Zehntes Capitel.
Der siebenunddreißigste Breitegrad.

[78] Acht Tage nach der Umschiffung des Cap Pilares fuhr der Duncan mit voller Dampfkraft in die Bai Talcahuano, eine prächtige Untiefe, zwölf Meilen lang und neun breit. Das Wetter war zum Bewundern. Vom November bis zum März ist in diesem Lande der Himmel völlig wolkenlos, und es herrscht unveränderlich Südwind längs dieser von der Andenkette geschützten Küsten. John Mangles war auf Edward Glenarvan's Befehl dicht an dem Chiloe-Archipel und den unzähligen Trümmern dieses amerikanischen Festlandes hingefahren. Irgend ein verlorenes Trümmerstück, ein von Menschenhand bearbeitetes Brett konnte den Duncan auf die Spur der Schiffbrüchigen leiten; aber man konnte nichts gewahren, die Yacht fuhr weiter und ankerte in dem Hafen Talcahuano, zweiundvierzig Tage, nachdem sie die nebeligen Gewässer des Clyde verlassen hatte.

Glenarvan ließ sogleich sein Boot in's Meer bringen und sich in Begleitung Paganel's neben der Umpfählung an's Land setzen. Der gelehrte Geograph wollte die Gelegenheit benutzen, sein so ernstlich studirtes Spanisch anzuwenden; aber zu seinem großen Erstaunen verstand man ihm kein Wort.

»Der Accent geht mir ab, sagte er.

– Gehen wir zur Zollstätte«, erwiderte Glenarvan.


10. Capitel

[78] Hier erfuhr er, mit Hilfe einiger englischen Worte, die er mit verständlichen Bewegungen begleitete, daß der britannische Consul zu Concepcion, nur eine Stunde entfernt, wohnte. Glenarvan bekam leicht zwei rasch laufende Pferde, und nicht lange, so fuhr er mit Paganel in die Mauern dieser großen Stadt ein, die dem unternehmenden Geiste Valdivia's, des tapferen Genossen Pizarro's, ihren Ursprung verdankt.

Wie war sie von ihrem früheren Glanz herabgesunken! Ost von den Eingeborenen geplündert, im Jahre 1819 in Brand gesteckt, verödet, voll Trümmer, ihre Mauern noch von den verheerenden Flammen geschwärzt, bereits von Talcahuano in Schatten gestellt, zählte sie kaum noch achttausend Seelen. Unter den trägen Füßen ihrer Bewohner verwandelten sich die Straßen in Wiesen. Kein Handel, keine Thätigkeit, Geschäfte unmöglich. Von jedem Balcon hörte man die Mandoline; schmachtende Gesänge durch die Jalousieen der Fenster; die alte Männerstadt war ein Dorf von Frauen und Kindern geworden.

Glenarvan zeigte wenig Verlangen, nach den Ursachen dieses Verfalls zu[79] forschen, obwohl Jakob Paganel es an seiner Stelle that; er begab sich zu J. R. Bentock, Esq., Ihrer britischen Majestät Consul:

Dieser Mann empfing ihn sehr freundlich, und übernahm es, als er die Geschichte des Kapitän Grant vernommen, an dem ganzen Küstenlande Nachforschungen anzustellen.

Die Frage, ob der Dreimaster Britannia unter dem 37. Breitegrad an der Küste von Chili oder Araucanien gescheitert sei, entschied sich verneinend. Ueber ein Ereigniß der Art war weder an den Consul, noch an einen seiner Collegen anderer Nationen ein Bericht gelangt. Glenarvan ließ sich nicht entmuthigen. Er begab sich wieder nach Talcahuano und sparte weder Mühe, noch Sorge, noch Geld, schickte Agenten an die Küsten. Vergeblich. Die genauesten, bei den Uferbewohnern angestellten Untersuchungen lieferten kein Ergebniß. Man mußte annehmen, daß von dem Schiffbruch der Britannia keine Spur geblieben sei.

Glenarvan setzte darauf seine Gefährten von der Erfolglosigkeit seiner Schritte in Kenntniß. Mary Grant und ihr Bruder konnten den Ausdruck ihres Schmerzes nicht zurückhalten. Es war am sechsten Tage nach Ankunft des Duncan zu Talcahuano. Seine Passagiere waren im Inneren des Hinterverdecks beisammen. Lady Helena tröstete, nicht durch Worte – was hätte sie auch sagen können? – sondern durch Zärtlichkeit die beiden Kinder des Kapitäns. Jakob Paganel hatte das Document wieder in die Hand genommen und betrachtete es mit tiefer Achtsamkeit, als wollte er ihm neue Geheimnisse entlocken. Seit einer Stunde war er in diese Prüfung versenkt, als Lord Glenarvan ihn anredete mit den Worten:

»Paganel! ich wende mich an Ihren Scharfsinn. Ist unsere Auslegung dieses Documents vielleicht irrig? Steht der Sinn dieser Worte nicht logisch fest?«

Paganel antwortete nicht; er sann nach.

»Irren wir vielleicht in Hinsicht des vermutheten Schauplatzes der Katastrophe? fuhr Glenarvan fort. Springt der Name Patagonien nicht von selbst in die Augen?«

Paganel schwieg fortwährend.

»Endlich, sagte Glenarvan, giebt nicht auch das Wort Indianer einen Grund dafür?

– Ganz richtig, erwiderte Mac Nabbs.


Tom Austin, Wilson und Mulrady. (S. 85).
Tom Austin, Wilson und Mulrady. (S. 85).

– Und ferner, ist's nicht klar, daß die Schiffbrüchi[80] gen, als sie diese Zeilen schrieben, sich gefaßt hielten, in Gefangenschaft der Indianer zu gerathen?

– Bleiben wir einmal bei diesem Punkt, lieber Lord, erwiderte endlich Paganel. Erkenne ich auch Ihre übrigen Folgerungen als richtig an, so scheint mir diese letztere wenigstens nicht ganz begründet.

– Was meinen Sie damit? fragte Lady Helena, während alle Blicke sich auf den Geographen wendeten.[81]

– Ich meine, versetzte Paganel mit Betonung dieser Worte, der Kapitän Grant sei jetzt Gefangener der Indianer, und führe an, daß das Document dieses nicht in Zweifel läßt.

– Sprechen Sie sich näher aus, mein Herr, sagte Miß Grant.

– Sehr leicht, liebe Mary; anstatt auf dem Document zu lesen: werden Gefangene sein, lesen wir, sind Gefangene, und alles wird klar.

– Aber das ist unmöglich, erwiderte Glenarvan.

– Unmöglich! Weshalb, fragte Paganel lächelnd.

– Weil die Flasche nur im Augenblick des Scheiterns konnte ausgeworfen werden. Die Bestimmung des Länge- und Breitegrades paßt nur für den Ort des Schiffbruches.

– Dafür sehe ich keinen Beweis, entgegnete Paganel lebhaft, und ich sehe nicht ab, weshalb die Schiffbrüchigen, nachdem sie von den Indianern in's Innere des Landes geschleppt worden, nicht sollten getrachtet haben, vermittelst dieser Flasche den Ort ihrer Gefangenschaft kund zu geben.

– Ganz einfach, lieber Paganel, weil, um eine Flasche in's Meer zu werfen, das Meer zur Stelle sein muß.

– Oder in dessen Ermangelung, erwiderte Paganel, Flüsse, welche in dasselbe abfließen!«

Staunendes Schweigen folgte auf diese unerwartete Antwort, die übrigens zulässig war. Paganel begriff aus dem Glanz, der aus Aller Augen strahlte, daß sich eine neue Hoffnung daran knüpfte. Lady Helena ergriff zuerst das Wort:

»Was für eine Idee! rief sie aus.

– Und was für eine gute, fügte naiv der Geograph hinzu.

– Und dann, was rathen Sie? ... fragte Glenarvan.

– Mein Rath geht dahin, man soll den siebenunddreißigsten Parallelkreis von da an, wo er die amerikanische Küste berührt, bis zum Atlantischen Meer verfolgen, ohne nur um einen halben Grad von demselben sich zu entfernen. Vielleicht finden wir auf dieser Linie eine Spur der Schiffbrüchigen.

– Schwache Aussicht! versetzte der Major.

– So schwach sie auch sein mag, fuhr Paganel fort, wir dürfen sie nicht unberücksichtigt lassen. Ein Blick auf die Karte kann uns zeigen, daß es da nicht an Strömen und Flüssen fehlt, welche die Flasche in's Meer führen konnten. Und schmachten da unsere Freunde irgendwo in Gefangenschaft und[82] hoffen auf Befreiung daraus, dürfen wir diese Hoffnung täuschen? Stimmen Sie nicht Alle mir bei, daß wir dafür Alles aufbieten müssen?«

Diese mit edler Begeisterung gesprochenen Worte verfehlten nicht, eine tiefe Rührung hervorzurufen. Alle standen auf und drückten ihm die Hand.

»Ja! Mein Vater ist da! rief Robert Grant, und seine Augen wollten die Karte verschlingen.

– Und wo er auch sein mag, fuhr Glenarvan fort, wir werden ihn aufzufinden wissen, lieber Junge! Wir wollen unverzüglich den von unserem Freunde Paganel vorgeschlagenen Weg einschlagen.

– Sehr wohl! sagte John Mangles, und dieser Querzug durch's amerikanische Festland wird keine Schwierigkeiten haben.

– Weder Schwierigkeiten noch Gefahren, versicherte Paganel. Schon Viele vor uns haben mit Glück diesen Ausflug gemacht. Uebrigens ist das Klima, unter gleichem Breitegrad, wie Spanien und Griechenland auf der anderen Halbkugel, vortrefflich.

– Herr Paganel, fragte darauf Lady Helena, Sie denken also, daß, wenn die Schiffbrüchigen in die Hände der Indianer gefallen sind, man ihres Lebens geschont hat?

– Ob ich das denke, Madame! Die Indianer sind durchaus keine Menschenfresser! Einer meiner Landsleute, Guinnard, ist drei Jahre lang bei den Indianern der Pampas in Gefangenschaft gewesen. Er hatte zu leiden, wurde sehr mißhandelt, hat aber endlich die Prüfung überwunden. Ein Europäer ist in jenen Gegenden ein nützliches Geschöpf; das wissen die Indianer zu schätzen, und sind für ihn besorgt, wie für ein werthvolles Hausthier.

– Nun, so ist nicht mehr zu zaudern, sagte Glenarvan, wir müssen unverzüglich abreisen. Welchen Weg sollen wir einschlagen?

– Einen leichten und angenehmen, erwiderte Paganel. Im Anfang etwas Gebirge, nachher ein sanfter Gebirgsabfall auf der Ostseite der Anden, und endlich eine Ebene mit Wiesen- und Sandflächen, ein wahrer Garten.

– Sehen wir auf die Karte, sagte der Major.

– Hier, mein lieber Mac Nabbs. Wir finden das Ende des siebenunddreißigsten Breitegrades an der Küste von Chili zwischen der Spitze Rumena und der Bai Carnero. Wir gehen an der Hauptstadt von Araucanien durch den Paß Antuco, indem wir den Vulkan südlich lassen, über die Cordilleren;[83] darauf kommen wir sanft abwärts über die weithin abfallenden Gebirgsabhänge, setzen über den Neuquem, den Colorado, und gelangen in die Pampas, zu dem Fluß Guamini, zur Sierra Tapalquen. Da sind schon die Grenzen des Gebietes von Buenos-Ayres. Wir betreten dieses, besteigen die Sierra Tandil und setzen unsere Nachforschungen fort bis zur Spitze Medano am atlantischen Gestade. Also, meine Freunde, es ist ein schnurgerader Weg. Wir legen ihn binnen dreißig Tagen zurück und kommen noch vor dem Duncan auf der Ostküste an, mindestens wenn ungünstiger Wind seine Fahrt aufhält.

– Also soll der Duncan, sagte John Mangles, zwischen Cap Corrientes und dem Cap Sanct-Antonio kreuzen?

– Richtig!

– Und aus welchen Personen soll der Zug bestehen, fragte Glenarvan.

– Aus sehr wenigen. Es handelt sich nur darum, die Lage des Kapitän Grant kennen zu lernen, nicht mit den Indianern Krieg zu führen. Ich glaube, daß Lord Glenarvan, unser natürliches Haupt, der Major, welcher seinen Platz nicht wird abtreten wollen, Ihr Diener Jakob Paganel ...

– Und ich! rief der junge Grant.

– Robert! Robert! sagte Mary.

– Und warum nicht, erwiderte Paganel. Reisen bilden die Jugend. Also wir vier und drei Matrosen des Duncan ...

– Wie, sagte John Mangles, Ew. Herrlichkeit nimmt mich nicht in Anspruch?

– Mein lieber John, erwiderte Glenarvan, was uns das Theuerste auf der Welt ist, bleibt an Bord. Unter wessen Obhut stehen diese Passagiere besser, als der des ergebenen Kapitäns?

– Also können wir Euch nicht begleiten? sagte Lady Helena, die Augen von Betrübniß umwölkt.

– Liebe Helena, erwiderte Glenarvan, unsere Reise geht ganz besonders rasch vor sich; unsere Trennung wird nicht lange dauern, und ...

– Ja, Lieber, ich begreife, entgegnete Lady Helena, geht nur, und habt Glück auf dem Weg!

– Uebrigens ist es gar nicht eine Reise zu nennen, sagte Paganel.

– Und wie denn? fragte Lady Helena.

– Ein Ausflug, nichts weiter.«[84]

Hiermit schloß die Unterredung. Die Vorbereitungen begannen noch denselben Tag. Man beschloß, den Zug geheim zu halten, um nicht die Indianer besorgt zu machen.

Der 14. October wurde zur Abreise festgesetzt. Alle Matrosen wollten theilnehmen, und Lord Glenarvan ließ das Loos entscheiden, um keinem der wackeren Leute wehe zu thun. Der Unterbefehlshaber Tom Austin, Wilson, ein kräftiger Bursche, und Mulrady, der es mit dem ersten Boxer zu London aufnahm, kamen dabei nicht zu kurz.

Am festgesetzten Tage war Alles bereit. Wetteifernd mit Glenarvan war John Mangles bedacht, zu gleicher Zeit abzufahren, um wo möglich noch vor seinem Herrn an der Ostküste anzulangen. Zur festgesetzten Stunde versammelten sich die Passagiere im gemeinschaftlichen Salon. Glenarvan, Paganel, Mac Nabbs, Robert Grant, Tom Austin, Wilson, Mulrady, mit Carabinern und Revolvern bewaffnet, machten sich fertig, das Schiff zu verlassen. Führer und Maulthiere erwarteten sie am Strande.

»Nun ist es Zeit, sagte endlich Lord Glenarvan.

– Nun so fahrt mit Gott«, erwiderte Lady Helena, ihre Bewegung unterdrückend.

Lord Glenarvan drückte sie an sein Herz, und Robert umarmte Mary Grant.

»Und nun, liebe Gefährten, sagte Jakob Paganel, einen letzten Handschlag.«

Man begab sich wieder auf's Verdeck, die Reisenden verließen den Duncan, und als sie am Quai waren, näherte sich die Yacht auf halbe Kabellänge.

Lady Helena rief zum letzten Mal: »Mit Gott, meine Freunde!

– Und er wird unser Beistand sein, Madame, erwiderte Paganel, denn, glauben Sie doch, wir werden uns selbst nicht im Stiche lassen!

– Vorwärts! rief John Mangles seinem Maschinisten zu.

– Marsch!« sagte Lord Glenarvan.

Und zu derselben Zeit, als die Reisenden längs dem Ufer abritten, stach der Duncan mit voller Dampfkraft in See.[85]

Quelle:
Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XI–XIII, Wien, Pest, Leipzig 1876, S. 78-86.
Lizenz:

Buchempfehlung

Platen, August von

Gedichte. Ausgabe 1834

Gedichte. Ausgabe 1834

Die letzte zu Lebzeiten des Autors, der 1835 starb, erschienene Lyriksammlung.

242 Seiten, 12.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon