Siebentes Capitel.
Eine Triangelbasis.

[51] Die geodätische Operation, welche die Commission vorzunehmen beabsichtigte, bestand in einer Triangulation zum Zwecke der Messung eines Meridianbogens. Nun würde die Ausmessung eines oder mehrerer Grade direct, vermittelst[51] metallener Lineale oder Richtscheite, die man eins ums andere legt, in Hinsicht auf mathematische Genauigkeit eine gänzlich unausführbare. Zudem würde auf keinem Punkte der Erde irgend ein Terrain auf eine Strecke von mehreren hundert Meilen hinreichend eben sein, um zur Ausführung einer so mißlichen Operation dienlich sein zu können. Glücklicherweise kann man auf strengere Art zu Werke gehen, indem man das ganze Terrain, welches die Meridianlinie durchschneiden soll, in eine gewisse Anzahl »Luftdreiecke« theilt, deren Bestimmung verhältnißmäßig nur wenig schwer ist. Diese Dreiecke erhält man, indem man mittels genauer Instrumente, wie des Theodolits oder der Winkelmeßscheibe, auf künstliche oder natürliche Signale, wie Glockenthürme, Reverberen, Signalstangen visirt. Bei jedem Signal endigt ein Dreieck, dessen Winkel durch die obengenannten Instrumente mit mathematischer Genauigkeit bestimmt werden. In der That kann irgend ein Gegenstand – ein Glockenthurm am Tage, eine Reverbere des Nachts – mit vollkommener Genauigkeit von einem Manne mit scharfem, geübtem Blick aufgenommen werden, der vermittelst eines Fernglases, dessen Feld in ein Fadennetz getheilt ist, nach demselben visirt. So erhält man Dreiecke, deren Seiten oft mehrere Tausend Meilen lang sind. Auf diese Weise hat Arago die Küste von Valencia in Spanien bis an die Baleareninseln durch ein ungeheures Dreieck vereinigt, dessen eine Seite 82,550 Toisen lang ist.

Nun kennt man nach einem geometrischen Grundsatze ein Dreieck vollständig, wenn man eine Seite und zwei Winkel desselben kennt, denn man kann dann sofort auf die Größe des dritten Winkels und die Länge der beiden andern Seiten schließen. Wenn man also zur Basis eines neuen Dreiecks eine Seite eines schon gebildeten Dreiecks nimmt, indem man die zusammenstoßenden Winkel an dieser Basis mißt, kann man auf diese Weise neue Dreiecke bilden, welche aufeinanderfolgend bis zur Grenze des zu messenden Bogens geführt werden.

Durch diese Methode erhält man so die Längen aller geraden Linien, die im Netz der Dreiecke inbegriffen sind; und durch eine Reihe trigonometrischer Berechnungen kann man leicht die Größe des Meridianbogens bestimmen, welcher das Netz zwischen den beiden Endpunkten durchschneidet. Es ist soeben gesagt worden, daß ein Dreieck ganz erkannt ist, wenn man eine der Seiten und zwei seiner Winkel kennt. Nun kann man die Winkel genau vermittelst der Winkelmeßscheibe oder des Theodolits erhalten; doch muß man[52] die erste Seite, die Basis des ganzen Systems, zuerst »direct auf dem Boden messen«, und zwar mit außerordentlicher Genauigkeit; und dies ist die mißlichste Arbeit der ganzen Dreieckmessung.

Als Delambre und Méchain den Meridian Frankreichs von Dünkirchen bis Barcelona maßen, nahmen sie als Basis ihrer Triangulation eine Linie in gerader Richtung auf dem Wege von Melun nach Lieusaint im Departement Seine und Marne. Diese Basis hatte 12,150 Meter, und man brauchte zu ihrer Messung nicht weniger als fünfundvierzig Tage. Welche Mittel diese Gelehrten anwendeten, um eine mathematische Genauigkeit zu erhalten, wird die Operation der Herren Everest und Mathieu Strux lehren, welche in derselben Weise verfuhren, wie jene zwei französischen Astronomen. Man wird sehen, bis zu welchem Höhepunkt die Genauigkeit gehen sollte.

Am 5. März begannen die ersten geodätischen Arbeiten, zum großen Erstaunen der Buschmänner, welche nichts davon verstanden. Die Erde mit sechs Fuß langen, eins an das andere gelegten Linealen zu messen, kam dem Jäger wie ein Gelehrtenspaß vor. Jeden falls hatte er seine Schuldigkeit gethan. Man hatte von ihm eine völlig ebene Fläche verlangt, und er hatte sie geliefert.

Die Stelle war in der That für die directe Messung einer Basis ausgewählt. Die mit kurzem, trockenem Rasen bedeckte Ebene erstreckte sich vollständig wagerecht, bis an die äußersten Grenzen des Horizonts. Sicherlich war man bei der Messung auf der Straße nach Melun nicht so begünstigt gewesen. In ihrem Rücken zog sich eine wellenförmige Hügelkette hin, welche die äußerste Südgrenze der Wüste Kalahari bildete. Im Norden ein unbegrenzter Raum. Nach Osten zu verlief die Abdachung des Plateaus von Lattaku in sanftem Falle.

Westwärts wurde die Ebene noch niedriger, sumpfig und mit stagnirendem Wasser getränkt, woraus die Nebenflüßchen des Korana ihr Wasser zogen.

»Ich denke, Herr Oberst, sagte Mathieu Strux, nachdem er diese Grasfläche in Augenschein genommen, wir können, sobald wir unsere Basis gelegt haben, hier auch den Endpunkt des Meridians festsetzen.

– Ich muß Ihrer Ansicht beistimmen, Herr Strux, antwortete der Oberst[53] Everest, sobald wir die Länge dieses Punktes genau gefunden haben. Man muß bei Uebertragung desselben auf die Karte erst untersuchen, ob nicht dieser Meridianbogen, wenn er weiter verfolgt wird, auf unübersteigliche Hindernisse stößt, welche die geodätische Operation aufhalten könnten.

– Ich glaub' es nicht, antwortete der russische Astronom.

– Wir werden es ja sehen, erwiderte der englische Astronom. Wir wollen für's Erste die Basis an dieser Stelle messen, weil sie sich für die Operation eignet, und dann werden wir entscheiden, ob es gut sein wird, sie durch eine Reihe von Hilfsdreiecken mit dem Dreiecknetz, welches der Meridianbogen durchschneiden soll, zu verbinden.«

Nachdem man darüber einig geworden, beschloß man, ohne Verzug die Messung der Basis vorzunehmen.

Die Ausführung mußte lange währen, da die Mitglieder der Commission mit strengster Genauigkeit zu Werke gehen wollten. Es handelte sich darum, die in Frankreich auf der Basis von Melun gemachten geodätischen Messungen an Genauigkeit zu übertreffen, Messungen, die indeß so vollkommen waren, daß eine neue, späterhin bei Perpignan am Südende der Triangulation gemessene Basis, die zur Bewährung der bei allen Dreiecken erforderlichen Berechnungen dienen sollte, auf einer Entfernung von 330,000 Toisen nur eine Differenz von 11 Zoll zwischen der directen Messung und der nur berechneten nachwies.

Es wurde also Befehl zum Aufschlagen des Lagers gegeben und eine Art Buschmannsdorf, ein Kraal, auf der Ebene improvisirt. Die Wagen wurden wie wirkliche Häuser aufgestellt, und das Dorf in ein englisches und ein russisches Viertel getheilt, über welchen die Nationalfarben flaggten. In der Mitte befand sich ein gemeinsamer Platz. Jenseits der kreisrunden Wagenlinie weideten die Pferde und Büffel unter Aufsicht ihrer Hüter, und während der Nacht ließ man sie in die von den Wagen gebildete Umzäunung hinein, um sie vor der Raubgier wilder Thiere zu schützen, welche im Innern Süd-Afrikas überall vorhanden sind. Mokum übernahm es, Jagden zur Verproviantirung des Dorfes anzustellen; und Sir John Murray, dessen Gegenwart bei der Messung nicht unumgänglich nöthig war, beschäftigte sich speciell mit der Beschaffung der Lebensmittel. Es kam in der That darauf an, die getrockneten Fleischvorräthe aufzuheben und der Karawane täglich frisches Wildpret zu liefern. Dank der Geschicklichkeit Mokum's, seiner beständigen[54] Thätigkeit und der Gewandtheit seiner Gefährten, fehlte es nie an Wildpret. Die Ebenen und Hügel wurden im Umkreis mehrerer Meilen durchstreift, und hallten jederzeit von den Schüssen der Europäer wieder.

Am 6. März begannen die geodätischen Operationen. Die beiden jüngsten Gelehrten der Commission wurden mit den Vorarbeiten betraut.

»Vorwärts, lieber Kamerad, sagte Michael Zorn freudig zu William Emery, und der Gott der Genauigkeit stehe uns bei.«

Die erste Verrichtung bestand darin, auf dem flachsten und ebensten Theil des Terrains in gerader Richtung eine Linie abzustecken. Die Beschaffenheit des Bodens gab die Richtung von Südosten nach Nordwesten an.

Die Geradlinigkeit wurde vermittelst Pfählen und Flaggenstangen, die in kurzer Entfernung von einander aufgesteckt wurden, erreicht. Michael Zorn, dessen Fernrohr mit einem Netz versehen war, untersuchte die Stellung der Pfähle und erkannte sie als genau an, wenn der senkrechte Netzfaden alle ihre im Brennpunkt geworfenen Bilder in zwei gleiche Hälften theilte.

Diese gerade Linie wurde so ungefähr fünf Meilen weit fortgeführt, die muthmaßliche Länge, welche die Astronomen ihrer Basis zu geben dachten.

Jeder Pfahl war an seiner Spitze mit einem Nivellirinstrument versehen worden, welches die Legung der metallenen Lineale erleichtern sollte. Diese Arbeit erforderte einige Tage, um gut zu Ende geführt zu werden. Die beiden jungen Leute führten sie mit gewissenhaftester Genauigkeit aus.

Es handelte sich nun darum, die zur Messung der Basis des ersten Dreiecks bestimmten Lineale an ein ander zu legen, eine Verrichtung, welche sehr einfach scheinen kann, aber im Gegentheil unendliche Vorsicht erfordert, und von welcher zum großen Theil der Erfolg einer Dreieckmessung abhängt.

Folgendes waren die zur Legung der gedachten Lineale getroffenen Anordnungen, deren Beschreibung selber weiter unten erfolgt.

Am Morgen des 10. März wurden längs der geraden Linie, die man schon abgesteckt hatte, hölzerne Sockel aufgestellt. Diese Sockel, zwölf an Zahl, ruhten mit ihrem unteren Theil auf drei, einige Zoll langen, eisernen Schrauben, welche sie am Rutschen hinderten und in einer unbeweglichen Lage fest hielten.

Auf diese Sockel vertheilte man kleine, gut angepaßte Stückchen Holz, welche den Richtscheiten als Unterlage und zu einer Art Fassung dienen sollten. Diese Fassung gab ihnen die Richtung, ohne ihre Ausdehnung zu[55] hindern, welche je nach der Temperatur veränderlich sein und bei der Operation in Anschlag gebracht werden mußte.

Als die zwölf Sockel befestigt und mit Holzstückchen belegt waren, besorgten der Oberst Everest und Mathieu Strux die schwierige Legung der Richtscheite, eine Verrichtung, woran die beiden jungen Leute Theil nahmen. Nicolaus Palander dagegen war mit dem Bleistift in der Hand bereit, die Ziffern, welche man ihm mittheilen würde, in ein doppeltes Register einzutragen.

Die angewandten Richtscheite waren sechs an Zahl; sie hatten eine im Voraus mit absoluter Genauigkeit bestimmte Länge. Man hatte sie mit dem alten französischen Toisenmaß, welches bei geodätischen Messungen allgemein angenommen ist, verglichen.

Diese Richtscheite waren also zwei Toisen lang, sechs Linien breit und eine Linie dick. Das zu ihrer Fabrikation angewendete Metall war Platina, ein in der Luft unter gewöhnlichen Umständen unveränderliches, weder in der Kälte, noch in der Wärme oxydirbares Metall. Doch mußten diese Platina-Richtscheite, unter Einwirkung der veränderlichen Temperatur einer Ausdehnung oder Zusammenziehung unterliegen, welche zu berücksichtigen war. Man hatte deshalb ausgedacht, jedes derselben mit einem eigenen Thermometer zu versehen, einem Metall-Thermometer, das sich auf die den Metallen eigenthümliche Eigenschaft, unter dem Einfluß der Wärme eine Veränderung zu erleiden, gründete. Deshalb wurde jedes der Richtscheite mit einem andern kupfernen, das ein wenig kürzer war, bedeckt. Ein am Ende des kupfernen Richtscheites angebrachter Nonius zeigte genau die relative Verlängerung des gedachten Richtscheites an, wodurch man in Stand gesetzt wurde, die absolute Ausdehnung des Platina in Abzug zu bringen. Außerdem waren die Veränderungen des Nonius derart berechnet, daß man jede noch so kleine Ausdehnung des Platina-Lineals in Anschlag bringen konnte. Man begreift also, mit welcher Genauigkeit man zu verfahren im Stande war. Dieser Nonius war zudem mit einem Mikroskop versehen, womit man ein Viertheil des hunderttausendsten Theils der Toise zu bestimmen fähig war.


Feststellung der Grundlinie. (S. 57.)
Feststellung der Grundlinie. (S. 57.)

Die Richtscheite wurden also auf die Holzstücke gelegt, eins am Ende des andern, doch ohne sich zu berühren, denn man mußte auch den leichtesten Zusammenstoß, der durch eine unmittelbare Berührung erfolgen konnte, vermeiden. Der Oberst Everest und Mathieu Strux legten auf der geraden[56] Linie der Basis selbst das erste Richtscheit auf das Holzstück. Einhundert Toisen ungefähr davon entfernt, hatte man oberhalb des ersten Pfahls einen Zielpunkt gesteckt, und da die Richtscheite mit zwei senkrechten, unmittelbar auf der Achse eingelassenen eisernen Spitzen versehen waren, konnte man sie leicht in der gewünschten Richtung legen.

In der That untersuchten William Emery und Michael Zorn, die sich hinterwärts auf den Boden gelegt hatten, ob die beiden Eisenspitzen genau[57] auf die Mitte des Zielpunktes trafen. Dadurch war man der genauen Richtung des Richtscheites versichert.

»Jetzt, sagte der Oberst Everest, müssen wir genau den Ausgangspunkt unserer Operation bestimmen, indem wir das Senkblei dicht an das Ende des ersten Richtscheites halten. Kein Berg wird auf dieses Bleiloth eine merkbare Wirkung1 ausüben, so daß es das Ende der Basis genau auf dem Boden angeben wird.

– Ja, antwortete Mathieu Strux, unter der Bedingung jedoch, daß wir die halbe Stärke der Schnur beim Berührungspunkt in Anschlag bringen.

– So meine ich es auch«, erwiderte der Oberst Everest.

Nachdem der Ausgangspunkt genau bestimmt war, setzte man die Arbeit fort. Doch genügte es nicht, das Richtscheit genau auf die gerade gerichtete Linie der Basis zu legen, man mußte noch seine Neigung in Beziehung auf den Horizont in Rechnung bringen.

»Ich denke, sagte der Oberst Everest, wir maßen uns nicht an, dieses Richtscheit in eine vollkommen horizontale Lage zu bringen?

– Nein, antwortete Mathieu Strux, es genügt, den Winkel, welchen jedes Richtscheit mit dem Horizont bilden wird, mit einem Nivellirinstrument aufzunehmen, und dadurch können wir die gemessene Länge auf die wirkliche Länge zurückführen.«

Da die beiden Gelehrten einig waren, schritt man zur Aufnahme vermittelst eines zu diesem Zweck eigens construirten Nivellirinstruments, welches aus einem Diopterlineal bestand, das sich um ein, an der Spitze eines hölzernen Winkelmaßes angebrachtes Charnier bewegte. Ein Nonius zeigte die Neigung an durch das Zusammenfallen seiner Abtheilungen von fünf zu fünf Minuten mit denen eines feststehenden Richtscheites, das über einen Bogen von zehn Graden gelegt war.

Das Nivellirinstrument wurde auf dem Richtscheit angebracht und das Resultat untersucht. In dem Augenblick, wo Nicolaus Palander dasselbe, nachdem es durch die beiden Gelehrten geprüft worden, in sein Register eintragen wollte, verlangte Mathieu Strux, daß das Instrument von einem[58] Ende zum andern umgekehrt werde, damit man den Unterschied der beiden Bogen herauslesen könne. Dieser Unterschied betrug damals das Doppelte der gesuchten Neigung, und man fand so die Probe der Arbeit. Von jetzt ab befolgte man bei allen derartigen Verrichtungen den Rath des russischen Astronomen.

In diesem Augenblick wurden zwei wichtige Punkte beobachtet: die Richtung des Richtscheites im Verhältniß zur Basis, und der Winkel, welchen es in Beziehung auf den Horizont bildete.

Die Zahlen, welche diese Beobachtung ergab, wurden in zwei verschiedene Register eingetragen und am Rande von den Mitgliedern der englisch-russischen Commission unterzeichnet.

Es blieben noch zwei nicht weniger wichtige Beobachtungen zu machen übrig, um die auf das erste Richtscheit bezügliche Arbeit zu beenden: erstens seine thermometrische Veränderung, dann die genaue Abschätzung der von ihm gemessenen Länge.

Die thermometrische Veränderung ergab sich leicht durch die Vergleichung mit dem Unterschied der Länge zwischen dem Platina- und dem Kupfer-Richtscheit. Das Mikroskop, das nacheinander von Mathieu Strux und dem Oberst Everest beobachtet wurde, ergab die absolute Ziffer der Veränderung des Platina-Richtscheites, und dieselbe wurde in das doppelte Register eingetragen, so daß sie später auf die Temperatur von sechzehn hunderttheiligen Graden zurückgeführt werden konnte. Als Nicolaus Palander die erhaltenen Zahlen eingetragen, wurden sie sofort von Allen mit einander verglichen.

Es handelte sich nun darum, die wirklich gemessene Länge zu notiren. Um diese zu erhalten, war es nöthig, das zweite Richtscheit nach dem ersten, in einem kleinen Zwischenraum davon, auf das Holzstück zu legen.

Dies geschah wie beim ersten, nachdem man genau festgestellt hatte, ob die vier Eisenspitzen mit der Mitte des Zielpunktes genau in gleiche Linie fielen.

Es blieb nun nur noch übrig, den zwischen den beiden Richtscheiten gelassenen Zwischenraum auszumessen. Am äußersten Ende, und in dem von dem Kupfer-Richtscheit nicht bedeckten Theil des ersten, befand sich ein kleines Platinazüngelchen, welches sich leicht an zwei Seitenwänden rieb. Der Oberst Everest stieß dieses Züngelchen so weit vor, daß es das zweite Richtscheit berührte.[59]

Da besagtes Zünglein in Zehntausendstel einer Toise getheilt war, und ein mit seinem Mikroskop versehener Nonius, der auf einer der Seitenwände an gebracht worden, Hunderttausendstel angab, so konnte man mit mathematischer Gewißheit den absichtlich gelassenen Zwischenraum der beiden Richtscheite veranschlagen. Die Zahl wurde alsbald in das doppelte Register eingetragen und verglichen.

Auf den Rath Michael Zorn's gebrauchte man noch eine Vorsicht, um eine noch strengere Abschätzung zu erhalten. Das Kupfer-Richtscheit bedeckte das Platina-Richtscheit. Es konnte doch vorkommen, daß das geschützte Platina sich langsamer unter den Sonnenstrahlen erwärmte, als das Kupfer. Um diesem Unterschied in der thermometrischen Veränderung vorzubeugen, bedeckte man die Richtscheite mit einem einige Zoll hohen, kleinen Dache derart, daß die verschiedenen Beobachtungen dadurch nicht gestört wurden. Nur wenn Morgens oder Abends die Sonnenstrahlen schräg unter das Dach bis auf die Richtscheite drangen, hing man an der Sonnenseite eine Leinwand vor, um die Strahlen abzuhalten.

Dies waren die Operationen, welche mit so viel Geduld und Pünktlichkeit während eines Monates ausgeführt wurden.

Als die vier Richtscheite der Reihe nach gelegt und vom vierfachen Standpunkt der Direction, Inclination, Dilatation und effectiven Länge für richtig erkannt worden, begann man die Arbeit auf's Neue, indem man mit derselben Regelmäßigkeit die Sockel, die Gestelle und das erste Richtscheit an das vierte übertrug. Diese Manoeuvres erforderten viel Zeit, trotz der Geschicklichkeit der Operateure. Sie maßen nicht mehr als zweihundertzwanzig bis zweihundertdreißig Klafter täglich und manchmal, wenn das Wetter ungünstig oder der Wind zu heftig war und die Unbeweglichkeit der Apparate stören konnte, stellte man die Operation ein.

Jeden Tag, wann der Abend kam, ungefähr drei Viertel-Stunden, ehe der Mangel an Licht das Lesen des Nonius unmöglich machte, gaben die Gelehrten ihre Arbeit auf und gebrauchten folgende Vorsichtsmaßregeln, um sie am folgenden Morgen wieder zu beginnen. Das Richtscheit Numero 1 wurde auf provisorische Manier aufgestellt, und auf dem Erdboden der Endpunkt desselben markirt.

An diesem Punkt machte man ein Loch, in welches man einen Pfahl steckte, auf dem eine Bleiplatte befestigt war. Man brachte darauf das[60] Richtscheit Numero 1 wieder in seine bestimmte Lage, nachdem man die Neigung, die thermometrische Veränderung und die Richtung beobachtet hatte; man notirte die vermessene Verlängerung durch das Richtscheit Numero 4; dann vermittelst einer bleiernen Tangente, die am äußersten Ende des Richtscheites Numero 1 befestigt war, machte man ein Zeichen auf der Platte am Pfahl. Auf diesem Punkt wurden zwei sich durchschneidende rechte Winkel, der eine auf den Seiten der Basis, der andere lothrecht, sorgfältig gezogen. Darauf, nachdem die Bleiplatte mit einem Holzdeckel zugedeckt worden, stopfte man das Loch wieder zu und grub den Pfahl bis zum nächsten Tage ein. Am folgenden Morgen wurde die Platte aufgedeckt, und das erste Richtscheit in dieselbe Lage gebracht wie am vorhergehenden Tage, vermittelst der Bleiwage, dessen Spitze genau auf den von den zwei Linien gezogenen Punkt treffen mußte.

Dies war die Reihenfolge der Operationen, welche während 38 Tagen auf dieser so günstig nivellirten Ebene ausgeführt wurden. Alle Zahlen wurden doppelt eingeschrieben, beglaubigt, verglichen und von allen Mitgliedern der Commission unterzeichnet.

Zwischen dem Oberst Everest und seinem russischen Collegen fanden wenig Discussionen statt. Einige im Nonius gelesene Ziffern, welche die Vierhunderttausendstel Toisen angaben, verursachten zuweilen einen Austausch herber Worte. Da jedoch die Majorität angerufen wurde, deren Meinung Gesetz war, mußten sie sich derselben fügen.

Eine einzige Frage führte zwischen den beiden Rivalen Antworten herbei, welche die Vermittelung Sir John Murray's nöthig machten. Es war die Frage, welche Länge man der Basis des ersten Dreiecks geben solle. Es stand fest, daß, je länger die Basis wäre, desto leichter der Winkel, welcher die Spitze des ersten Dreiecks bildet, zu messen sein würde, da er größer war. Der Oberst Everest schlug eine 6000 Toisen lange Basis vor, welche fast gleich groß war, als die auf dem Wege von Melun direct gemessene. Mathieu Strux wollte dies Maß auf 10,000 ausdehnen, da das Terrain sich dazu eignete.

In dieser Frage zeigte sich der Oberst Everest unbeugsam. Mathieu Strux schien ebenfalls entschlossen, nicht nachzugeben. Nachdem mehr oder weniger plausible Beweisgründe beigebracht waren, mischten sich persönliche Bezüglichkeiten ein, und es drohte in einem Augenblick die Nationalitätsfrage dabei[61] in's Spiel zu kommen. Es standen sich nicht mehr zwei Gelehrte, sondern ein Engländer und ein Russe gegenüber. Glücklicherweise wurde diese Debatte in Folge schlechten Wetters, das mehrere Tage dauerte, vertagt; die Gemüther beruhigten sich und es wurde durch Stimmenmehrheit entschieden, daß die Basis definitiv auf 8000 Toisen ungefähr festgesetzt werden solle, was die Differenz zur Hälfte theilte.

Kurz, die Operation ging gut und mit größter Genauigkeit von Statten. Was die mathematische Strenge betraf, sollte dieselbe später controlirt werden, indem man eine neue Basis am nördlichsten Ende des Meridians ausmaß.

In Summa ergab diese direct gemessene Basis als Resultat 8037 und 75 Hundertstel Toisen; und auf sie wollte man die Reihenfolge der Dreiecke stützen, deren Netz Süd-Afrika auf einer Strecke von mehreren Graden bedecken sollte.

Fußnoten

1 Die Nähe eines Berges kann wirklich durch seine Anziehungskraft eine Abweichung in der Richtung der Schnur veranlassen. So hat eben die Nähe der Alpen eine ziemlich erhebliche Differenz zwischen der gemessenen und der beobachteten Länge des Bogens zwischen Andrate und Mondovi verursacht.


Quelle:
Jules Verne: Abenteuer von drei Russen und drei Engländern in Südafrika. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band X, Wien, Pest, Leipzig 1876, S. 62.
Lizenz:

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Ledwina

Ledwina

Im Alter von 13 Jahren begann Annette von Droste-Hülshoff die Arbeit an dieser zarten, sinnlichen Novelle. Mit 28 legt sie sie zur Seite und lässt die Geschichte um Krankheit, Versehrung und Sterblichkeit unvollendet.

48 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon