Elftes Capitel.
Sturm.

[111] Während der auf dieses Ereigniß folgenden Woche vom 14. bis 21. Februar trug sich an Bord kein weiterer Zwischenfall zu. Der Nordwestwind frischte noch etwas mehr auf und der »Pilgrim« segelte ziemlich schnell – etwa 160 Meilen binnen vierundzwanzig Stunden – dahin.

Dick Sand's Voraussetzung nach mußte sich die Brigg-Goëlette nun den Gegenden nähern, durch welche die von einem Erdtheile zum anderen segelnden oder dampfenden Schiffe ziehen. Der Leichtmatrose hoffte tagtäglich einem jener Fahrzeuge zu begegnen und war fest entschlossen, entweder seine Passagiere auf dasselbe überzusetzen, oder sich doch zur Aushilfe einige Matrosen und womöglich auch einen Officier zu erbitten. Leider kam trotz der schärfsten Wachsamkeit kein Segel in Sicht und das Meer blieb öde und verlassen.

Dick Sand nahm das doch ein wenig Wunder. Während seiner drei Fischerei-Campagnen in den australischen Meeren war er schon mehrmals[111] über diesen Theil des Stillen Oceans gekommen. Nur selten kam es in der Länge und Breite, in welcher er sich zu befinden wähnte, vor, daß man nicht ein englisches oder amerikanisches Schiff sah, das entweder vom Kap Horn nach dem Aequator hinauffuhr, oder nach der Endspitze Südamerikas hinabsegelte.


Er bemerkte also auch einen Schatten nicht. (S. 110.)
Er bemerkte also auch einen Schatten nicht. (S. 110.)

[112] Freilich wußte Dick Sand weder, noch konnte er es wissen, daß sich der »Pilgrim« schon in weit höherer Breite, d.h. tiefer im Süden befand, als er es annahm.

Das rührte von zweierlei Ursachen her:


Der Leichtmatrose beruhigte immer Mrs. Weldon. (S. 114)
Der Leichtmatrose beruhigte immer Mrs. Weldon. (S. 114)

Die erstere bildeten die Triften jener Meeresgegenden, deren Schnelligkeit der Leichtmatrose nur unvollkommen zu schätzen vermochte, und welche das[113] Schiff, ohne daß man darüber klar sein konnte, schon aus seinem rechten Kurse gedrängt hatten.

Die andere beruhte darin, daß die durch Negoro's Schuld entstandene Mißweisung des Compasses falsche Ablesungen zur Folge hatte, welche Dick Sand seit dem Verluste des zweiten Compasses zu controliren nicht im Stande war. Er hielt deshalb immer südöstlichen Kurs statt östlichen ein, wie er es glaubte und glauben mußte. Die Boussole behielt er immer im Auge. Das Log ward regelmäßig ausgeworfen. Seine beiden Instrumente setzten ihn bis auf eine gewisse Grenze in den Stand, den »Pilgrim« zu führen und die Anzahl der durchlaufenen Meilen abzuschätzen. Aber war das auch hinreichend?

Inzwischen beruhigte der Leichtmatrose immer bestens Mrs. Weldon, welcher diese Fahrt immerhin etwas bedenklich vorkam.

»Wir kommen an, wir kommen sicher an! wiederholte er. Hier oder da werden wir die amerikanische Küste erreichen, der Ort thut ja nicht viel zur Sache; jedenfalls können wir das Land nicht verfehlen.

– Das bezweifle ich nicht, Dick.

– Freilich würde ich noch weit ruhiger sein, Mistreß Weldon, wenn Sie nicht an Bord und wir nur für uns allein verantwortlich wären, indeß...

– Indeß, wenn ich nicht an Bord wäre, fiel Mrs. Weldon ein, wenn sich Vetter Benedict, ich selbst, Jack und Nan nicht auf dem »Pilgrim« eingeschifft hätten und zudem Tom und seine Begleiter nicht von dem Wrack aufgenommen worden wären, Dick, so befänden sich nur zwei Menschen an Bord, Du und Negoro! Was wäre, allein mit diesem übelwollenden Manne, zu dem Du kein Zutrauen haben kannst, aus Dir geworden? Ja sprich, mein Kind, was hätte aus Dir werden sollen?

– Zuerst, antwortete Dick Sand entschlossen, hätte ich Negoro wenigstens unschädlich zu machen gesucht.

– Und Du wärest allein gesegelt?

– Ja... allein... mit Gottes Hilfe!«

Solche vertrauensvolle Worte belebten zwar die Hoffnung Mrs. Weldon's, dennoch beschlich sie, wenn sie ihren kleinen Jack ansah, eine gewisse Unruhe. Wenn sie als Frau auch nicht verrieth, was sie als Mutter empfand, so gelang es ihr doch nicht immer, eine gewisse Angst niederzukämpfen, die ihr das Herz bedrückte.[114]

War aber der junge Leichtmatrose in seinen hydrographischen Studien auch noch nicht genügend vorgeschritten, um sein Besteck machen (d.i. die jeweilige genaue geographische Lage des Schiffes bestimmen) zu können, so besaß er andererseits doch eine seine Witterung für das bevorstehende Wetter. Das Aussehen des Himmels auf der einen, auf der anderen Seite die Angaben des Barometers machten es ihm möglich, immer auf der Hut zu sein. Kapitän Hull, ein erfahrener Meteorolog, hatte ihm gelehrt, mit diesem Instrumente umzugehen, dessen Vorzeichen so wunderbar verläßlich sind.

Wir geben hier mit kurzen Worten folgende zur nützlichen Beobachtung des Barometers nöthige Anleitung:

1. Wenn das Barometer nach anhaltend schönem Wetter schnell und dauernd sinkt, wird sicher Regen eintreten; war das schöne Wetter vorher von sehr langer Dauer, so kann die Quecksilbersäule des Rohres wohl zwei bis drei Tage sinken, ehe eine Veränderung im Zustande der Atmosphäre eintritt. Je mehr Zeit ferner zwischen dem ersten Fallen des Quecksilbers und dem Beginn des Regens verstreicht, desto länger wird die regnerische Witterung andauern.

2. Steigt das Quecksilber dagegen nach längerem regnerischen und stürmischen Wetter langsam und regelmäßig, so ist ganz sicher schönes Wetter zu hoffen, und dauert dieses ebenso desto länger an, je größer der Zeitraum zwischen seinem Eintritt und dem ersten Steigen des Barometers war.

3. Wenn in beiden obigen Fällen der Witterungswechsel der Bewegung der Quecksilbersäule unmittelbar folgt, so wird diese Veränderung nur kurze Zeit andauern.

4. Wenn das Barometer zwei bis drei Tage oder noch länger langsam, aber continuirlich steigt, so verkündet das schönes Wetter, selbst wenn der Regen während dieser drei Tage nicht aufhört, und vice versa, wenn das Barometer aber unter regnerischer Witterung zwei Tage oder länger stieg und mit dem Eintritte schöner Witterung gleich wieder zu fallen beginnt, so wird letztere nur sehr kurze Zeit anhalten, und vice versa.

5. Im Frühjahr und im Herbste deutet ein rasches Fallen des Barometers auf Wind; im Sommer bei großer Hitze verkündet es Gewitter. Im Winter weist eine rasche Erniedrigung der Barometersäule nach anhaltendem[115] Froste auf eine von Thauwetter und Regen begleitete Veränderung in der Windrichtung hin, ein Ansteigen während anhaltenden Frostes aber verkündigt baldigen Schneefall.

6. Schnelle Veränderungen des Barometerstandes dürfen nie als Prophezeiungen andauernd trockenen oder regnerischen Wetters aufgefaßt werden. Zu derartigen Vorausbestimmungen eignen sich nur die langsamen, aber stetigen Veränderungen des Quecksilberstandes.

7. Wenn im Spätherbst nach längerem nassen und stürmischen Wetter das Barometer zu steigen beginnt, so verkündet das einen Umschlag des Windes nach Norden und die Annäherung des Frostes.

Das sind etwa die allgemeinen Folgerungen, welche man aus den Angaben dieses schätzenswerthen Instrumentes zu ziehen berechtigt ist.

Dick Sand kannte diese sehr gut, hatte deren Bestätigung während seines Seemannslebens oft genug erfahren und dadurch auch gelernt, gegen jede Eventualität gerüstet zu sein.

Da, am 20. Februar, begannen die Schwankungen des Barometers, welches er täglich mehrmals sorgfältig beobachtete, den jungen Leichtmatrosen einigermaßen zu beunruhigen. Das Quecksilber sank nämlich langsam, aber anhaltend, was auf bevorstehenden Regen hinwies, dessen Eintritt sich jedoch auffallend verzögerte. Dick Sand schloß daraus auf anhaltend schlechtes Wetter. Seine Voraussetzung sollte sich auch bestätigen.

Der Regen war aber gleichbedeutend mit Wind, und an genanntem Tage frischte die Brise in der That so weit auf, daß die Luft mit einer Geschwindigkeit von sechzig Fuß in der Secunde oder einunddreißig Meilen (= 571/2 Kilometer) in der Stunde dahinjagte.

Dick Sand mußte einige Vorsichtsmaßregeln ergreifen, um die Bemastung und das Segelwerk des »Pilgrim« keiner Gefahr auszusetzen.

Er hatte schon das Topsegel, das lateinische und das Klüverfocksegel einbinden lassen und gedachte das nun auch noch mit dem Bramsegel vornehmen und das Marssegel zweimal reesen zu lassen.

Letztere Operation mußte bei einer so wenig geübten Mannschaft gewisse Schwierigkeiten darbieten; dennoch durfte hier nicht gezögert werden und Niemand scheute vor der Arbeit zurück.

Dick Sand stieg mit Bat und Austin in die Takelage des Fockmastes, wo es ihm denn auch gelang, das Bramsegel einzubinden. Bei minder[116] drohendem Wetter hätte er die beiden Raaen wohl am Maste gelassen; da er aber voraussah, daß es nöthig werden könnte, die Bramstange selbst ganz einzunehmen, so löste er die beiden Raaen und ließ sie auf das Verdeck nieder. Es leuchtet wohl ein, daß man bei allzu heftigem Winde nicht nur die Besegelung, sondern auch die Bemastung eines Schiffes zu mindern gezwungen ist. Dadurch wird das Schiff deshalb wesentlich erleichtert, weil es in Folge der geringeren Belastung in der Höhe weniger arbeitet und das Stampfen und Rollen desselben mehr beschränkt bleibt.

Nach Vollendung dieser Arbeit, welche übrigens zwei volle Stunden in Anspruch nahm, ging Dick Sand mit seinen Helfern daran, das große Marssegel zweimal zu reesen und dadurch seine Oberfläche zu verkleinern.

Der »Pilgrim« führte noch kein doppeltes Marssegel wie die neueren Schiffe, deren Handhabung dadurch erleichtert wird. Man mußte also in der früher gebräuchlichen Art und Weise zu Werke gehen, auf den Laufseilen Stellung nehmen, ein vom Winde gepeitschtes Segel zu sich heranziehen und dasselbe mittelst der Seisinge an die Raa festlegen. Das war schwierig, gefährlich und nahm viel Zeit in Anspruch: zuletzt bot das Marssegel doch dem Winde weniger Fläche und die Brigg-Goëlette war damit sehr wesentlich erleichtert.

Dick Sand kletterte mit Tom und Austin wieder herab. Der »Pilgrim« befand sich nun in derjenigen Auftakelung, welche jener Zustand der Atmosphäre erfordert, den man eine »frische Kühlte« zu nennen pflegt.

Während der drei folgenden Tage, am 20., 21. und 22. Februar, veränderten sich die Richtung und Stärke des Windes nicht besonders. Noch immer fiel das Quecksilber im Barometerrohre, und der Leichtmatrose notirte am letzten Tage, daß sich dasselbe stets unter sechsundzwanzig sieben Zehntel Zoll hielt.1

Für ein baldiges Steigen des Barometers war übrigens keinerlei Anzeichen vorhanden. Der Himmel hatte ein sehr schlechtes stürmisches Aussehen. Dazu bedeckten ihn stets dichte Dunstmassen in so dicker Schicht, daß man kaum die Sonne wahrnehmen und den Ort ihres Aufganges oder Unterganges bestimmen konnte.[117]

Dick Sand ward unruhig. Er verließ das Verdeck nicht mehr; kaum schlief er noch. Dennoch gelang es seiner moralischen Energie, seine eigene Angst vor den Anderen tief im Herzen zu verbergen.

Am nächsten Tage, dem 23. Februar, schien die Brise sich am Morgen etwas abzuschwächen, worauf Dick Sand jedoch keinen besonderen Werth legte. Er hatte damit auch völlig Recht, denn des Nachmittags schon frischte der Wind wieder auf und wurde der Seegang schwerer.

Gegen vier Uhr verließ Negoro, den man sonst nur selten sah, den Wohnraum der Mannschaften und begab sich nach dem Vorderdeck. Ohne Zweifel schlief Dingo in irgend welcher Ecke, da er nicht wie gewöhnlich bellte.

Schweigend blieb Negoro dort eine halbe Stunde stehen und beobachtete den Horizont.

Lange Wogen wälzten sich hintereinander her, ohne sich gegenseitig zu brechen. Jedenfalls erschienen sie höher, als die Gewalt des hier wehenden Windes sie aufthürmen konnte. Man mußte daraus den Schluß ziehen, daß sehr schweres Wetter draußen im Westen, vielleicht in nicht allzu großer Entfernung, herrschte und es auch sie bald einholen werde.

Negoro betrachtete das weit ausgedehnte, rings um den »Pilgrim« schon tief aufgeregte Meer. Dann richteten sich seine kalten starren Augen nach dem Himmel.

Der Anblick des letzteren war in hohem Grade beunruhigend. Mit sehr verschiedener Schnelligkeit flogen die Dunstmassen an demselben hin. Die Wolken der höheren Schichten zogen offenbar noch schneller, als die in den tieferen Zonen der Atmosphäre. Man mußte sich also der Möglichkeit versehen, daß diese schweren Nebelmassen herabsinken und die jetzt herrschende frische Kühlte in einen Sturm, vielleicht in einen Orkan verwandeln könnten, bei dem die Luftmoleküle mit der rasenden Schnelligkeit von dreiundvierzig Meilen in der Stunde dahineilen.

Mochte Negoro nun entweder zum Erschrecken der Mann nicht sein, oder mangelte ihm das Verständniß für die drohenden Vorzeichen des Unwetters, jedenfalls erschien er keineswegs beunruhigt. Nur ein boshaftes Lächeln spielte um seine Lippen. Alles in Allem hätte man behaupten mögen, dieser Zustand der Dinge sei weit mehr geschaffen, ihm zu gefallen, als ihm zu mißfallen. Kurze Zeit kletterte er sogar auf dem Bugspriet ein Stück[118] hinaus, um seinen Gesichtskreis zu erweitern, so als suche er irgend ein Merkzeichen am Horizonte. Dann glitt er wieder rückwärts nach dem Deck und ging, ohne ein Wort gesprochen oder nur eine Handbewegung gemacht zu haben, nach dem Mannschafts-Wohnraume zurück.

Neben allen diesen furchtbar drohenden Verhältnissen waltete aber doch ein glücklicher Umstand, der Niemandem an Bord entgehen konnte, der eine nämlich, daß der Wind, so heftig er auch war oder noch werden konnte, sich in günstiger Richtung hielt, und der »Pilgrim« mit seiner Hilfe die Küste Amerikas nur um so eher erreichen zu sollen schien. Schlug das jetzige Wetter nicht zu schwerem Sturme um, so versprach diese Seereise ohne alle weiteren Gefahren abzulaufen, von welchen eigentlich erst dann wieder die Rede sein konnte, wenn es sich einmal darum handelte an einem unsicheren Küstenpunkte zu landen.

Dick Sand ließ sich das zuweilen schon durch den Kopf gehen. Wenn er nun wirklich in Sicht des Landes kam, was sollte er beginnen, wenn er dann nicht einen Lootsen oder doch einen mit der Formation der Küste bekannten Schiffer traf? Wenn ihn die schlechte Witterung etwa zwang, in einem Nothhafen Zuflucht zu suchen, was sollte er thun, da ihm der betreffende Küstenstrich jedenfalls gänzlich unbekannt war? Jetzt brauchte er sich noch nicht mit dieser Eventualität zu beschäftigen. Kam die Gelegenheit, dann war es Zeit zu einem männlichen Entschlusse. – Nun, Dick Sand würde schon einen solchen zu fassen wissen.

Während der dreizehn Tage vom 24. Februar bis zum 9. März trat in dem Zustand der Atmosphäre keine nennenswerthe Veränderung ein. Der Himmel blieb fortwährend mit dichten Dunstmassen bedeckt. Einige Stunden lang schwächte sich der Wind wiederholt ein wenig ab, gewann aber stets sehr bald seine ursprüngliche Stärke wieder. Zwei- oder dreimal stieg auch das Barometer, doch vollzog sich seine, nahezu einen Zoll betragende Oscillation zu schnell, um deshalb auf einen Umschlag der Witterung rechnen zu können oder darauf hin segelgünstigere Winde zu erwarten.


Schweigend blieb Negoro eine halbe Stunde stehen. (S. 118.)
Schweigend blieb Negoro eine halbe Stunde stehen. (S. 118.)

Dazu fiel die Barometersäule auch stets fast sofort wieder herab und nichts ließ das Ende dieser schlechten Witterung als nahe bevorstehend voraussehen.


Eben traf ein entsetzlicher Windstoß das Schiff. (S. 125.)
Eben traf ein entsetzlicher Windstoß das Schiff. (S. 125.)

Gleichzeitig brachen wiederholt schwere Gewitter los, welche Dick Sand ernsthafte Unruhe einflößten. Zwei- oder dreimal schlug ein Blitzstrahl auf die Wogen, nur einige Kabellängen vom Schiffe entfernt, nieder. Dann floß[119] der Regen in Strömen und es entstanden jene Wirbel aus halbcondensirten Dünsten, die den »Pilgrim« in dichten Nebel hüllten.

Der Mann auf Wache hatte manchmal ganze Stunden lang nicht die geringste freie Aussicht und man segelte nur auf gut Glück dahin.

Obwohl das Fahrzeug, wenn es auch tief im Wasser ging, wirklich furchtbar hin und her geworfen ward, so ertrug Mrs. Weldon doch dieses Rollen und Stampfen glücklicher Weise ohne größere Belästigung. Ihr kleiner[120] Sohn hatte dadurch freilich sehr hart zu leiden und bedurfte immer ihrer sorgsamsten, mütterlichen Pflege.

Was Vetter Benedict betrifft, so war dieser nicht kränker als die amerikanischen Motten, denen er Gesellschaft leistete, und die er eben so ruhig studirte, als hätte er dabei in seinem stillen Stübchen in San Francisco gesessen.

Zum größten Glück erwiesen sich auch Tom und seine Gefährten sehr unempfänglich für die Seekrankheit und vermochten dem jungen Leichtmatrosen[121] stets Hilfe zu leisten, welch' Letzterer übrigens vollkommen an die regellosen Bewegungen eines vor dem Sturme fliehenden Schiffes gewöhnt war.

Der »Pilgrim« lief trotz seiner wenigen Segel sehr schnell und doch sah Dick Sand schon voraus, daß man auch diese noch werde vermindern müssen. Doch er wollte nichts ändern, so lange das ohne Gefahr anging. Seiner Schätzung nach konnte die Küste nicht mehr fern sein. Der Wachdienst wurde also mit größter Sorgfalt geübt. Der Leichtmatrose konnte sich außerdem nicht auf die Augen seiner Gefährten verlassen, wo es sich um die Erkennung der ersten Anzeichen des Landes handelte. Denn trotz des schärfsten Gesichtssinnes ist Derjenige, welcher nicht gewöhnt ist, den Meereshorizont zu beobachten, gänzlich außer Stande, vorzüglich bei nebliger Luft, die ersten schwachen Umrisse eines Landes zu erkennen. Dick Sand mußte also meist selbst den Wachdienst übernehmen und stieg sogar häufig in die Takelage, um besser Ausschau halten zu können. Noch verrieth sich jedoch keine Spur der amerikanischen Küste.

Das erregte seine Verwunderung, welche auch Mrs. Weldon aus einigen Worten, die ihm entschlüpften, bald errieth.

Es war am 9. März Der Leichtmatrose befand sich auf dem Vorderdeck, sandte bald einen prüfenden Blick über das Meer und den Himmel, bald nach der Bemastung des »Pilgrim«, welche unter dem Drucke des Windes arbeitete.

»Du siehst noch nichts, Dick? fragte sie, als jener einmal das Fernrohr von den Augen nahm.

– Nichts, Mistreß Weldon, nichts, antwortete der Leichtmatrose, und doch scheint sich der Horizont bei dem heftigen, offenbar noch weiter zunehmenden Winde etwas aufzuhellen.

– Und Deiner Ansicht nach, Dick, könnte die amerikanische Küste jetzt nicht mehr fern sein?

– Das ist unmöglich, Mistreß Weldon, und wenn mich etwas Wunder nimmt, so ist es nur das, daß sie noch außer Sicht ist.

– Das Schiff, fuhr Mrs. Weldon fort, hat doch stets gute Fahrt gemacht?

– Stets, seit der Wind nach Nordwesten räumte, antwortete Dick Sand, d.h. seit dem Tage, da wir unseren unglücklichen Kapitän und seine Mannschaft verloren. Das war am 10. Februar. Heut' ist der 9. März, das ergiebt siebenundzwanzig Tage.[122]

– In welcher Entfernung von der Küste befanden wir uns aber damals? fragte die Dame.

– Etwa viertausendfünfhundert Meilen, Mistreß Weldon. Wenn ich auch über manches Andere in Zweifel sein kann, so stehe ich doch für diese Zahl bis auf zwanzig Meilen ab und zu ein.

– Und wie groß war die Schnelligkeit des Schiffes?

– Seit der Wind auffrischte, im Mittel hundertachtzig Meilen, erwiderte der Leichtmatrose. Ich selbst bin zwar erstaunt, noch nicht in Sicht des Landes zu sein, doch noch auffälliger erscheint es, daß wir noch keinem einzigen Schiffe begegneten, welche diese Gegenden doch so häufig besuchen.

– Solltest Du Dich bei der Abschätzung der Schnelligkeit nicht getäuscht haben, Dick?

– Nein, Mistreß Weldon, hierbei gewiß nicht. Jede halbe Stunde wurde das Log ausgeworfen, dessen Angaben ich sorgfältig notirte. Erlauben Sie, ich werde es sogleich auswerfen lassen, und Sie sollen sich überzeugen, daß wir jetzt mit der Schnelligkeit von zehn Meilen in der Stunde segeln, was für den Tag gar mehr als zweihundert Meilen ergäbe.«

Dick Sand rief Tom herbei und befahl ihm, das Log auszuwerfen – eine Arbeit, welche dem alten Neger jetzt vollkommen geläufig war.

Das mit dem Ende der Leine sorgfältig verknüpfte Instrument ward herbeigebracht und hinabgelassen.

Fünfundzwanzig Faden waren schon abgelaufen, als die Leine in Tom's Hand plötzlich erschlaffte.

»O, Herr Dick! rief er.

– Was giebt's, Tom?

– Die Leine ist gerissen!

– Gerissen! wiederholte Dick Sand, und das Log ist verloren!«

Der alte Tom zeigte das Ende der Leine, welches er in der Hand hielt.

Es war leider nur zu wahr. Der Knoten hatte sich nicht gelöst. Die Leine war in der Mitte zerrissen und doch bestand diese aus dem feinsten, besten Hause. Die Trossen mußten also an der Bruchstelle sehr abgenutzt sein. So war es in der That, wie Dick Sand sich überzeugen konnte, als er das Ende der Leine in der Hand hatte. Ob sie freilich durch den häufigen Gebrauch in diesen Zustand gekommen wären, das fragte sich der Leichtmatrose doch mit einigem Mißtrauen.[123]

Auf jeden Fall blieb das Log jetzt verloren und Dick Sand besaß kein weiteres Mittel, die Fahrgeschwindigkeit des Schiffes mit einiger Genauigkeit zu messen. Sein ganzer Besitz an nautischen Instrumenten beschränkte sich auf einen einzigen Compaß, und er wußte nicht einmal, daß dessen Angaben falsch waren!

Mrs. Weldon sah, wie betroffen er über diesen Unfall war, und zog sich, um ihn nicht noch mehr zu bedrängen, schweren Herzens in ihre Cabine zurück.

Konnte aber die Geschwindigkeit des »Pilgrim«, und folglich auch der von ihm zurückgelegte Weg nicht mehr gemessen werden, so ließen sie sich doch leicht aus dem immer unverkürzten Kielwasserstreifen des Schiffes abschätzen.

Am nächsten Tage, dem 10. März, fiel das Barometer gar auf sechsundzwanzig zwei Zehntel Zoll (= 716 Mm.). Das war das Vorzeichen eines jener furchtbaren Windstöße, welche bis sechzig Meilen in der Stunde durcheilen.

Jetzt ward es dringend nöthig, noch einmal die Besegelung zu vermindern, um die Sicherheit des Schiffes nicht zu gefährden.

Dick Sand beschloß auch die Bramstange und die Gaffel einzunehmen und nur mit dem kleinsten Focksegel und dem dreimal gereesten Marssegel zu fahren.

Er rief Tom und seine Genossen, ihm bei dieser schwierigen Arbeit behilflich zu sein.

Die Zeit drängte, denn schon entfesselte sich der Sturm mit ungeheurer Gewalt.

Dick Sand, Austin, Acteon und Bat stiegen in die Takelage, während Tom am Steuer und Herkules auf dem Deck zurückblieb, um die Hißtaue zu lösen, wenn der Befehl dazu erging.

Nach vieler Anstrengung waren Gaffel und Bramstange herabgelassen, wobei die wackeren Leute wohl hundertmal Gefahr liefen, bei dem heftigen Rollen des Schiffes aus der Takelage in's Meer gestürzt zu werden. Nachdem jene Rundhölzer herabgeschafft und der Fockmast gut befestigt war, trug die Brigg-Goëlette nur noch das kleinste Focksegel und das dreimal gereeste Marssegel.[124]

Trotz dieser außerordentlichen Verminderung der Segelfläche schoß der »Pilgrim« doch noch immer mit rasender Schnelligkeit dahin.

Am 12. nahm die Witterung ein noch gefährlicheres Aussehen an. Am Morgen dieses Tages bemerkte Dick Sand mit Schrecken, daß das Barometer bis auf fünfundzwanzig neun Zehntel Zoll (= 709 Mm.) gefallen war.

Hiermit kündigte sich aber ein so gewaltiger Sturm an, daß der »Pilgrim« auch die noch übrige Leinwand unmöglich tragen konnte.

Da Dick Sand einsah, daß sein Marssegel durch den Druck des Windes zerreißen mußte, gab er Befehl, dasselbe schleunigst einzuziehen.

Vergeblich. Eben traf ein entsetzlicher Windstoß das Schiff und sprengte das auf's höchste gespannte Segel. Austin, der sich schon auf der kleinen Marsraa befand, erhielt von den Backbordschooten einen heftigen Schlag, konnte jedoch, trotz seiner zum Glück nur leichten Verwundung, das Deck wieder erreichen.

Dick Sand's Besorgniß stieg; er hatte nur noch den einen Gedanken, daß das mit so toller Gewalt dahingetriebene Schiff jeden Augenblick in Trümmer gehen werde, da seiner Schätzung nach die Uferklippen nicht mehr fern sein konnten. Er begab sich deshalb wiederholt nach dem Vorderdeck, konnte aber nichts entdecken, was einem Lande ähnlich gesehen hätte, und kehrte also immer wieder zu dem Steuer zurück.

Da erschien auch Negoro noch einmal auf dem Verdeck. Plötzlich streckte derselbe, scheinbar wider Willen, den Arm nach einem Punkte des Horizontes hin aus. Man konnte glauben, er erkenne ein hohes Land durch den vorliegenden Nebel...

Noch einmal – dann lachte er boshaft auf und ging, ohne sich mit einem Worte über das, was er gesehen, zu äußern, nach dem Wohnraume der Mannschaft zurück.[125]

Fußnoten

1 Die englischen und amerikanischen Barometer sind nach Zollen und Linien eingetheilt. 26#x00B7;7 Zoll entsprechen nahe 728 Mm.


Quelle:
Jules Verne: Ein Kapitän von fünfzehn Jahren. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXVII–XXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1879, S. 126.
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