Viertes Capitel.
Die Klippen.

[531] Diese schwierige Ueberfahrt verlängerte sich jedoch. Am 2. Februar, sechs Tage nach seiner Abfahrt, hatte der Macquarie noch immer nicht das Gestade von Auckland in Sicht. Der Wind war zwar gut und blies beständig aus Süd-West, aber die Strömungen waren ihm hinderlich und die Brigg kam deshalb nur langsam vorwärts. Das unruhig und stürmisch wogende Meer überfluthete sein Verdeck, sein ganzer Bau krachte und kaum erhob es sich aus[531] der Tiefe der Sturzwellen. Das eingezogene Takelwerk ließ den Masten freies Spiel, so daß sie bei jeder schwankenden Bewegung erschüttert wurden.

Glücklicherweise setzte Will Halley, saumselig wie er war, nicht alle Segel bei, denn das ganze Mastwerk wäre unvermeidlich zertrümmert worden. John Mangles hoffte wohl, daß dieses elende Fahrzeug, wenn auch einem Wrack ähnlich, doch den Hafen ohne jeden weiteren Unfall erreichen werde, indeß es schmerzte ihn, seine Gefährten an Bord dieser Brigg so schlecht untergebracht zu sehen.

Weder Lady Helena noch Mary Grant beklagten sich, obwohl ein beständiger Regen sie nöthigte, in dem Zwischendeck zu bleiben. Dort waren ihnen besonders der Mangel an Luft und die Stöße des Schiffes lästig. Und deshalb kamen sie oft auf das Deck, kühn der Ungunst des Wetters trotzend, bis unerträgliche Windstöße sie zwangen, wieder hinabzusteigen. Dann zogen sie sich in den engen Raum zurück, der viel mehr geeignet war, Waaren zu beherbergen, als Passagiere, und besonders weibliche.

Ihre Freunde suchten sie wohl zu zerstreuen. Paganel gab sich Mühe, die Zeit mit seinen Geschichten zu vertreiben, aber es wollte ihm nur wenig glücken. Die auf dieser Rückfahrt ohnedies erschütterten Gemüther waren vollständig entmuthigt. So sehr früher seine geographischen Beschreibungen der Pampas oder Australiens interessirten, so gleichgiltig und kühl ließen jetzt seine Bemerkungen und Gedanken über Neu-Seeland. Uebrigens fühlte man nach diesem neuen Lande traurigen Angedenkens keinen besonderen Zug; ohne Ueberzeugung, nicht freiwillig, fügte man sich dem Drang der Verhängnisse.

Von allen Passagieren des Macquarie war Lord Glenarvan am meisten zu beklagen. Man sah ihn selten in dem Zwischendecke; er konnte sich nicht lange ruhig verhalten. Seine nervöse, überreizte Natur konnte sich nicht an eine Einkerkerung zwischen vier engen Wänden gewöhnen. Am Tage, ja selbst in der Nacht, blieb er auf dem Verdeck, unbekümmert um den strömenden Regen und die Sturzwellen, bald mit den Ellenbogen an die Schutzwehr gelehnt, bald mit einer fieberhaften Heftigkeit auf- und abschreitend. Seine Augen schweiften unaufhörlich über den weiten Raum hinaus, den er während der nur kurzen, ruhigen Augenblicke mit seinem Fernrohr unablässig überblickte. Er schien diese stummen Fluthen zu befragen, und hätte den Nebel, welcher den Horizont verschleierte, die sich thürmenden Wolkenschichten gern mit einem[532] Ruck zerrissen. Er konnte die Hoffnung nicht aufgeben, und in seinen Gesichtszügen lag der Ausdruck eines herben Schmerzes.

Es war ein energischer Mann, bis jetzt glücklich und vielvermögend, den auf einmal Kraft und Glück verließen.

John Mangles verließ ihn nicht, sondern ertrug an seiner Seite alles Ungemach des stürmischen Wetters. An diesem Tage erforschte Glenarvan überall, wo eine Oeffnung im Nebel sich zeigte, den Horizont mit ganz besonderer Ausdauer und Hartnäckigkeit.

John näherte sich ihm mit der Frage: »Suchen Ew. Herrlichkeit das Land?« Glenarvan machte mit dem Haupte ein verneinendes Zeichen. – »Und doch, fuhr der junge Kapitän fort, müssen Sie Sehnsucht danach haben, diese Brigg zu verlassen. Seit sechsunddreißig Stunden schon sollten wir die Feuer von Auckland in Sicht haben.«

Glenarvan antwortete nicht. Noch immer blickte er hin, und eine Minute lang blieb sein Fernrohr unverwandt am Horizont nach der Windseite des Schiffes zu haften. »Nicht dort ist das Land, sagte John Mangles. Möchte Ew. Herrlichkeit vielmehr nach dem Steuerbord hinauslugen.«

– »Warum, John? antwortete Glenarvan. Ich suche nicht das Land!

– Was denn, Mylord?

– Meine Yacht, meinen Duncan! erwiderte zornig Glenarvan. Dort muß er sein, in jener Gegend, dort muß er das Meer durchfurchen, dort das traurige Handwerk des Piraten treiben. Ja, dort ist er, sage ich Dir, John, dort auf jener Schiffsroute zwischen Australien und Neu-Seeland. Und ich habe eine Ahnung, daß wir ihm begegnen werden!

– Gott bewahre uns vor solcher Begegnung, Mylord!

– Warum, John?

– Ew. Herrlichkeit vergessen unsere Lage! Was sollten wir auf dieser Brigg anfangen, wenn der Duncan auf sie Jagd machte. Wir könnten nicht einmal fliehen.

– Fliehen, John?

– Ja, Mylord! Wir würden es vergeblich versuchen. Wir würden seine Beute werden, würden der Gnade dieser Elenden überliefert sein, und Ben Joyce hat bewiesen, daß er vor einem Verbrechen nicht zurückschreckt. Unser Leben ist um einen billigen Preis zu haben, wir könnten uns eben nur bis[533] zum Tode vertheidigen. Und was dann? Denken Sie, Mylord, an Lady Glenarvan, denken Sie an Mary Grant.

– Arme Frauen! murmelte Glenarvan. John, mein Herz ist gebrochen, und zuweilen fühle ich, wie die Verzweiflung es erfaßt. Es scheint mir dann, daß neue Katastrophen uns erwarten, daß der Himmel sich gegen uns erklärt hat. – Ich habe Furcht.

– Sie, Mylord?

– Nicht für mich, John, sondern für Diejenigen, welche ich liebe, für Die, welche auch Du liebst!

– Beruhigen Sie sich, Mylord, antwortete der junge Kapitän. Wir haben nichts zu fürchten, der Macquarie läuft schlecht, aber er läuft. Will Halley ist ein roher Mensch, aber ich bin da, und wenn die Nähe des Landes mir gefährlich erscheint, werde ich das Schiff auf die hohe See hinauslenken. Von dieser Seite also droht uns wenig oder gar keine Gefahr. Aber Gott mag uns davor bewahren, Bord an Bord mit dem Duncan zu liegen, und wenn Ew. Herrlichkeit ihn aufzufinden bemüht ist, so mag es nur geschehen, um ihn zu vermeiden, ihn zu fliehen.«

John Mangles hatte Recht. Das Zusammentreffen mit dem Duncan wäre für den Macquarie verhängnißvoll gewesen; und besonders in diesem abgelegenen, öden Wasser, das die Piraten ohne jede Gefahr durch suchen konnten.

An jenem Tage jedoch erschien die Yacht nicht, und so nahte die sechste Nacht seit der Abfahrt aus der Twofold-Bai heran, ohne daß die Furcht John Mangles' sich bestätigt hätte.

Und doch sollte diese Nacht furchtbar werden. Plötzlich fast trat die Dunkelheit um sieben Uhr Abends ein, der Himmel sah drohend aus. Der Instinct des Seemannes, der doch die Oberhand über die thierische Stumpfheit des Trunkenen gewann, wurde bei Will Halley wach. Er verließ seine Cabine, rieb sich die Augen, und schüttelte seinen großen, rothen Kopf. Dann that er einen mächtigen Athemzug, um Luft einzuschlürfen, wie ein Anderer etwa ein großes Glas Wasser hinunterstürzt, um sich zu erfrischen, und prüfte das Mastwerk.

Der Wind wurde frischer, sprang in einer Viertel-Wendung nach Westen um und blies nun voll nach der seeländischen Küste hin.

Will Halley rief seine Leute unter lauten Flüchen, ließ Topp- und Bramsegel[534] einziehen und das Takelwerk für die Nacht ordnen. John Mangles billigte es, ohne ein Wort zu sagen. Er hatte darauf verzichtet, sich mit dem großsprecherischen Seemann in ein Gespräch einzulassen. Aber weder Glenarvan noch er verließen das Deck. Zwei Stunden später trat eine starke Brise ein. Will Halley ließ das Marssegel einreffen. Das Manoeuvre wäre für fünf Männer schwer gewesen, wenn der Macquarie nicht eine doppelte Segelstange nach amerikanischem System gehabt hätte. In der That genügte es, die obere Raae einzuziehen, um das Marssegel fast ganz zu reffen.

Zwei Stunden verflossen. Das Meer stieg. Der Macquarie fühlte in seinem Unterbau Stöße, welche glauben ließen, daß sein Kiel über Felsen schleifte. Das war zwar nicht der Fall, aber dieser massige Rumpf hob sich nur schwer mit der Welle, und die rückschlagenden Wogen spülten beträchtliche Wassermassen hinein. Das Boot, welches in den Tauen am Backbord hing, verschwand in einer mächtigen Woge.

John Mangles ließ sich nicht beunruhigen. Jedes andere Schiff würde diese übrigens wenig gefährlichen Sturzwellen leicht überwältigt haben. Aber mit diesem schweren Fahrzeuge mußte man fürchten, geradezu unterzugehen, denn das Verdeck wurde bei jeder kommenden Welle überfluthet, und diese ab- und zuströmende Wassermenge konnte, da sie durch Abzugsrinnen nicht schnell genug Abfluß fand, das Schiff in die Tiefe versenken. Es wäre klug gewesen, um diesem Unfall vorzubeugen, das Schanzwerk mit Beilhieben zu zertrümmern, und so das Abfließen des Wassers zu erleichtern. Aber Will Halley weigerte sich, diese Vorsichtsmaßregel zu ergreifen.

Es drohte dem Macquarie überdies eine größere Gefahr, und ohne Zweifel war keine Zeit mehr, sie zu verhindern.

Gegen halb zwölf Uhr vernahmen John Mangles und Wilson, welche Wache hielten, plötzlich ein ungewöhnliches Geräusch. Ihr seemännischer Instinct erwachte. John erfaßte die Hand des Matrosen.

»Die Brandung! rief er ihm zu.

– Ja, erwiderte Wilson. Die Wellen brechen sich am Ufer.

– Auf zwei Kabellängen höchstens?

– Höchstens. Das Land ist da!«

John beugte sich über die Verschanzung, betrachtete die düstern Wogen und rief:

»Das Senkblei! Wilson! Das Senkblei!«[535]

Der Kapitän, der sich am Bugspriet befand, schien seine Lage gar nicht zu ahnen. Wilson erfaßte die Leine des Bleies und schwang sich schnell in die Rüsten des Fockmastes. Von da warf er das Loth aus, die Leine lief durch seine Finger. Bei dem neunten Knoten stand das Blei still.

»Drei Lachter! rief Wilson.

– Kapitän, schrie John, indem er zu Will Halley lief, wir sind auf den Klippen.«

Sah er nun Halley die Schultern zucken oder nicht, genug er stürzte nach dem Steuerruder und drückte den Helmstock nieder, während Wilson das Blei los ließ, um die Brassen des großen Marssegels aufzuziehen und so das Schiff vor den Wind zu drehen. Der Matrose, welcher steuerte, wurde gewaltig zurückgestoßen, ohne sich diesen plötzlichen Angriff erklären zu können.

»Vor den Wind! Vieren, Vieren!« rief der junge Kapitän, während er sich anstrengte, das Schiff von den Rissen loszumachen.

Während einer halben Minute verlängerte sich die Windvierung des Steuerbords, und trotz der Dunkelheit der Nacht bemerkte John eine tosende Wogenlinie, welche, zwei Lachter vom Schiffe entfernt, sich in weißem Streife dahinzog.

In diesem Augenblicke wurde Will Halley die ganze drohende Gefahr klar, er verlor den Kopf. Seine unzusammenhängenden Worte, seine sich widersprechenden Befehle zeugten überdies, daß das kalte Blut diesem stupiden Trunkenbold fehlte. Er war erstaunt über die Nähe des Landes, welches nun auf einmal nur acht Meilen unter dem Winde entfernt war, während er es in einer Entfernung von dreißig bis vierzig vermuthete. Die Strömungen hatten diesen erbärmlichen Menschen, der eben nur Routinier war, ganz aus seiner gewöhnlichen Bahn herausgerissen und unversehens erfaßt.

Indeß das schnelle Manoeuvre John Mangles' hatte soeben den Macquarie von den Klippen entfernt.


Der Fockmast bricht. (S. 538.)
Der Fockmast bricht. (S. 538.)

Aber John kannte gleichwohl seine Position nicht, vielleicht war er in einen förmlichen Riffgürtel hineingedrängt. Der Wind blies voll aus Westen, und bei jeder schwankenden Bewegung konnte man aufrennen. Und in der That, das Getöse der Brandung verdoppelte sich vom Steuerbord aus nach der Spitze zu. Man mußte noch mehr vor den Wind drehen. John ließ die Raaen nach und braßte möglichst scharf.

Die Klippen mehrten sich unter dem Vordersteven der Brigg, und es[536] wurde nöthig, noch mehr vor den Wind zu wenden, um die offene See zu gewinnen. Würde dieses Manoeuvre mit einem Schiff von so schlechtem Gleichgewicht, unter einer theilweise zerrissenen Takelage auch glücken? Das war ungewiß, doch man mußte es versuchen.

»Den Helmstock herunter, ganz!« schrie John Mangles Wilson zu.

Der Macquarie begann sich der neuen Klippenreihe zu nähern. Und bald schäumte das Meer auf, so oft sich seine Wogen an den Felsen brachen.

Das war ein unbeschreiblicher Augenblick der Angst. Der Schaum ließ[537] die Wellen leuchtend erscheinen. Man hätte sagen können, daß ein phosphorescirendes Phänomen sie plötzlich erhellte.

Das Meer grollte und tobte, als ob es die Stimme jener alten Klippen besäße, welche durch die heidnische Mythologie als lebende Wesen dargestellt sind. Wilson und Mulrady, gebeugt unter dem Rade des Steuerruders, drückten mit dem ganzen Gewicht ihres Körpers darauf. Der Helmstock schleifte dahin.

Plötzlich, ein dröhnender Stoß – der Macquarie saß auf einem Felsen fest. Die Spließgangen des Bugspriets brachen und machten so die Haltbarkeit des Fockmastes zweifelhaft. Konnte man die Vierung ohne weiteren Schaden vollenden?

Nein, denn eine kurze Windstille trat plötzlich ein, das Schiff folgte dem Winde. Seine Bewegung hörte auf einmal auf, eine mächtige Woge erfaßte es von unten, trug es vorwärts auf die Risse und dort warf sie es von sich ab mit einer furchtbaren Gewalt.

Der Fockmast mit seinem Takelwerk brach herunter. Die Brigg stieß zweimal mit ihrem Kiele auf und blieb dann unbeweglich und auf der Steuerbordseite um dreißig Grade geneigt, festsitzen.

Die Fenster der Treppenkappe waren in Scherben zertrümmert. Die Passagiere stürzten auf Deck, aber die Wellen fegten gleichsam das Verdeck von einem Ende zum anderen, und deshalb konnten sie sich dort ohne Gefahr nicht aufhalten. John Mangles, welcher wußte, daß das Schiff vollständig im Sande festsaß, bat sie, in ihre Koje zurückzukehren.

»Die Wahrheit, John? fragte kalt Glenarvan.

– Die Wahrheit, Mylord, antwortete John Mangles, ist, daß wir nicht sinken werden. Ob wir zertrümmert werden, das ist freilich eine andere Frage, aber wir haben Zeit, Rath zu schaffen.

– Es ist Mitternacht?

– Ja, Mylord, man muß eben warten, bis es Tag wird.

– Kann man das Boot nicht in See lassen?

– Bei dieser hohlen See und in dieser Finsterniß ist es unmöglich. Und überdies, an welcher Stelle sollten wir anlegen?

– Nun gut, John, bleiben wir hier bis zum Tagesanbruch.«

Doch Will Halley lief wie ein Narr umher auf dem Decke seines Schiffes. Seine Matrosen, welche von ihrem starren Schrecken sich wieder erholt hatten,[538] schlugen einem Faß Branntwein den Boden aus und begannen zu trinken. John sah voraus, daß ihre Trunkenheit bald schreckliche Scenen herbeiführen würde.

Man konnte nicht auf den Kapitän rechnen, um sie im Zaume zu halten.

Dieser Elende raufte sich die Haare aus und rang die Hände. Er dachte nur an seine Ladung, welche nicht versichert war.

»Ich bin ruinirt, verloren!« schrie er laut, während er von einer Seite des Schiffes nach der anderen lief.

John Mangles beruhigte sich keineswegs. Er ließ seine Gefährten sich bewaffnen und bereit halten, die Matrosen, welche von dem Branntwein schon voll waren, und deshalb schreckliche Lästerungen ausstießen, energisch zurückzuweisen.

»Den Ersten dieser Elenden, welcher sich der Koje naht, sagte ruhig der Major, tödte ich wie einen Hund.«

Die Matrosen sahen ohne Zweifel, daß die Passagiere entschlossen waren, sich Achtung zu verschaffen, denn nach einigen Versuchen, sie zu plündern, verschwanden sie.

John Mangles beschäftigte sich nicht weiter mit diesen Trunkenbolden, sondern erwartete ruhig den Tag.

Das Schiff lag vollständig unbeweglich. Das Meer beruhigte sich ein wenig, der Wind ließ nach, das wrackartige Schiff konnte also während einiger Stunden noch Widerstand leisten. Bei Tagesanbruch sollte John die Küste untersuchen. Wenn sie eine zugängliche Landungsstelle bot, sollte die Jolle, jetzt nur noch das einzige Boot an Bord, zum Transport der Passagiere und Mannschaft dienen. Man berechnete, daß man wenigstens drei Fahrten machen müsse, denn es war darin nur für vier Personen Platz. Das große Boot war ja durch eine Sturzwelle bereits weggeschwemmt worden.

Während John Mangles die Gefahr der ganzen Situation reiflich erwog, hörte er, gestützt auf die Treppenkappe, das Brausen der Brandung. Er suchte mit seinen Blicken die tiefe Finsterniß zu durchdringen, und fragte sich, in welcher Entfernung sich wohl dieses so ersehnte und doch gefürchtete Land befinden möchte. Die Klippen erstrecken sich oft einige Meilen von der Küste in's Meer hinaus. Würde das zerbrechliche kleine Boot im Stande sein, eine längere Hin- und Rückfahrt auszuhalten?

Während John so überlegte, und den nächtlichen Himmel um Rath[539] anflehte, ruhten die Passagiere, seinen Worten vertrauend, in ihren Hängematten. Die Unbeweglichkeit der Brigg sicherte ihnen einige Stunden Ruhe. Glenarvan, John und ihre Kameraden stärkten sich, als sie das Schreien und Lärmen der trunkenen Mannschaft nicht mehr hörten, durch einen kurzen Schlaf, so daß um ein Uhr ein tiefes Schweigen an Bord des Schiffes herrschte, das in seinem sandigen Bette gleichsam selbst schlummerte.

Gegen vier Uhr begann es im Osten zu dämmern, die Wolken färbten sich leicht in dem blassen Lichte der Morgenröthe. John stieg wiederum auf das Verdeck. Der Horizont war durch einen Nebelschleier verdeckt. Unbestimmte Contouren schwankten hin und her in den Morgendünsten, doch in einer ziemlichen Höhe. Das Meer ging nicht mehr so hohl, die Wogen der hohen See verloren sich mitten in unbeweglichen dicken Wolken. John wartete. Das Licht nahm allmälig zu, der Horizont färbte sich leicht mit röthlichem Scheine. Der Nebelschleier zog langsam hin über das weite Panorama im Hintergrunde. Schwarze Klippen ragten mit ihren Spitzen über die Oberfläche des Meeres hervor. In ihrer Nähe zeichnete sich als Schaumstreifen eine Linie ab, ein einzelner Punkt leuchtete hell hervor, wie ein Leuchtthurm auf einer Bergspitze, auf welche die ersten Strahlen der emporsteigenden Sonne fallen. Dort war das Land, wenigstens neun Meilen entfernt.

»Land!« rief John Mangles.

Seine Gefährten, geweckt durch seine Stimme, stürzten eilig auf das Deck und betrachteten schweigend die Küste, welche sich dunkel am Horizont abzeichnete. Gastlich oder verhängnißvoll, sie sollte ihnen ein Zufluchtsort sein.

»Wo ist Will Halley? fragte Glenarvan.

Ich weiß es nicht, Mylord, antwortete John Mangles.

Und seine Matrosen?

Verschwunden wie er.

Wie er ohne Zweifel voll und trunken, fügte Mac Nabbs hinzu.

Man gehe sie suchen, sagte Glenarvan, man kann sie auf diesem Schiffe nicht zurücklassen.«

Mulrady und Wilson stiegen in die Kajüte des Vorderdecks hinab und kamen zwei Minuten später wieder. Sie war leer. Darauf durchsuchten sie das Zwischendeck und endlich das ganze Schiff bis auf den Kiel hinab. Aber sie fanden weder Will Halley, noch seine Matrosen.

»Wie! Niemand? rief Glenarvan.[540]

– Sind sie in's Meer gefallen? fragte Paganel.

– Alles ist möglich«, antwortete John Mangles, sehr besorgt über dieses Verschwinden.

Sie wandten sich nach dem Hintertheil.

»Zum Boot!« rief er aus.

Wilson und Mulrady folgten ihm, um die Jolle in See zu bringen. Sie war verschwunden.

Quelle:
Jules Verne: Die Kinder des Kapitän Grant. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XI–XIII, Wien, Pest, Leipzig 1876, S. 531-541.
Lizenz:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gustav Adolfs Page

Gustav Adolfs Page

Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.

42 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon