dichtem Nebel + 1∙7° im Schatten und 8∙3° in der Sonne.

Der Weg über die holprige, jeden Augenblick von offenen Wasserkanälen unterbrochene Oberfläche war äußerst mühsam, und dazu litten die Augen der Reisenden nicht wenig von dem grellen rückstrahlenden Lichte.

Trotz aller Hindernisse aber drangen Parry und seine Gefährten muthig weiter, als der Erstere am 20.Juli bemerkte, daß sie erst bis 82°37', das heißt nur neun Kilometer weiter nach Norden gekommen waren, als drei Tage vorher. Allem Anscheine nach unterlag also die ganze Eismasse der Wirkung einer Strömung nach Süden, denn der Reisende war überzeugt, während jener Zeit mindestens zweiundzwanzig Kilometer über das Eisfeld zurückgelegt zu haben.

Parry verheimlichte anfangs seinen Leuten diese Bemerkung, bald wurde es Allen aber offenkundig, daß sie sich nur mit der Differenz zweier entgegengesetzter Geschwindigkeiten nach Norden hinbewegten; einmal mit der, in welcher sie selbst alle Hindernisse überwanden, abzüglich der anderen, welche das »Icefield« nach Süden entführte.

Die Expedition erreichte indessen eine Stelle, wo das morsche Eis Menschen und Schlitten kaum noch zu tragen vermochte. Hier fand sich ein furchtbarer Haufen von Schollen, welche, von den Wogen emporgehoben, mit entsetzlichem Geräusche aufeinander stießen. Die Mundvorräthe gingen zur Neige; Roß war verwundet. Parry litt an einer heftigen Augenentzündung und der Wind schlug auch noch um – das Alles zwang die Engländer, nach Süden zurückzukehren.

Diese kühne Fahrt, während der das Thermometer niemals unter 20° Kälte herabsank, hätte vielleicht von Erfolg sein können, wenn sie in weniger vorgeschrittener Jahreszeit unternommen worden wäre. Wenn die Reisenden früher aufbrachen, so mußten sie wohl über 82°40' hinauskommen, da sie Regen, Schnee und Feuchtigkeit, die untrüglichen Vorzeichen des sommerlichen Thauwetters, nicht aufgehalten hätten.

Als Parry wieder bei der »Hekla« eintraf, hörte er, daß das Schiff in der größten Gefahr geschwebt habe. Unter heftigen Winden hatten Eisschollen die Ankerkette zerrissen und jenes auf den Strand geworfen. Nachdem man dasselbe wieder flott gemacht, war es nach dem Eingange der Waigatzstraße geschafft wor den.


Man mußte sich zu einer zweiten Ueberwinterung entschließen. (S. 463.)
Man mußte sich zu einer zweiten Ueberwinterung entschließen. (S. 463.)

Parry segelte nun ohne Unfall nach den Orcaden, hielt sich kurze Zeit an diesen Inseln auf und lief am 30. September wieder in London ein.

Während Parry einen Durchgang durch die Bassins- oder Hudsons-Bai suchte, um nach dem Pacifi[455] schen Ocean zu gelangen, waren verschiedene Expeditionen organisirt worden, um die Entdeckungen Mackenzie's zu vervollständigen und den Verlauf der Nordküste Amerikas zu bestimmen.


Eskimo-Familie. [Facsimile. Alter Kupferstich.]
Eskimo-Familie. [Facsimile. Alter Kupferstich.]

Diese Reisen schienen keine so großen Schwierigkeiten zu bieten, während ihre Ergebnisse für den Geographen ebenso wichtig, wie für den Seemann vortheilhaft zu werden versprachen.[456] Die Führung derselben wurde einem verdienstvollen Officier, Franklin, anvertraut, dessen Name mit Recht so berühmt geworden ist. Doctor Richardson und Georges Back, damals Midshipman in der Kriegsmarine, begleiteten ihn nebst zwei Matrosen.

Am 30. August 1819 in der Factorei von York, am Ufer der Hudsons-Bai, angelangt, reisten die Forscher, nachdem sie sich von Pelzjägern alle ihnen nützlich erscheinende Auskunft verschafft, am 9. September von da ab und erreichten am 22. October das sechshundertneunzig Meilen entfernte Cumberland House.[457] Die günstige Jahreszeit neigte sich zu Ende. Franklin begab sich inzwischen mit Georges Back nach dem Fort Chippewayan am westlichen Ende des Athabaska-Sees, um die Vorbereitungen für die im nächsten Sommer auszuführende Expedition zu überwachen. Diese Reise von achthundertsiebenundfünfzig Meilen legte er mitten im Winter und bei Temperaturen von vierzig bis fünfzig Grad unter Null zurück.

Zu Anfang des Frühjahres traf Doctor Richardson im Fort Chippewayan mit dem Reste der Expedition ein, und diese brach am 18. Juli 1820 in der Hoffnung auf, vor Eintritt der schlechten Jahreszeit an der Mündung des Coppermine-Flusses einen günstigen Platz zur Ueberwinterung zu finden. Dabei hatten Franklin und seine Begleiter freilich die Schwierigkeiten des Weges und die Hindernisse, welche die Strenge des Klimas bereitete, zu gering veranschlagt.

Wasserfälle, Untiefen in den Seen und Flüssen, nicht fahrbare Stellen und das seltenere Vorkommen von eßbarem Wilde hielten die Reisenden so sehr zurück, daß die canadischen Führer am 20. August, als die Teiche sich schon wieder mit Eis zu bedecken anfingen, sich beklagten, und als sie Schaaren wilder Vögel nach dem Süden ziehen sahen, überhaupt verweigerten, noch weiter mitzugehen. Franklin mußte, so sehr ihn diese Böswilligkeit erbitterte, doch seine Pläne aufgeben, und an der Stelle, wo er sich befand, das heißt fünfhundertfünfzig Meilen vom Fort Chippewayan am Ufer des Winterflusses, ein hölzernes Haus erbauen lassen, das den Namen Fort Entreprise erhielt. Dasselbe liegt unter 64°28' der Breite und 118°6' der Länge.

Nach vollendeter Einrichtung der Wohnung bemühten sich die Reisenden, so viel als möglich Lebensmittel einzusammeln, und bereiteten aus Renthierfleisch jene Conserve, welche in ganz Amerika als »Pemmican« bekannt ist. Zuerst zeigten sich sehr viele Renthiere; man zählte deren an einem Tage über zweitausend Stück; dies lieferte jedoch den Beweis, daß jene auf der Auswanderung nach milderen Gebieten begriffen waren. Obwohl das Fleisch von hundert achtzig dieser Thiere zubereitet worden war und der benachbarte Fluß ebenfalls noch verschiedene Nahrungsmittel lieferte, so sollten doch auch diese beträchtlichen Vorräthe nicht ausreichen.

Auf die Nachricht von der Ankunft weißer Männer in ihrem Lande siedelten sich nämlich mehrere ganze Indianerstämme vor den Thoren des Forts an und ließen keine Gelegenheit vorüber, zu betteln und die Ankömmlinge herzhaft auszubeuten. Auch die Ballen mit Wollendecken, der Tabak und andere Tauschwaaren[458] wurden bald genug erschöpft. Beunruhigt, die Expedition nicht ankommen zu sehen, die ihm weiteren Proviant zuführen sollte, schickte Franklin am 18. October Georges Back mit einigen Canadiern nach dem Fort Chippewayan.

Eine solche Fußreise mitten im Winter erheischte eine Unerschrockenheit und Opferwilligkeit, von der die nachfolgenden wenigen Zeilen eine kleine Vorstellung geben.

»Ich hatte, sagt Back bei seiner Rückkehr, die Freude, meine Reisegenossen nach einer Abwesenheit von etwa fünf Monaten in bestem Wohlsein wieder anzutreffen. In jener Zeit hatte ich elfhundertundvier Meilen in Schneeschuhen und ohne einen anderen Schutz während der Nacht in den Wäldern zurückgelegt, als den einer Decke und eines Damhirschselles, während das Thermometer häufig bis 40, einmal sogar bis 57° unter Null herabsank; zuweilen mußte ich dabei zwei bis drei Tage ohne Nahrung aushalten.«

Diejenigen, welche im Fort zurückgeblieben waren, hatten jedenfalls schwer von der Kälte zu leiden, welche noch um drei Grad diejenige übertraf, welche Parry auf der Melville-Insel ertragen mußte, obwohl diese dem Pole um neun Breitengrade näher liegt. Die Wirkungen dieser niedrigen Temperatur machten sich nicht nur bei den Menschen bemerkbar; selbst die Bäume waren dabei bis in's innerste Mark gefroren, so daß eine Axt in ihnen kaum einen Eindruck hervorbrachte.

Zwei Dolmetscher aus der Hudsons-Bai waren mit Back nach dem Fort Entreprise gekommen. Der eine derselben besaß eine Tochter, welche für das schönste Wesen galt, das man jemals habe sehen können. Obwohl erst sechszehn Jahre alt, hatte sie doch schon zwei Ehemänner gehabt. Einer der englischen Officiere zeichnete ihr Bild zum großen Leidwesen der Mutter, welche fürchtete, daß der »große Häuptling der Engländer« sich bei Betrachtung dieses Porträts in das Original verlieben könnte.

Am 14. Juni 1821 war der Coppermine-Fluß hinlänglich frei von Eis, um auf demselben hinabfahren zu können. Man schiffte sich also ein, obschon die Lebensmittel fast vollständig aufgezehrt waren. Zum Glück gab es an dem grünen Ufer des Flusses viel Wild und man erlegte unter Anderem genug Moschusochsen, welche für Alle hinreichende Nahrung lieferten.

Die Mündung des Coppermine wurde am 18. Juli erreicht. Die Indianer kehrten aus Furcht, ihre Feinde, nämlich Eskimos, zu treffen, sofort nach dem Fort Entreprise um, während die Canadier es kaum wagten, mit ihren Booten[459] auf das freilich ziemlich aufgeregte Meer zu fahren. Franklin wußte sie jedoch zuletzt dazu zu bestimmen; er konnte aber nicht über die Turn Again-Spitze hinausgelangen, das ist ein unter 68°30' der Breite liegendes Vorgebirge, das sich am Eingange eines großen, mit vielen Inseln besäeten Golfes befand, dem Franklin den Namen Golf der Krönung George's IV. beilegte.

Franklin war den Hood-Fluß stromauf gefahren, als er sich von einem zweihundertfünfzig Fuß hohen Wasserfalle aufgehalten sah; den Rest des Weges mußte er also zu Land zurücklegen und mitten durch über zwei Fuß tiefen Schnee ein unbekanntes, unfruchtbares Land durchwandern. Die Strapazen und Leiden der Rückreise kann man sich leichter denken, als sie zu beschreiben sind. Am 11. October kam Franklin nach dem Fort Entreprise zurück, freilich bis zum Aeußersten entkräftet, da er seit fünf Tagen nichts gegessen hatte. Das Fort war verlassen. Ohne alle Vorräthe und krank, glaubte Franklin sein letztes Stündchen gekommen. Am nächsten Tage zog er jedoch aus, die Indianer und seine vorausgegangenen Gefährten zu suchen; der Schnee lag aber so dick, daß er wieder nach dem Fort umkehren mußte. Achtzehn Tage lang lebte er einzig und allein von einer Abkochung der Knochen und Häute der im vorigen Winter getödteten Thiere. Am 29. October endlich traf Doctor Richardson mit John Hepburn, aber ohne die anderen Theilnehmer der Expedition ein. Als die Männer sich wiedersahen, erstaunten sie Alle schmerzlich über ihre Magerkeit, die Veränderung der Stimme und die entsetzliche Schwäche, die ihnen als unverkennbares Zeichen des nahen Endes erschien.

»Doctor Richardson, sagt Cooley, überbrachte auch noch traurige Nachrichten. Während der ersten beiden Tage nach der Trennung der Gesellschaft in drei Abtheilungen hatte die seinige nicht das Geringste zu essen gefunden; am dritten Tage war Michel mit einem Hasen und einem Rebhuhn zurückgekommen, welche unter Alle vertheilt wurden. Der nächste Tag verging aber wieder bei absolutem Fasten. Am 11. bot Michel seinen Begleitern ein Stück Fleisch an, das seiner Aussage nach von einem Wolfe herrühren sollte, bald aber erlangten diese die Ueberzeugung, daß es Fleisch von einem der Unglücklichen war, die den Kapitän Franklin verlassen hatten, um zu Richardson zurückzukehren. Michel wurde jeden Tag unverschämter. Man hegte gegen ihn wohl den Verdacht, er habe irgendwo Nahrungsmittel versteckt, die er für sich allein aufbewahrte. Da hörte Hepburn, als er mit Holzschlagen beschäftigt war, einen Schuß, und als er sich darauf umwandte, bemerkte er, wie Michel nach dem Zelte stürzte; bald[460] darauf fand man Hood todt mit einem Schusse in den Hinterkopf und Niemand konnte daran zweifeln, daß Michel dessen Mörder war. Von diesem Augenblicke an wurde jener noch frecher und verschlossener als je, und da er an Kraft den überlebenden Engländern weit überlegen und außerdem gut bewaffnet war, so erblickten diese ihre Rettung nur in seinem Tode. Ich entschloß mich also, erzählt Richardson, überzeugt, daß uns nur dieser schreckliche Ausweg blieb, alle Verantwortlichkeit auf mich zu nehmen, und jagte Michel, als er zu uns zurückkehrte, eine Kugel durch den Kopf.«

Mehrere der Indianer, welche Franklin und Richardson begleiteten, waren Hungers gestorben und die beiden Häuptlinge nahe daran, jenen in das Grab zu folgen, als am 7. November endlich drei von Back abgeschickte Indianer die erste Hilfe brachten. Sobald sie sich ein wenig gekräftigt fühlten, begaben sie sich nach dem Etablissement der Compagnie, wo sie Georges Back fanden, dem sie bei derselben Expedition zweimal das Leben verdankten.

Die Ergebnisse dieser Reise, welche fünftausendfünfhundert Meilen umfaßte, waren von hoher Bedeutung für die Geographie, die Kenntniß des Erdmagnetismus wie der Meteorologie, und die Küste Amerikas hatte man damit auf eine weite Strecke hin, bis zu dem Cap Turn Again, kennen gelernt.

Trotz aller Leiden und Entbehrungen, welchen sie stets heldenmüthig trotzten, zögerten die Forscher doch nicht, eine neue Reise anzutreten und noch einmal die Erreichung der Küste des Polarmeeres zu versuchen.

Gegen Ende des Jahres 1823 erhielt Franklin den Auftrag, die Küste im Westen des Mackenzie-Flusses zu besichtigen. Alle Agenten der Compagnie sollten dazu Lebensmittel, Boote und Führer bereit halten und die Reisenden überhaupt, so weit es ihnen möglich wäre, allseitig unterstützen.

In New-York wohlwollend aufgenommen, gelangte Franklin auf dem Hudson nach Albany, fuhr von Lewiston aus den Niagara bis zu dessen berühmten Fällen hinauf, erreichte hierauf das Fort St. Georges am Ontario und segelte über diesen See nach Yorck, der Hauptstadt von Ober-Canada; darauf passirte er den Simcoe-, Huron- und Oberen See, wo sich ihm vierundzwanzig Canadier anschlossen, und traf seine Boote am 20. Juni 1825 auf dem Methye-Flusse wieder.

Während Doctor Richardson die Ostküste des Großen Bärensees aufnahm und Back die Vorbereitungen zur Ueberwinterung leitete, begab sich Franklin nach der Mündung des Mackenzie. Die Fahrt ging sehr bequem von statten und[461] nur das Mündungs-Delta des Flusses bot einige Schwierigkeiten. Das Meer war eisfrei; schwarze und weiße Walfische, sowie ganze Seehundheerden tummelten sich auf dessen Fläche. Franklin landete an der kleinen Insel Garry, deren Lage er zu 69°2' der Breite und 135°41' der Länge bestimmte, eine werthvolle Angabe, weil sie beweist, wie viel Vertrauen die Aufnahmen Mackenzie's eigentlich verdienen.

Die Rückkehr verlief ohne Schwierigkeiten, und am 5. September trafen die Reisenden wieder in dem Fort ein, welches Richardson Fort Franklin genannt hatte. Der Winter verging unter Vergnügungen, Belustigungen und Ballfestlichkeiten, an welchen Canadier, Engländer, Schotten, Eskimos und Indianer von vier verschiedenen Stämmen theilnahmen.

Am 22. Juni fand die Abreise statt und am 4. Juli wurde die Gabelung erreicht, wo die Arme des Mackenzie sich trennen. Hier bildete man auch aus der Expedition zwei Abtheilungen, welche die Ufer des Polarmeeres nach Osten und nach Westen zu untersuchen sollten. Kaum hatte Franklin den Strom verlassen, als er in einer großen Bucht eine zahlreiche Gesellschaft Eskimos antraf. Diese schienen sich zuerst über alle Maßen zu freuen, wurden aber bald zudringlich und versuchten, sich der Boote zu bemächtigen. Die Engländer benahmen sich bei dieser Gelegenheit mit außerordentlicher Langmuth und verhüteten dadurch ein nutzloses Blutvergießen.

Franklin entdeckte und benannte den Clarence-Fluß, der die Besitzungen Rußlands von denen Englands scheidet. Unfern von diesem erhielt ein anderer Wasserlauf den Namen Canning. Am 16. August, erst auf halbem Wege zum Eis-Cap, kehrte Franklin, weil sich der Winter so zeitig anmeldete, zurück und fuhr in den schönen Peel-Fluß ein, den er für den Mackenzie ansah. Er erkannte seinen Irrthum erst, als im Osten desselben eine Gebirgskette sichtbar wurde. Am 21. September kehrte er in das Fort zurück, nachdem er binnen drei Monaten zweitausendachtundvierzig Meilen durchmessen und dreihundertvierundsiebzig Meilen der amerikanischen Küste aufgenommen hatte.

Richardson war inzwischen auf einem tiefen, weniger eiserfüllten Meere, meist in Gesellschaft friedlicher und gastfreundlicher Eskimos, vorgedrungen. Er gelangte nach der Liverpool- und der Franklin-Bai und entdeckte gegenüber der Mündung des Coppermine ein Land, das vom Continent durch einen kaum zwanzig Meilen breiten Kanal getrennt ist, und dem er den Namen Wollaston beilegte.[462]

Am 7. August kehrten die Boote, nachdem sie bis zu der, schon bei einer früheren Reise untersuchten Krönungs-Bai gelangt, wieder um und trafen, ohne irgend welchen Unfall erlitten zu haben, am 1. September bei Fort Franklin ein.

Beschäftigt mit der Schilderung der Parry'schen Fahrten, mußten wir einstweilen diejenigen beiseite lassen, welche zu derselben Zeit John Roß unternahm, dem seine sonderbare Untersuchung der Bassins-Bai in den Augen der Admiralität allen Credit geraubt hatte.

John Roß nun wünschte lebhaft, sein früheres Ansehen als muthiger und erfahrener Seemann wieder zu gewinnen. Entzog ihm auch die Regierung ihr Vertrauen, so fand er solches doch bei Felix Booth, einem reichen Rheder, welcher ihm ein Dampfschiff, die »Victory«, anvertraute, mit dem er am 25. Mai 1829 nach der Baffins-Bai abfuhr.

Vier Jahre lang blieb man ohne Nachrichten von dem verwegenen Seemanne, bei der endlichen Heimkehr zeigte es sich aber, daß seine Ernte an Entdeckungen der von Parry's erster Fahrt wenigstens gleichkam.

Durch die Barrow-Straße und den Lancaster-Sund in den Prinz Regents-Kanal eindringend, fand John Roß die Stelle wieder auf, wo die »Fury« vier Jahre vorher zurückgelassen worden war. Weiter nach Norden vordringend, überwinterte Roß im Felix-Hafen – so genannt zu Ehren des Patrons der Expedition – und erfuhr hier, daß das von ihm gefundene Land eine große, im Süden mit Amerika zusammenhängende Halbinsel bilde.

Im April 1830 fuhr James Roß, der Neffe des Führers der Expedition, mit Booten aus, um die Küsten desselben, sowie die des König Wilhelms-Landes aufzunehmen.

Im November mußte man sich zu einer zweiten Ueberwinterung entschließen, da es nicht möglich gewesen war, das Schiff mehr als einige Meilen weiter nach Norden zu führen; deshalb wurde der Sheriff-Hafen als Lagerplatz erwählt. Die Kälte erreichte ganz außerordentliche Grade, und von allen Wintern, welche die Besatzung der »Victory« im Polareise verlebte, war dieser der strengste.

Den Sommer 1831 widmete man verschiedenen Untersuchungen, welche den Beweis lieferten, daß zwischen den beiden Meeren keine Verbindung bestehe. Auch diesmal glückte es nur, mit dem Schiffe wenige Meilen nach Norden, bis zum Hafen Decouverte, zu dampfen. In Folge eines zweiten, sehr strengen Winters mußte man dasselbe aber hier im Eise verlassen.[463]

Sehr froh, noch Vorräthe von der »Fury« gefunden zu haben, ohne welche sie Hungers gestorben wären, erwarteten die Engländer unter täglich zunehmender Ermattung und unglaublichen Leiden und Entbehrungen die Wiederkehr des Sommers.

Im Juli 1833 wurden die Winterquartiere endgiltig verlassen; man zog zu Lande den Prinz Regent-Kanal, ferner die Barrow-Straße entlang, womit die Nachbarschaft der Bassins-Bai erreicht wurde, als ein Schiff in Sicht kam. Es war die »Isabelle«, welche Roß einst selbst befehligt hatte und auf der die Schiffbrüchigen von der »Victory« Aufnahme fanden.

England hatte während dieser Zeit seine Kinder niemals vergessen und jedes Jahr eine Expedition zu deren Aufsuchung ausgesendet. Im Jahre 1833 führte eine solche Georges Back, der Gefährte Franklin's. Dieser drang vom Fort Revolution am Ufer des Sklaven-Sees nach Norden vor, bezog, nachdem er den Thloni Tcho Deseth-Fluß entdeckt, Winterquartiere und traf Anstalt, im folgenden Jahre bis zum Polarmeere weiter zu ziehen, wo man Roß vom Eise zurückgehalten glaubte, als er von dessen unvermutheter Heimkehr Nachricht erhielt.

Im nächsten Jahre unterwarf derselbe Reisende den schönen, von ihm schon früher entdeckten Fisch-Fluß einer gründlichen Untersuchung und bekam die Königin Adelaide-Berge, sowie die Booth- und James Roß-Caps zu Gesicht.

Im Jahre 1836 stand er an der Spitze einer neuen Expedition, welche diesmal zu Wasser ausgeführt wurde, und suchte vergeblich, die Entdeckungen Roß' und Franklin's mit einander zu verknüpfen.


Thomas Simpson entdeckt das Victoria-Land.
Thomas Simpson entdeckt das Victoria-Land.

Die Durchführung dieses Unternehmens sollte drei Officieren der Hudsons-Bai-Compagnie, Peter William, Dease und Thomas Simpson, vorbehalten bleiben. Diese brachen am 1. Juni 1837 vom Fort Chippewayan auf, fuhren den Mackenzie-Fluß hinab und erreichten am 9. Juli das Gestade des Meeres, auf dem sie bis 71°3' der Breite bei 156°46' westlicher Länge bis zu einem Cap vordringen konnten, welches den Namen Georges Simpson's, des Gouverneurs der Compagnie, erhielt.

Thomas Simpson zog von hier aus mit fünf Mann in westlicher Richtung zu Lande weiter bis zur Barrow-Spitze, welche schon einer der Officiere Beechey's, von der Behrings-Straße herkommend, gesehen hatte.

Die Besichtigung und Aufnahme der Küste Amerikas von Cap Turn Again bis zur Behrings-Straße war hiermit vollendet, es blieb keine unbekannte Gegend mehr übrig, als die Strecke zwischen der Ogle-Spitze und dem Cap Turn Again; diese sollte das Ziel der Forscher bei der nächsten Reise bilden.[464]

Im Jahre 1838 vom Coppermine ausgehend, folgten sie der Küste nach Osten und erreichten am 9. August das Cap Turn Again; da das Eis aber das weitere Vordringen der Boote nicht gestattete, so überwinterte Thomas Simpson, entdeckte Victoria-Land und setzte, am 12. August 1839 am Back-Flusse angelangt, bis zum Ende des Monats die Untersuchung von Boothia Felix fort. Die Linie der Küste des Continents war hiermit überall festgestellt, doch mit[465] welchen Mühen und Anstrengungen, mit wie vielen Opfern und doch mit welcher Opferfreudigkeit! Wie wenig fällt das Leben des Menschen in's Gewicht, wenn es sich um den Fortschritt der Wissenschaft handelt! Aber welcher Uneigennützigkeit, welchen Eifers bedarf es von Gelehrten, Seeleuten und Forschern, die Alles, was wir sonst das Glück des Erdenlebens nennen, freudig aufgeben, um je nach ihren Kräften zur Erweiterung der menschlichen Kenntnisse, zur Förderung aller humanen Ziele beizutragen!

Mit der Schilderung dieser letzten Reisen, durch welche die Entdeckung der Erde vollendet wurde, schließt dieses Werk, das mit der Erzählung der Unternehmungen der ersten Forschungsreisenden begann.

Die Gestalt und Bildung der Erde ist nun bekannt, die eigentliche Aufgabe der Entdecker erfüllt. Die Erde, soweit sie der Mensch bewohnt, ist ihm vertraut geworden. Es erübrigt ihm nichts mehr, als die Ausnützung der unerschöpflichen Hilfsquellen der Gebiete, zu denen er jetzt leichten Zugang hat.

Wie reich an Lehren aller Art ist diese Geschichte der Entdeckungen zweier Jahrtausende!

Wir wollen nur einen Blick zurückwerfen und in flüchtigen Strichen die während dieser langen Zeitfolge errungenen Fortschritte skizziren.

Wenn wir die Weltkarte des Hekatäos, der fünfhundert Jahre vor der christlichen Zeitrechnung lebte, zur Hand nehmen, was zeigt uns wohl diese?

Die bekannte Erde umfaßt kaum das Becken des Mittelmeeres. Ihre der Form nach sehr falsch wiedergegebene Landmasse besteht aus dem kleinsten Theile Europas, aus Vorderasien und dem nördlichen Afrika. Rings um dieselbe fließt ein Strom ohne Anfang und ohne Ende, der den Namen Ocean führt.

Stellen wir nun neben diese Karte, neben dieses ehrwürdige Denkmal der Wissenschaft des Alterthums, eine Planisphäre der Erde aus dem Jahre 1840. Jetzt erscheint das Gebiet, welches Hekatäos nur sehr unvollkommen kannte, als ein verschwindendes Fleckchen auf dem großen Erdenrund.

Jener Anfangs- und dieser Endpunkt gestattet uns ein Urtheil über den Umfang der Entdeckungen.

Vergegenwärtigt man sich nur, welche Unmenge von Arbeit und Studien die Erkenntniß der ganzen Erdkugel nothwendig machte, so steht man voller Verwunderung vor dem Resultate der Bemühungen so vieler Forscher, so[466] zahlreicher Märtyrer; man erkennt den hohen Nutzen jener Entdeckungen und die engen Beziehungen, welche die Geographie mit allen anderen Wissenschaften verknüpfen. Das ist der rechte Gesichtspunkt, auf den man sich stellen muß, um die ganze Tragweite eines Werkes, dem sich so viele Generationen widmeten, vollständig zu begreifen. Freilich sind es sehr verschiedene Motive, welche zu diesen Entdeckungen den Anstoß gaben.

Zuerst begegnen wir hier der naturgemäßen Neugierde des Eigenthümers, der danach strebt, den ganzen Umfang des von ihm besessenen Gebietes kennen zu lernen, die bewohnbaren Theile desselben zu vermessen, die Grenzen der Meere zu bestimmen; darauf treten die Anforderungen eines noch in der Kindheit befindlichen Handels in den Vordergrund, eines Handels, der nichtsdestoweniger schon die Erzeugnisse der asiatischen Industrie bis nach Norwegen überführte.

Mit Herodot tauchen höhere Ziele auf; jetzt macht sich das Verlangen geltend, die Geschichten, Sitten und Religionen fremder Völker kennen zu lernen. Später, zur Zeit der Kreuzzüge, deren unzweifelhaftestes Resultat die Anregung zu orientalischen Studien ist, treibt nur eine Minderzahl der Wunsch, den Schauplatz der Leidensgeschichte eines Gottes den Händen der Ungläubigen zu entreißen; für die Meisten bildet die rohe Plünderungssucht und der Reiz des Unbekannten die Triebfeder.

Wenn Columbus einen neuen Weg aufsucht, um nach den Gewürzländern zu gelangen und dabei Amerika findet, so treibt seine Nachfolger nur das Verlangen, schnell Schätze zu erwerben. Wie unvortheilhaft stechen diese gegen die edlen Portugiesen ab, welche die eigenen Interessen dem Ruhme und der kolonialen Machtentfaltung ihres Vaterlandes opfern und ärmer sterben, als sie es in dem Augenblicke der Uebernahme jener Aufträge waren, die sie so ehrenhaft ausführen sollten.

Im 16. Jahrhundert treibt das Bestreben, sich den religiösen Verfolgungen und den damals wüthenden Bürgerkriegen zu entziehen, die Hugenotten und vorzüglich jene Quäker nach der Neuen Welt, welche, durch Begründung der dortigen englischen Kolonialmacht, Amerika gänzlich umgestalteten.

Das nächstfolgende Jahrhundert befördert vor allem Anderen die Kolonisation. In Amerika errichten die Franzosen, in Indien die Engländer, in Oceanien die Holländer Comptoirs und Kaufläden, während Missionäre sich bemühen, das zur Unbeweglichkeit erstarrte Reich der Mitte für den christlichen Glauben und zeitgemäßere Weltanschauungen zu gewinnen.[467]

Das 18. Jahrhundert, welches für das unserige die Wege ebnet, berichtigt lange Zeit geglaubte Irrthümer; es nimmt einzeln und genau Continente und Archipele auf, verbessert und vervollständigt die Entdeckungen seiner Vorgänger. Derselben Aufgabe widmen sich noch die Forscher der neuesten Zeit, welche danach trachten, auch den kleinsten Erdwinkel, das unscheinbarste Eiland nicht unbeachtet zu lassen. Demselben Ziele streben auch die unerschrockenen Seefahrer nach, welche die Eiswüsten der beiden Pole erforschen und das letzte Stück Schleier zerreißen, das einen Theil der Erdkugel unseren Blicken so lange Zeit verhüllte.

Jetzt also ist Alles bekannt, classificirt, katalogisirt und bezeichnet! Sollen die Ergebnisse so ehrenvoller Arbeit aber etwa in einem sorgfältig hergestellten Atlas vergraben werden, wo sie nur die Gelehrten von Fach aufsuchen? Nein! An uns ist es, die von unseren Vätern um den Preis so unendlicher Mühen und Gefahren eroberte Erdkugel nun auszunützen, ihr erst den vollen Werth zu geben. Die Erbschaft ist zu verlockend, um nicht mit frohen Händen zuzugreifen!

An uns ist es, mit allen durch die vorgeschrittenen Wissenschaften gebotenen Hilfsmitteln zu studiren, urbar zu machen und auszunützen! Jetzt darf es keine brachliegenden Gebiete, keine undurchdringlichen Wüsten, keine unbenützten Flüsse keine unergründlichen Meere, keine unersteigbaren Höhen mehr geben!

Wir überwinden alle Hindernisse, welche die Natur noch bietet. Die Landengen von Suez und Panama sperren uns die Wege: wir durchschneiden sie. Die Sahara erschwert den Verkehr zwischen Algier und dem Senegal: wir legen eine Eisenbahn durch dieselbe. Der Kanal zwischen England und Frankreich hindert zwei befreundete Völker, sich die Hand zu drücken: wir treiben einen Schienenweg unter demselben hin!

Das ist unsere und unserer Zeitgenossen schöne Aufgabe. Ist sie denn weniger werthvoll als die unserer Vorgänger, daß sich noch keine anerkannte Feder derselben bemächtigt hat? Für uns liegt dieses Feld, so anziehend dessen Bearbeitung auch unzweifelhaft ist, zu weit außerhalb des vorherbegrenzten Rahmens dieses Werkes. Wir wollten eine »Geschichte der Entdeckung der Erde« schreiben – dies ist geschehen, unsere Aufgabe ist erfüllt, und die Ueberwindung so vieler Hindernisse, welche die Natur dem Fortschritte des geographischen Wissens entgegenstellt, das ist


»Der Triumph des 19. Jahrhunderts.«[468]

Quelle:
Jules Verne: Der Triumph des 19. Jahrhunderts. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXVII– XXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1882, S. 442-469.
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